KLEINE POETOLOGIE
Alle meine Gedichte
Sind Liebesgedichte.
Ich beweg mich nicht gern
Im Reich der Ideen.
Ich bin kein Kosmiker
Und auch kein Kosmetiker.
Deshalb halt ich mich gern
An das, was ich sehe.
Aber die Zeit hat mich gelehrt,
Mißtrauisch zu sein.
Gestern im Radio sprach H.
Über die Vereinbarkeit der unvereinbaren Dinge.
Und er sparte so vieles aus,
Über das längst schon geredet sein müßte.
Meine paar Freunde und ich,
Das ist meine Hoffnung,
Werden vielleicht ein paar Leerstellen füllen,
Die die Zeit hinterließ.
Einiges freilich wird sich vielleicht
Nur im Anmerkungsteil finden.
breitet Heinz Czechowski eine Palette von unterschiedlichsten Empfindungen aus: Hier findet sich Sentenzhaftes, Prophetisches, Politisches, Erotisches, Zeitgeschichtliches und Persönliches, entwickelt auf einer Folie der Liebesbeziehungen. Auch die Liebe selbst variiert von zart und einfühlsam bis rauh und kräftig, sie entsteht mitten im grauen Alltag und auf Reisen durch die historischen Landschaften Europas, wo sie mit den Klassikern in Dialog tritt. Mit meisterhafter sprachlicher Prägnanz erschafft der Dichter auf diese Weise eine Art lyrische Biographie, die durchaus epische Züge hat und Vernetzungen zwischen Menschen- und Länderschicksalen aufzeigt.
Grupello Verlag, Klappentext, 1999
Am 7. Februar diesen Jahres wurde Heinz Czechowski 65 Jahre alt. Dieses Jubiläum höchstens ist es, was ihn im Zusammenhang mit der Jahrtausendwende interessiert: Eine Zeitschwelle wird überschritten. Weder ins neue Jahrtausend noch in den neuen Lebensabschnitt (wenn man es denn einen nennen will) geht der Dichter mit Euphorie. Ja, es scheint, als sammle er im Laufe seiner Dichtenszeit sowohl gegenüber sich selbst als gegenüber der Welt Groll und Gram. Während das Vergnügen (am Erleben, am Denken, am Niederschreiben) höchstens gleich bleibt und so an der Summe der Erfahrung einen geringeren Anteil bekommt.
(…)
Das ist auch in dem Band Liebesgedichte nicht anders. „Vom Dachgarten der Yenidze“ sieht das lyrische Ich die Stadt als einen „zerklüfteten Cañon, in dem sich / Alle Erinnerungen, die ich noch habe, / Verlaufen“. Aber auch an der „Feuerstiege“, einer seiner Adressen am neuen Wohnort, sucht ihn die Liebe nicht ohne Verzweiflung heim. Nein, Idyllen sind seine Sache kaum. Wenn sich eine Balance herstellt zwischen Abstoßen und Anziehen, ist das viel. Dabei gibt es viel Zartes, Handfestes, manchmal ein bisschen Frivoles und immer wieder die konkreten Dinge, die daran erinnern, dass Liebe wie jedes Gedicht stets die ganze Welt meint. So kommt in „Don Giovanni in Seußlitz“ nicht nur die ironische Bilanz eines alternden Liebenden vor, sondern auch Abrechnung mit „Leporello als IM Bonvivant“ oder „wie Weltreiche / Plötzlich ins Knie brachen“ und die Hinterbacken der jungen Sächsinnen. Freilich ist immer der Liebeskummer dabei, in Weltschmerz zu münden. Zu hören ist höchstens ein leises Staunen, „Wo ich mich für ein paar Momente / Glücklich wähnte.“
Czechowski mischt hier neue Gedichte mit schon in früheren Bänden veröffentlichten. Will er die Spuren der Abläufe realer Liebesgeschichten verwischen, um Anekdoten zu vermeiden? Oder um den Augenblick gegenüber Entwicklungen hervorzuheben? Oder knüpft hier nun doch eine neu gewonnene Gelassenheit an Früheres an? Es sind gute Gedichte, wenn auch nicht immer schöne oder gar hübsche. Doch es lohnt sich, nach den Spuren der Hoffnung zu suchen zwischen den nicht leicht konsumierbaren Zeilen.
Es bleibt zwischen Verzicht und Entsagung
Allsonntäglich noch dieser Gang
Durch den Bayerischen Bahnhof
Zum Botanischen Garten,
Wegen des schamlos sich sonnenden Mädchens oder
Der unscheinbaren,
Am Wegrand wachsenden
Salzflora Mitteleuropas
Inzwischen schreibt er an einer Art Autobiografie, aus der er schon, um quasi Rechenschaft für ein Stipendium des Freistaates Sachsen zu geben, in Sachsen mehrmals gelesen hat. Zwar verspricht das ein Prosatext zu werden – genauer, ein Geflecht von Prosatexten – doch bleibt er sich als Lyriker dabei treu in der assoziativen Herangehensweise, die wiederum Bitterkeit nicht verschweigt, aber bricht mit Ironie. Und, nicht zu vergessen, Selbstironie.
Gundula Sell, Ostragehege, Heft 18, 2000
Andreas Öhler: Dilemma und Diotima
Rheinischer Merkur, 11.2.2000
– Unter dieser Überschrift, festgemacht an den Daten des Aufstands in der Berliner Stalinallee am 17. Juni 1953, am Ungarn-Aufstand 1956, dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 und an der Ausweisung von Wolf Biermann aus der DDR 1976 diskutierten beim VI. ELS-Forum (29.10.–1.11.1998 „Zu Hause im Exil“) in Wuppertal die Dichter Reiner Kunze und Heinz Czechowski unter der Moderation des Autors und Rundfunkredakteurs Karl Corino. –
Karl Corino: Inwieweit es notwendig ist, Ihnen noch Reiner Kunze und Heinz Czechowski vorzustellen, weiß ich nicht.
Ich beginne bei Heinz Czechowski. Er wurde 1935 in Dresden geboren, hat dann eine Lehre als Bau- und Reklamezeichner gemacht, als Vermessungsgehilfe gearbeitet und wurde dann an das Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig geschickt, wo er von 1959 bis 1961 studiert hat. Danach ist er ca. vier Jahre Lektor im Deutschen Verlag gewesen. Anschließend war er Mitarbeiter eines Verlags in Rostock, von 1971 bis 1973 Dramaturg am Theater in Magdeburg und dann war er noch einmal bis 1977 Mitarbeiter des Reclam-Verlags in Leipzig, anschließend freier Autor. Er ist bis 1989, also bis zum seligen Ende der DDR, in diesem Staat geblieben, lebt aber seither an verschiedenen Orten der westlichen, der alten Bundesrepublik.
Reiner Kunze ist zwei Jahre älter, er ist 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geboren, Sohn eines Bergmanns. Er sollte bei Kriegsende Schuster werden, wurde dann durch den neuen Staat delegiert auf eine Oberschule. Er machte Abitur, hat in Leipzig Journalistik studiert und bis 1959 unter anderem als Kollege des späteren Kulturministers, Klaus Höpke, eine Assistententätigkeit an dieser Fakultät für Journalistik ausgeübt. Er kam dann in schwere politische Turbulenzen, ist abgegangen von dieser Fakultät und arbeitete zwei Jahre als Hilfsschlosser in einem Betrieb. Er ging 1961/62 in die CSSR, wo er seine spätere Frau kennen gelernt hat und lebte dann als freier Schriftsteller in Greiz, Thüringen, bis zum Frühjahr 1977. Kunze hat die DDR schließlich wegen massiver Gefahren für Leib und Leben verlassen und lebt seither im bayerischen Raum, in der Nähe von Passau.
Diskussion
Corino: Lieber Herr Czechowski, Sie haben einmal geschrieben: „Ich bin geboren zu widerstehen.“ Das ist ein kühner Satz, der Sie natürlich für diese Diskussion prädestiniert. Aber ich glaube, man hat Ihnen zumindest nicht an der Wiege der DDR gesungen, daß Sie eines Tages mal nicht mehr auf der Linie liegen würden. Wie hat sich das denn bei Ihnen entwickelt? Wenn man Ihre Bücher liest, stößt man unweigerlich auf den Eindruck, dass Sie doch lange Zeit im wesentlichen mit dem einverstanden waren, was dieser neue Staat getan hat.
Heinz Czechowski: Ja, das ist in der Tat ein Problem meiner inneren und äußeren Biographie. Im Wesentlichen…… ich bin 1935 geboren, ich war also zehn Jahre alt, als das Nazireich zusammenbrach, gleichzeitig wurde meine Heimatstadt Dresden am 13. Februar 1945 dem Erdboden gleichgemacht in zwei Bombenangriffen. Meine Eltern waren Kleinbürger, mein Vater war Beamter. Ich muß sagen, dass ich mich natürlich in späteren Jahren in der Nachkriegszeit von meinem Elternhaus und von der Ideologie meiner Eltern, die zwar keine Nazis waren, aber eben in dieser kleinbürgerlichen Dresdnischen Denkungsart verhaftet gewesen sind, dass ich mich dann irgendwie lösen mußte. Und obwohl ich dieses Wort höchst ungern gebrauche, nämlich das Wort Identität, habe ich tatsächlich natürlich irgendwie in den Nachkriegsjahren in den Dresdener Trümmern nach einer Identität gesucht.
Und die habe ich dann später, also so mit 22, 23 Jahren, als ich am Literaturinstitut war, zu finden gehofft durch meinen Beitritt zur SED. Das war für mich – zum Teil – aus einem Missverständnis heraus, eine Möglichkeit, an ein anderes Ufer zu gelangen.
Das Missverständnis bestand im wesentlichen darin, dass ich in diesen Jahren ein ausgesprochener Brecht-Epigone war und mich mit dem Werk Brechts, so weit es damals überhaupt erhältlich war, auseinandergesetzt habe. Und ich dachte immer, wenn dieser Mann Kommunist und Parteimitglied ist, dann gibt’s ja gar nichts höheres, als dieses Ziel anzustreben. Daß Brecht nie in einer kommunistischen Partei gewesen ist, das wußte ich damals nicht. Ich habe das also sozusagen stillschweigend vorausgesetzt, dieser Mann ist Kommunist und ich muß ihm sozusagen nacheifern. Das war das Missverständnis.
Ich war also nur eine Nacht, wenn man so will, innerlich SED-Mitglied. Ich bin als Kandidat, wie man das nannte, 1961 am Literaturinstitut aufgenommen worden. Ich habe, als man mich vorläufig ablehnte, in der Vorbereitungszeit, auch geweint, weil ich nicht in die Partei kam. Es gab da Vorbehalte gegen mich, die sich dann später in meiner Stasi-Akte auch bestätigt haben. Ab 1961 bin ich beobachtet worden. Kurz und gut, ich bin also eingetreten und die Genossen der Parteigruppe des Literaturinstitutes, das war so üblich, gaben eine feuchtfröhliche Nacht im Ratskeller. Und am nächsten Morgen, nachdem die alle im Suff mir ihre inneren Geheimnisse offenbart hatten, wie sie zur Partei gekommen sind und wie sie die Partei sehen, also positiv, aber doch mit sehr stark kriminellen Tendenzen, also das würde jetzt zu weit führen, das im einzelnen zu erzählen…… Es waren ehemalige Ein-Mann-U-Boot-Fahrer und Umerzogene aus den Lagern der Sowjetunion dabei (Corino: „Junge Werwölfe“), dann habe ich mir also am nächsten Morgen eigentlich ohne Übertreibung gesagt: „Du musst so schnell wie möglich wieder raus aus dieser Partei. Hier hast Du nichts zu suchen.“
Das hat allerdings dann bis 1976, endgültig bis 1978 gedauert. 1976 habe ich dann also wirklich im Zusammenhang mit Biermann und Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband in Halle usw. den Versuch gemacht, rauszukommen. Ich wollte aber, das ich sage auch ganz offen, nicht alles auf eine Karte setzen, meiner Familie wegen. Aber 1978 hat man mir dann den Austritt, sozusagen, aus der Partei nahegelegt. So lange hat es gedauert. Und dieser ganze Weg von 1961 bis 1976, den kann man natürlich nicht erzählen, das war eine ständige Auseinandersetzung im Widerstreit zwischen Depression angesichts der Lage innerhalb der Partei und andererseits der Hoffnung, man könne vielleicht irgendetwas mit verändern. Das wurde immer wieder genährt. Also, bei jedem Versuch, aus der Partei auszubrechen oder auszutreten, kam dann von gutmeinenden Genossen der Hinweis: „Wenn Leute wie Du gehen, was bleibt denn dann! Wir müssen doch irgendwie versuchen, noch das Beste draus zu machen.“
Dass das eine Illusion war, das wissen wir heute alle. Ja, das ist im Wesentlichen diese Biographie. Aber ich habe natürlich noch eine andere, private.
Corino: In Ihrem Elternhaus scheint es ja doch gewisse Vorbehalte gegenüber der Politik der SED gegeben zu haben. Jürgen Serke schreibt in seinem Buch Zu Hause im Exil, in dem er Sie ja auch porträtiert hat, Ihr Vater hätte die Bauern beraten, steuerpolitisch, die nicht in die LPG wollten, während Sie damals als junger Genosse ein Anhänger der Kollektivierung der Landwirtschaft gewesen seien.
Czechowski: Ja, das war sozusagen der zentrale Konflikt in meinem Elternhaus, meine zeitweilig ziemlich bedingunglose Bereitschaft, alles Mögliche gut zu finden, was von der Partei kam. Und die Zeit meines Studiums am Literaturinstitut war ja nicht unbehelligt von solchen äußeren Ereignissen wie Kollektivierung und so fort. Ich bin dann auch rausgeschickt worden aufs Land.
Corino: Als Agitator?
Czechowski: Als Agitator, oder ich musste eine Reportage schreiben über eine LPG in Sachsen. Ich bin dann von Leipzig dorthin gefahren und habe mir das angeschaut. Ehe man begriffen hat, welches Chaos da herrschte und was da alles im einzelnen auch kulturell passierte – eine ganze Schlossbibliothek lag auf der Straße usw. – das ist jetzt nicht darstellbar, das müsste man eigentlich in einem Buch mal schreiben. Aber ich habe noch lange nicht durchschaut, was da eigentlich passierte und mein Vater sah wirklich dieses Elend dieser ins Nichts Gestürzten. Es gab ja für diese Mittel- und Großbauern doch eine ziemlich schwierige Zeit. Später hat sich das dann etwas verbessert in der LPG-Mitgliedschaft. Den Leuten ging es besser, aber die standen zunächst in den Dörfern vor dem Nichts. Und mein Vater kannte die wirtschaftliche Lage als Steuerberater, er war Steuerfachmann im Landesfinanzamt in Sachsen. Wir haben uns fast geprügelt. Es war eine ganz harte Auseinandersetzung, weil ich das verteidigte: „Also das ist der einzige Weg überhaupt usw. usw.“ Man hatte ja genügend Argumente bekommen von der Partei, die hatte ich ja alle in der Tasche. Aber die Dinge spielten sich ja realpolitisch völlig anders ab. So gab es wirklich harte Auseinandersetzungen.
Corino: Herr Kunze, Sie haben einmal erzählt, Sie hätten schon den Schusterschemel gekannt, auf dem Sie hätten sitzen sollen nach 1945. Und es ist für Sie ja offensichtlich selber ein kleines Wunder gewesen, dass Sie da heruntergeholt wurden und auf eine Oberschule geschickt wurden, Geigenunterricht bekamen, auch wenn der Lehrer manchmal nicht sehr nett zu Ihnen war. Dass Sie dann studieren konnten! Sie gehörten zu der jungen Generation, die damals den Eindruck hatte: Jawohl, das ist ein neuer positiver Anfang, man muß das unterstützten, man muss dabei sein. Und so sind Sie ja auch sehr jung damals in die Partei eingetreten.
Reiner Kunze: Ich habe erlebt, dass man mit Kindern alles machen kann. Bei uns zu Hause gab es kein Buch, außer den Büchern, die ich angeschleppt habe. Und was das für Bücher waren, das kann ich mir jetzt im nachhinein ungefähr vorstellen. Die waren nicht sehr empfehlenswert, was das Niveau betraf. Ich habe alles gelesen, was ich bekommen konnte. Aber ich hatte keine wirkliche Erziehung im intellektuellen Sinne. Und als dann plötzlich der Lehrer kam zu meinen Eltern und sagte: „Wir wollen den Reiner auf die Oberschule schicken“, war das für unsere Familie überhaupt nicht im Koordinatensystem, dass da einer auf die Oberschule gehen könnte… Sie haben vorhin das Wort Wunder gebraucht… es gibt vielleicht zwei solche Wunder in meinem Leben. Einmal, dass ich plötzlich diesen Weg gehen konnte. Und ein anderes war, dass ich es noch erlebt habe, dass dieses politische Regime in der DDR zusammenbricht. Das habe ich auch nicht gedacht. Und dass wir wieder ein Deutschland haben, dass ich das erlebe, das ist für mich also noch immer ein Wunder.
Doch zurück: ich kam an die Oberschule, in ein Internat. War vorher isoliert und jetzt zutiefst dankbar. Ich habe alles für bare Münze genommen, hatte gar keine Skepsis. Ja und dann kam ich an die Universität und war wieder im Internat. Und es dauerte dann eben an die zehn Jahre, bis ich mit der Ideologie gebrochen hatte. Das war ein Prozess, den ich nicht festmachen kann an einem einzigen Ereignis, das geht nicht.
Das Thema unserer Diskussion hier heißt „Möglichkeiten und Grenzen des Widerstands“. Ich will mal ein winziges Beispiel erzählen, wie eng die Grenzen damals gezogen waren. Dabei ging es nicht um Widerstand. Damals habe ich nicht im Geringsten an Widerstand gedacht. Ich bekam nach Bestehen des Abiturs von Verwandten, einem Onkel oder Tante, ein Buch geschenkt. Das war das einzige Buch, das sie wahrscheinlich hatten. Es war seit 1933 in ihrem Besitz. Und als ich Abitur gemacht hatte, sagten sie „Das schenken wir jetzt dem Reiner, der hat jetzt Abitur.“ Und sie hatten keine Ahnung, was für ein Buch sie da hatten. Der Onkel war Polizist gewesen. Und der Name des Autors ist bestimmt nur vom Staubtuch zur Kenntnis genommen worden. Der hieß Franz Kafka. Und das war der Erzählband Ein Landarzt. Ich hatte diesen Namen nie gehört an der Oberschule. Ich nahm das Buch mit, als ich ins Internat an der Universität zog und stellte es auf mein Bücherregal. Wir waren zu viert auf dem Zimmer. Ich stellte es am Morgen hin und mittags war große Fakultätsversammlung. Und Gegenstand war: der Student Reiner Kunze, Genosse, verbreitet bürgerlich dekadente Literatur an unserer Fakultät. Und ich wusste nicht, wer da… ich hatte ja keine Ahnung. Ich fiel aus allen Wolken. Als Indiz, dass ich das verbreite, wurde gewertet, dass die drei anderen Kommilitonen in diesem Zimmer Zutritt zu meinem Kafka-Buch hatten. Es ging eine ganze Woche. Ich bin eine Woche lang von einem Gremium zum anderen geschickt worden. Die Seminargruppe wollte sofort, dass ich exmatrikuliert würde, dass ich ein Jahr in die Produktion müsse, um zu beweisen, dass ich würdig bin zu studieren. Und erst nach einer Woche haben die wirklich begriffen, dass ich ehrlich war und keine Ahnung hatte, wer das ist, der Franz Kafka.
Corino: In welchem Jahr war das denn?
Kunze: Das war 1951. Und sie begriffen, dass ich wirklich einfach zu dumm gewesen bin zu erkennen, was das ist. Deshalb ging es gut aus. Was bedeutete, dass ich aufmerksam gemacht wurde, aufzupassen bei einem neuen Buch, dessen Autor ich nicht kenne, und mich sofort an die zuständige Parteileitung zu wenden, um zu fragen, wer der Autor ist. Das weiß man heute nicht mehr und das gab es auch nicht mehr in den 70er, 80erJahren. Aber machen Sie in einer solchen Situation mal Widerstand, wenn Sie ihn denn vorgehabt hätten! Es wäre nicht möglich gewesen.
Corino: Das ist eine sehr eindrucksvolle Episode aus Ihrem Studium. Das war ’51 und damit sind wir ja schon dicht vor dem 17. Juni 1953. Damals haben Sie studiert, waren in Leipzig vermutlich, was haben Sie vom Arbeiteraufstand mitbekommen?
Kunze: Es war ein Glückstag. Ich lag im Krankenhaus, frisch operiert. Man wusste gar nichts. Das hat mir hinterher oft geholfen. Es konnte sein, was es wollte, bei einer Beurteilung oder so „Wie hat er sich am 17. Juni benommen, wo war er da, was hat er da getan?“ Und da lag ich also frisch operiert im Krankenhaus. Aber ich muss Ihnen sagen. Hätte ich nicht in der Narkose gelegen, wäre ich natürlich ganz genau so mit allen marschiert und hätte also……
Corino: Die Konterrevolution bekämpft?
Kunze: Bekämpft, sicherlich. Ganz sicherlich, ja.
Corino: Bei Heinz Czechowski, das ist auch bei Jürgen Serke nachzulesen, ist das Datum August 1968, Niederschlagung des Prager Frühlings, offensichtlich auch das Ende aller Illusionen gewesen. Da sind Sie nicht der Einzige gewesen.
Czechowski: Na ja, ich meine, man will jetzt nicht eine Biographie glatthobeln, sozusagen widerspruchslos machen. Es hat auch immer ein Hin und Her gegeben. Und ich war vielleicht gegenüber der Partei schon weniger oder nicht mehr hörig. Da war ich es vielleicht noch in ästhetischer Hinsicht, was meine Gedichte oder was überhaupt meine Position als Lektor oder Dramaturg anging. Also das geht nicht synchron. Diese Desillusionierung ist auch schwer darzustellen. Und überhaupt nicht ganz einfach als Erinnerung aufzuarbeiten. Der sogenannte Prager Frühling, das habe ich natürlich in sehr guter Erinnerung. Das war wirklich das Ende aller Illusionen. Und wir haben uns ja auch irgendwie engagiert. Es gab im Schriftstellerverband, in dem damals noch Sarah Kirsch und Rainer Kirsch waren, riesige Auseinandersetzungen. Der ganze Verband – man kann das wirklich sagen – durchsetzt von Spitzeln, auch von namhaften Leuten, die dann auch in der CSSR gewesen sind und dort Rundfunkarbeit geleistet haben. Möchte keine Namen nennen…… Da wurde man also sozusagen in öffentlichen Versammlungen, es gab ja öffentliche Parteiversammlungen, an denen alle teilnehmen konnten oder mussten, mussten ist besser gesagt. Da wurde dann also sozusagen versucht, von bestimmten Leuten – ich würde sie heute einfach als Spitzel bezeichnen – unsere Meinung herauszulocken. Die wurden vorgeschickt als ,agent provocateur‘ und sagten: „Wir finden das ja auch ganz gut, was da stattfindet, aber immer wieder die Intellektuellen und Schriftsteller……“ und so fort. Dann haben wir uns recht freimütig geäußert im Verband und danach gab es die ersten Parteiverfahren im Gefolge, gegen Rainer Kirsch, gegen mich und andere. Kollektivverfahren, bei denen gleich mehrere verheizt wurden. Aber es reichte nicht zum Parteirausschmiss.
Corino: Waren Sie 68 damals im August noch freier Verlags-Mitarbeiter?
Czechowski: Ja, sehr frei. Aber ich wohnte z.B. in einem von Parteifunktionären durchsetzten Neubaublock in einem Außenbezirk von Halle, und dort gab es wirklich von einigen Leuten Aktionen. Die standen mit Kokardenmützen (den dreifarbigen Kokarden der CSR, damals CSSR) vor der Kaufhalle. Und es gab auch nachts irgendwelche Diskussionen, ich hab mich da selber geäußert, und hab auch gemerkt, dass die Parteifunktionäre, die mich sozusagen umgaben in den Nachbarwohnungen, eine gewisse Scheu hatten, gegen den ,Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ 1968 sofort zuzuschlagen. So wie ich es erlebt habe, ging man an diese Geschichte mit einer gewissen Vorsicht ran. Weil man nicht wusste im August, was wird noch folgen. Bis dann der Einmarsch später kam und die Sache leider gelaufen war. Aber der Abbau meiner Illusionen der Partei gegenüber hat sich natürlich weitgehend aufgrund bestimmter Erfahrungen vollzogen. Ich war dann in Weimar zu einer Premiere von einem Stück von Volker Braun, wo sich viele Literaten trafen, die noch geblieben waren und in der DDR lebten; da war die Stimmung ziemlich einhellig und ungebremst. Ich habe niemanden getroffen, der den Einmarsch verteidigt hätte.
Corino: Gerade Volker Braun schrieb dann aber die Geschichte „Das uneingeschränkte Leben Kasts“, die mit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei von Seiten der Warschauer Paktstaaten endete. Und der letzte Satz heißt: „Kast war bis ins Innerste ruhig“.
Czechowski: Aber es war auch nicht Braun, der bei dieser Premierenfeier unmittelbar dabei war. Es waren vorwiegend die Halleschen Kollegen und Freunde, an die ich mich erinnere. Sicher gab es auch andere, die es anders gesehen haben. Für mich jedenfalls war eine Etappe abgeschlossen.
Corino: Nur die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht war damals gründlich zerstört. Herr Kunze, Sie haben dann Ihr Parteibuch abgegeben und sind zur Strafe ausgeschlossen worden aus der Partei. Sie haben damals Ihren Band Sensible Wege bei Rowohlt veröffentlicht, 1968, und haben ihn dem tschechischen Volk und dem slowakischen Volk gewidmet. Damit hatten Sie Ihre Sympathien eindeutig erklärt und die Folge war – wie Sie das einmal formuliert haben – danach war für Sie das sozialistische Lager ein Riesengrab. Sie konnten nicht mehr öffentlich auftreten, nur noch im Rahmen kirchlicher Institutionen. Und Ergebnis war natürlich auch, dass Sie dann Ihren nächsten Band Zimmerlautstärke nur bei S. Fischer in Frankfurt am Main machen konnten. Was hat sich da für Sie in diesen Jahren nach 68 abgespielt?
Kunze: Ich habe geschrieben und ich habe zu meinem Glück keine Fehler gemacht, was das Rechtsverhalten gegenüber dem Staat betraf. Ich habe jeden Vertrag, den ich mit einem Verlag in der Bundesrepublik abschloss, eingereicht, um ihn genehmigen zu lassen, wie es das DDR-Recht vorsah. Dann wurde die Genehmigung nicht erteilt. Trotzdem habe ich den Vertrag unterschrieben, abgeschickt oder mitgegeben. Und dann habe ich mich angezeigt bei der Regierung, dass ich unterschrieben habe, weil keine Begründung gegeben wurde für die Ablehnung. Ich habe mich auf die formalen Verfassungskapitel gestützt. Und habe, und das war das Allerwichtigste, sofort die Devisen angemeldet. Ich habe also nie einen Pfennig West bekommen für meine Bücher, sondern alles ging an die Regierung. Und die Regierung hat dann für 1 Mark West 99 Pfennige Ost bezahlt.
Corino: Ein gutes Geschäft für die.
Kunze: Aber das spielte überhaupt keine Rolle. Und wenn ich solche Sachen wie die Selbstanzeige getan habe, dann bekam ich ein Verfahren. Und dann haben wir das halt auf uns genommen. Das ging so, bis es nicht mehr ging.
Corino: Das heißt also, Sie haben Strafe gezahlt dann, oder?
Kunze: Ja. Und es gibt Kollegen – hier muss ich auch z.B. Stefan Heym wirklich ehrend erwähnen. Er war der erste, der sofort gesammelt hatte, damit der Kunze seine Strafe bezahlen kann. Hat in Berlin gesammelt und mir so das Geld geschickt per Postanweisung.
Corino: Er war ja selber der erste, der dann eine drastische Strafe über 10.000,- Mark bekommen hat für einen Roman, den er im Westen veröffentlicht hat. Aber jetzt muss man vielleicht dann auch mal das Wort ,Stasi‘ in die Debatte werfen.
Denn wenn ich mich an Ihre Akte, an die Auszüge aus Ihrer Akte „Decknamen Lyrik“ recht erinnere, haben ’68 massive Maßnahmen gegen Sie begonnen.
Und auch bei Ihnen Heinz Czechowski ist es ’68 das Jahr gewesen, wo das MfS Sie sehr genau unter die Lupe genommen hat.
Czechowski: Eigentlich ab ’61 zu meinem eigenen Erstaunen. Als ich mich auf der Höhe meiner Sympathie für die Partei wähnte und im Institut natürlich diskutierte. Dort war die Diskussion manchmal doch recht freimütig. Das muss schon sein unter Studenten…… auch in Kaffee-Häusern und so über Literatur zu reden. Das kann ich alles jetzt nachlesen in meiner Stasi-Akte. Aber das war zu meinem Erstaunen völlig auf dem Boden der Partei. War es nicht de facto. Ich habe ja die Akte gesehen, 1.200 Seiten, in Leipzig 1995. Das war ein kontinuierlicher Prozeß der Beobachtung. Aber es sind ja gegen mich keine Repressalien durchgeführt worden. Ich bin nicht zu Verhören vorgeladen worden. Doch dann gab es eben merkwürdige Ereignisse, dass ich z.B. mal Günter Kunert für eine Anthologie ein Päckchen Gedichte schickte, eine ziemlich umfangreiche Sendung, und schon kriegte ich einen Brief vom Rat des Bezirkes Halle, ich solle mich beim Genossen Kubach einfinden zu einem Gespräch über kulturelle Fragen. In Wirklichkeit bestand das Gespräch über kulturelle Fragen darin, dass man mir das Kuvert mit den Gedichten vorlegte – da waren noch Beamte des Zolls dabei in Uniformen – und mich verwarnte und sagte, wenn das noch mal passierte, würde man entsprechende Maßnahmen gegen mich einleiten. Also solche Dinge hab ich mehrfach erlebt. Aber direkt Verhöre bei der Stasi hatte ich nie. Nur die kontinuierliche Beobachtung blieb, wie ich aus meiner Akte gesehen habe. Auch sehr peinliche Situationen gab es, über die man geschrieben hat. An die ich mich auch selber nicht gerne erinnere. Das ging bis in die Familie. Aber das sind ja Dinge, die Millionen erlebt haben, und es gibt ein paar persönlich sehr berührende Dinge, die Freundschaften betreffen, wo man sich doch einigermaßen sicher wähnte. Und dachte, dass ist eine wirkliche Freundschaft. Gespräche bis in den Morgen, in Wohnungen und so. Da gibt es vor allem in der Halleschen Zeit Fälle, die mich schon sehr berührt haben, als ich durch die Akte davon erfuhr. Das hat mich schon sehr aus dem Gleichgewicht gebracht ’95.
Corino: Herr Kunze, um das Wort ,Widerstand‘ noch einmal zu zitieren. Haben Sie denn Bücher wie die Sensiblen Wege und die Zimmerlautstärke und erst recht die Wunderbaren Jahre von 1976, haben Sie denn das als Widerstand betrachtet in Ihrer eigenen Terminologie? Waren das gar – ich sag’s jetzt drastisch – Kriegserklärungen an den Staat DDR? Zumindest wurde das von den Funktionären so aufgefasst.
Kunze: Nicht im geringsten.
Ich will ein Beispiel erzählen: Die Lebensader für mich als Autor, der im Osten lebte und nur im Westen publizieren konnte, war die Post. Und wenn ich Ihnen also erzählen würde – ich hab ein schönes Postmuseum zu Hause – und Briefe von Frankfurt z.B. nach Greiz. Sie stempelten ja lustigerweise auch noch ab auf der Hinterseite, wenn es um Eilbriefe ging, so dass man genau die Zeiten sehen konnte. Normale Briefe 56 Tage, 43 Tage, Eilbriefe eingeschrieben 27 Tage. Die DDR war ja ein exakter Staat. In den Zügen mussten die Eilbriefe abgestempelt werden. Einer dieser Stempel ist auf dieser Laschennaht, und die obere Hälfte sitzt 2 mm links von der unteren Hälfte des Stempels. Dass man das heute in den Akten fotografiert sehen kann, ist eine andere Sache. Aber das haben wir ja damals nicht gewusst. Also die Post wurde nicht nur kontrolliert, sondern gelenkt. Wenn in einem Brief ein Datum angegeben war, wann wir uns mit Ihnen z.B. um soundsoviel Uhr auf der Leipziger Messe treffen, kam dieser Brief prinzipiell einen Tag nach Verstreichen des Datums an.
Manuskripte habe ich so über die Grenze gebracht, dass ich mir von einem Freund, von einem Bekannten von hier ganz dünnes Schreibmaschinenpapier hab bringen lassen. Und da hab ich das Manuskript auf diesem Papier abgeschrieben, habe das Manuskript in 20-Grammbriefe verteilt, also in jedem Brief drei Blatt davon, und bin damit frühmorgens losgefahren und habe mit genauen Straßenadressen bestimmter Städte aber ohne einen genauen Namen, hab ich diese Briefe bis abends halb neun von einer Stadt zur anderen in immer einen Kasten gesteckt, je einen Brief. Und das ist angekommen, und der Verlag hat’s zusammengelegt, Freunde haben’s hingebracht und so ist der Band angelegt worden. Das sind alles Ereignisse, die erzähle ich jetzt. Ich habe nie daran gedacht, ein Gedicht meinetwegen oder einen Text über die Post zu schreiben. Eines Tages komme ich von Berlin, wo ich ein furchtbares Gespräch im Ministerium für Kultur hatte, und plötzlich kommt eine Metapher nach der anderen, Bilder, die ich nie gesehen hatte. So entstand dann ein Zyklus „21 Variationen über das Thema DIE POST“. Ich hab nie geschrieben um Widerstand zu leisten oder um Politik zu machen. Widerstand hab ich schon geleistet, aber das wäre auch kein Ausgangspunkt für ein Gedicht gewesen. Die Einfälle müssen einem kommen. Das Unbewußte arbeitet so lange, bis die Einfälle da sind, und dann wird der Text politisch. Und dann muß man den Kopf dafür hinhalten. So war es prinzipiell. Das betrifft die Wunderbaren Jahre ganz genau so.
Corino: Wir nähern uns damit dem Jahre 1976. 1976 sind Ihre Wunderbaren Jahre erschienen. Und mögen Sie das nun als Widerstand bezeichnen oder nicht, Sie haben ja sehr plausibel gemacht, dass man aus dem Willen zum Widerstand in aller Regel keine Literatur schaffen kann, sondern dass das Unbewusste auf einer ganz anderen Ebene arbeitet. Was ja nicht verhindert, dass solche Texte dann wie Manifeste wirken können, und so ist es ja mit den Wunderbaren Jahren auch gewesen. Diese Wunderbaren Jahre waren sozusagen eines der massiven Krisensymptome des Herbstes 1976. Wenn ich mich recht erinnere, hat der Fischer Verlag damals dieses Buch publiziert. Sie standen dann sofort im Kreuzfeuer, und ein paar Monate später, nämlich im November 1976, wurde dann Wolf Biermann nach seinem berühmten Kölner Konzert ausgebürgert. Es ist ganz klar, der Herbst 1976 war der Anfang vom Ende der DDR. Es gab zum ersten Mal einen massiven Protest der Intellektuellen, der Künstler. Sie, Herr Kunze, sind da ein bisschen außerhalb gestanden, vielleicht weil Sie in Greiz saßen oder nicht zu diesem ersten Zirkel zu gehören, der das Protestmanifest unterschrieben hat. Sie haben dann aber Ihren Widerstand auf Ihre eigene Weise dokumentiert. Können Sie zu diesem Herbst 76 aus Ihrer Sicht noch einiges sagen?
Kunze: Ich meine, das ist bekannt.
Czechowski: Ich habe 76, das muß ich sagen, auf den Rausschmiss Biermanns sehr depressiv reagiert. Ich hab mich von allen zurückgezogen. Ich hab nichts mehr gemacht. Ich bin zu keinem Kongress gefahren. Ich hab mir für wenig Geld ein Bauernhaus in der Wildnis gekauft und hab dann dort jahrelang gelebt bis etwa 86. Das war meine Reaktion auf das Biermann-Ereignis.
Corino: Sie haben unterschrieben damals auch…
Czechowski: Nein, ich hätte gerne das erste Manifest der 12, es waren ja 12, wenn ich mich recht erinnere, unterschrieben. Hab dann Heiner Müller angerufen und wurde sozusagen abgelehnt. Also man wolle nicht noch mehr und dann möglichst sehr Prominente. Ich hab dann aber ein weiteres im Gefolge des Manifests entstandenes Papier, das sehr viele unterzeichnet haben, ebenfalls unterschrieben. Das ist irgendwo dokumentiert. Da bin ich dann mit drauf, obwohl telefonisch gebeten… Das hatte auch einen gewissen – wenn Sie wollen – theoretischen Aspekt. Ich hatte mich damals z.B. mit Wulf Kirsten geeinigt, wir leben sozusagen in diesem Staat mit abgewandten Gesicht und schrieben auch so. Das führte uns in einer gewissen Weise zur Naturlyrik. Aber wenn man das heute nachliest, es war eben keine reine Naturlyrik, es war eine Lyrik, die sozusagen in die Geschichte zurückgriff und andererseits versucht hat, aktuelle Dinge mit wenigen Sätzen zu beschreiben. Aber es gab ja die vielen, vielen illegalen Treffen, an denen auch Grass teilnahm und Christoph Meckel in Wohnungen Ostberliner Freunde, bei Sarah Kirsch, bei Bernd Jentzsch, bei Schädlich, bei Kunert, erinnere ich mich noch ganz genau daran. Es waren richtige Ost-West-Treffen. Das jetzt zu untermauern, wie das alles im einzelnen stattgefunden hat, wie die Kollegen aus Westberlin rüberkamen, unter welchen Vorwänden und Tarnungen und so, das würde hier zu weit führen. Doch es war natürlich auch eine Form des Widerstandes. Natürlich ebenfalls bespitzelt. Es war immer jemand dabei. Man wusste aufgrund von Telefongesprächen, die abgehört worden sind, wer kommt. Es waren wirklich konspirative Telefongespräche. Ich erinnere mich noch genau. Niemand sagte im Klartext: „Komm am Soundsovielten, Soundsovielten in die Wohnung von Sarah Kirsch in die Fischerinsel. Dort kommt der und der.“ Man wusste schon. Bei Arendt, 19 Uhr. Arendt hat auch eine Rolle gespielt in seiner Wohnung. Meistens war ich mit dabei.
Sie fragten mich ja eingangs, das kommt mir jetzt vor, als hätte ich gekniffen, nach der Verszeile mit dem Widerstand. „Ich bin geboren, zu widerstehen.“ Ja. Das ist natürlich. Aber ich glaub, es ist ein bissel anders gemeint. Bei aller Vorsicht. Es beinhaltet nicht landläufig, was man unter Widerstand versteht. Es geht mir um eine andere Form von Widerstand. Es ist nicht der politische unmittelbare gemeint. Eher…… im Sinne von Brechts Psalm „Laßt euch nicht verführen, es gibt keine Wiederkehr“.
Corino: Diese Jahre da auf Ihrem Bauernhof. War das eine Art innere Emigration?
Czechowski: Es war schon so etwas. Ich hab ja nicht alleine dort gelebt, das war der sogenannte Winkel – für meine spätere Frau und Freunde. Es war ja auch ein Treffpunkt um Heiner Müller und Storch und andere. Es sind da unzählige Leute aufgetaucht. Auch hier im Saal ist jemand, der dabei war. Wenn in der DDR dieser Begriff „Innere Emigration“ einen Sinn macht, dann für diesen Hänsle-Winkel in einem Dorf in der Lausitz. Das habe ich auch geschrieben. Für mich, der ich kein aktiver Widerstandskämpfer gewesen bin – es wäre Quatsch, jetzt so etwas zu konstruieren – war das meine Form der Absage. Aber das wusste auch die Partei. Die hat mir ja nicht zufällig in dieser Zeit den Austritt nahegelegt. Mit der merkwürdigen Begründung, ich sei Herrenhuther Bruder geworden, hätte mich der Herrenhuther Brüdergemeinde zugewandt, weil die zufällig in der Nähe war. Deshalb sollte ich nun endlich doch aus der Partei austreten. Was ich dann auch vollzogen habe.
Corino: Verblüffenderweise sind Sie nach der Biermann-Affäre ja einmal im Westen gewesen und waren schon entschlossen, im Westen zu bleiben, sind dann aber nach einiger Bedenkzeit doch noch einmal zurückgekehrt in die DDR. Ist das nicht ein paradoxes Ereignis?
Czechowski: Ja, da gibt es auch einen Text darüber, in einem Prosa-Buch. Sogar in der DDR veröffentlicht. Wenn auch mehr oder weniger verschleiert. Anfang… oder war das Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger?, hatte ich nach meiner ersten Scheidung quasi nichts mehr zu verlieren und bekam meine erste Westreise, an die Universität Freiburg im Breisgau zu einer Lesung. Und von dort aus habe ich illegal meinen damaligen Freund Bernd Jentzsch in Zürich besucht. Das war ja möglich. Man gab den Pass ab in Breisach auf dem Passamt, den DDR-Pass, und bekam einen Westpass. Das hat sofort funktioniert. Aber die Sachbearbeiterin hat natürlich sofort gemeldet, dass ich den Pass eingetauscht hatte. Aber das dauert ’ne Stunde wenn ich das erzählt habe. Bin jedenfalls – um das kurz zu machen – nach Zürich gefahren und hab mit Jentzsch und seiner damaligen Frau ’ne Nacht verbracht und meinen Pass gezeigt, und der sagte: „Hör mal Czecho, du kannst ja gar nicht mehr zurück. Das Visum ist ja abgelaufen. Die haben dir ne Falle gestellt.“ Dann hab ich nachgesehen. Das stimmte. Kurz und gut, ich bekam sogar ’ne Anstellung am Walter-Verlag in Olten. Ich war Lektor, ich hatte einen Vertrag. Bin dann trotzdem in die DDR zurückgekehrt. Denn mich hat das Erlebnis von Zürich total verstört. Es war wirklich ein totaler geistiger Zusammenbruch. Ich war in Zürich gewesen, bin dort die Bahnhofstraße, vorbei an den vollen Geschäften, runter zum Zürcher See und dann nach Küssnacht gefahren… ich kam ja aus der grauen DDR sozusagen in einem Sprung, ohne Vorbereitung, in den reichen Westen. Es war ja unabsehbar. Paradox dabei: Erst als ich aus der Partei ’raus war, kriegte ich ’ne Westreise. Dort aber dacht’ ich: „Du musst zurück. Hier wirst du wahnsinnig. Das kannst du nie verkraften.“ Ich kann das bis heute nicht richtig definieren, was in mir stattgefunden hat. Es war angesichts der ganz anderen Welt ein Zusammenbruch. Und ich saß in Breisach im Schlossgarten meines Freundes Kröner – der hatte so ein Schloss gepachtet als Kunsthändler, und blickte in das Gras und sagte mir – es war im Mai: „in der Lausitz, auf meinem Hof wächst jetzt das Gras. Ich muss zurück.“ Und ich bin bei Nacht und Nebel, wohlwissend, was mir hätte passieren können, in den Zug gestiegen und zurückgefahren. Habe dann drei Tage in Halle, in meiner Neubauwohnung, auf dem Bett gelegen und dachte: „Die müssen doch jetzt mal kommen.“ Zumal ich meinen alten Glasschrank, in dem alle meine Manuskripte lagen, geräumt vorfand, als ich zurück kam. Es stellte sich jedoch heraus, dass eine gute Bekannte von mir geglaubt hatte, ich käme nicht zurück, die Manuskripte sozusagen in Pfarrhäusern rund um Halle verteilt hatte. Dann bin ich nach drei Tagen angerufen worden: „Czecho, komm nach Berlin. Wir reden über alles. Ich garantiere dir, du gehst straffrei aus.“ Denn mein Visum war ja, wie gesagt, verfallen. Dann bin ich tatsächlich nach Berlin gefahren und habe die Dinge einigermaßen glimpflich geregelt und bin wieder in mein Domizil zurück. Es hat sich dann wenig ereignet. Aber die Stasi hat mich und die anderen drei Leute im Haus beobachtet. Tagelang stand da ein blauer Lada mit einer riesengroßen Antenne und später ist uns klargemacht worden, wir hatten alle Wanzen in den Wohnungen. Aber im Gebälk eines 200 Jahre alten Lausitzer Bauernhauses finden Sie mal ’ne Wanze, wenn die die geschickt untergebracht haben.
Corino: Wären Sie damals 1979 im Westen geblieben, hätte der Sommer und Herbst 1989 in Leipzig ohne Sie stattfinden müssen. Aber so hat er mit Ihnen stattgefunden.
Czechowski: Ja.
Corino: Dann sind Sie ja wirklich auf die Straße gegangen.
Czechowski: Das haben ja fast alle gemacht. Das sehe ich nicht als persönliche Leistung oder irgendsowas an. Das war ganz normal. Tausende, Zehntausende haben das gemacht. Da fängt aber eigentlich meine Biographie der letzten 10 Jahre an, die mich dann nach Westfalen geführt hat. Und da wird’s eigentlich interessant. Die DDR habe ich noch einigermaßen überstanden, aber darüber würde ich gerne an anderer Stelle mal diskutieren.
Corino: Manche waren ja der Meinung, mit dem Herbst 89 oder spätestens mit der Wiedervereinigung sei jeder politische Widerstand sinnlos geworden. Auf der anderen Seite gibt es das beherzigenswerte Diktum von Günter Eich „Sei nicht Öl, sondern Sand im Getriebe der Welt“. Herr Kunze, wie sehen Sie denn aus der heutigen Sicht dieses Thema?
Kunze: Ich glaube erst einmal, dass meine Generation sterben muss, gell, und vielleicht noch eine Generation, bis wir Gesamtdeutsche haben. Das ist das eine. Und das andere ist, die DDR wirkt nach. Sehr aktiv.
Corino: Das ist wohl wahr.
Kunze: Am 17.8.1998 sendete der Mitteldeutsche Rundfunk um 15 Uhr ein 50-minütiges Gespräch mit mir. Gesprächspartner war Ludger Bild, Berlin. Am 6.9. ging mir ein Fax zu, in dem es heißt: „Am Tag der Sendung ist etwas passiert, was Sie beflügeln kann. Die Ausstrahlung wurde achtmal von einem Störgeräusch senderweit, also in allen drei Bundesländern, unterbrochen.“ Dies auf einer Pegelfrequenz, auf der vor 89 die Stasi die Sendungen störte. Ein derartiger Fall ist noch nie vorgekommen. Zwar kommt es hin und wieder vor, dass ein Sendepunkt vorübergehende Probleme hat, aber eine flächendeckende Störung einer Sendung hat es nie gegeben. Ich habe verstanden, dass es nur eine Übergabestelle vom Sender zum Telekom gibt, die einen derartigen Zugriff erlaubt. Ansonsten wären die Störungen lokal gewesen, z.B. am Sendemast Magdeburg. Dem aber war nicht so. Vor allem sind die Äußerungen über Prag 68 nicht zu hören gewesen. Es hat daraufhin empörte Anrufe bei der Redaktion gegeben. Hörer haben auf die Störgeräusche und die alte Pegelfrequenz hingewiesen. Immerhin hat der Sender eine Pressemitteilung herausgegeben, die auf die Wiederholung der Sendung am vergangenen Montag hinwies. Der Vorgang beschäftigt mich sehr. Vor Jahren hätte ich ihn einem überspannten Bewusstsein zugeschrieben. Aber meine persönlichen Erfahrungen mit Doppelstrategien widersprechen dem. Und dennoch sagt man sich: ,Unglaublich!‘. – Dieser Vorgang ist eine Sache. Nun noch eine andere. Im Januar 1997 kam eine polnische Studentin mit einem zweimonatigen DAAD-Stipendium an die Chemnitzer Universität, um Material für ihre Magisterarbeit zu sammeln. Ihr Thema „Die Kulturpolitik der SED und ihr Einfluss auf die Lebenswege der DDR-Autoren am Beispiel von Reiner Kunze“. Die Professorin, die sie im Chemnitz betreuen sollte, verlangte von ihr jedoch, nicht über Reiner Kunze zu schreiben, da er, ich zitiere mit Erlaubnis der Studentin aus einem ihrer Briefe: „ein letztrangiger und eher unbekannter Schriftsteller sei“, sie solle über bekanntere und geschätztere Schriftsteller schreiben, z.B. über Volker Braun. Da die Studentin auf ihrem Thema beharrte, machten sie Mitarbeiter der Professorin darauf aufmerksam, dass diese über großen politischen Einfluss verfüge und ständig in Bonn sei. Doch auch diese Warnung fruchtete nichts, so dass die Professorin, ich referiere nach dem Brief der Studentin, an deren polnische Universität ein Fax schickte, in dem sie die Möglichkeit nicht ausschloss, der jungen Frau das Stipendium abzuerkennen, wenn diese ihren Forderungen nicht nachkomme. Die Studentin, die von diesem Geld absolut abhängig war, blieb aber auch dann noch bei ihrem Thema, als ihr die Professorin erklärte, der Autor, über den sie schreiben wolle, sei ein Mensch von niedrigem Niveau, der an der Grenze zur Psychopathie stehe, denn er habe Akten veröffentlicht, um anderen zu schaden. „Damit die Partnerschaft mit meiner Universität wegen meiner Hartnäckigkeit nicht abgebrochen wird“, heißt es in dem Brief der Studentin, „habe ich gesundheitliche Gründe angegeben und bin nach Hause gefahren“. Inzwischen hat sie ihr Studium beendet und die Arbeit mit Glanz benotet bekommen. In Polen. Das ist Auszug aus einem Interview, das ich der Berliner Zeitung gegeben habe im April 98, es ist also öffentlich. Doch: Keine Reaktion von niemandem.
Czechowski: Es ist tatsächlich so, wie Reiner Kunze erwähnt hat, dass Autoren, die den Sozialismus der DDR bis zuletzt verbessern wollten – wie Volker Braun – heute natürlich viel größere Chancen haben, gehört zu werden. Z.B. in Paderborn gibt es eine Poetikdozentur, zu der mich Günter Kunert vorgeschlagen hat, und das sage ich nicht aus Bitterkeit und Enttäuschung, aber bekommen hat sie Volker Braun. Mir ist völlig klar, dass das so läuft. Diese Kollegen und Kolleginnen sind auch für den Westen interessanter als andere, die so oder so mit abgewandtem Gesicht oder im Widerstand, was weiß ich, in der DDR gelebt haben oder sie verlassen haben zu bestimmten Zeitpunkten. Mit dieser Tatsache lebe ich in irgendeiner Form. Und die Literaturbüros und entsprechenden Stellen in den Ministerien der neuen Bundesländer, ob das in Sachsen oder in Sachsen-Anhalt ist, sage ich Ihnen, ohne in Einzelheiten zu gehen, das würde jetzt auch zu weit führen, das ist katastrophal, wer dort das Sagen hat. Es sitzen im Regierungspräsidium in Halle ehemalige Referenten von Horst Sindermann, ehemalige Waffenträger, die wirklich ihren Revolver, ich hab’s gesehen, zu Sindermanns Zeiten unter ihrem Rock trugen, die sitzen heute in Positionen, wo sie über Literatur, Kunst und Film zu entscheiden haben. Aufgrund eines Doktor-Titels, den sie sich über, vielleicht am ZK-Institut geholt haben… Ich muss sagen, die innere Sperre hat sich nach einem Vierteljahr bei mir so verfestigt, dass ich in die ostdeutschen Bundesländer nicht zurückgehen kann. Dort herrschen in der gegenwärtigen Situation in kulturellen und anderen Kreisen mafiotische Situationen. Dort werden Gelder, die enorm sind, Leuten zugeschanzt, die sich Höfe ausbauen als Kulturstätten. Aber das sind alte Verbindungen. Ich kenne sie. Kann da wirklich aus dem Eff-Eff reden von Leuten, die entweder Mitarbeiter der Stasi waren oder hohe Kulturfunktionäre, Verlagsleiter usw. Das funktioniert alles prima da drüben. Und wenn man nach einem Vierteljahr dahintergekommen ist, kann man sich entweder nur einmischen, indem man sich in solche Gesellschaften begibt und mit den Wölfen heult, um es allgemein zu sagen, oder man geht wieder weg. Das wird hier überhaupt nicht wahrgenommen. Darüber schreibt der Spiegel nicht, darüber wird nirgendwo gesprochen.
Anmerkung des Herausgebers: WDR-Intendant Fritz Pleitgen, der als Schirmherr des VI. Forums bei dieser Diskussion in Wuppertal dabei war, hat seinen MDR-Kollegen wegen dieses Vorfalls geschrieben. Intendant Udo Reiter hat die „obskuren“ Störungen, die bei ihm den „Eindruck eines leisen Unbehagens“ auslösten, bestätigt. Die Sendung ist wiederholt worden. Diesmal ohne Störungen. Die Saboteure blieben unentdeckt.
Hajo Jahn und Hans Joachim Schädlich (Hrsg.): Fäden möchte ich um mich ziehen, Peter Hammer Verlag, 2000
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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