KUNSTZIEL
Der Mensch
Ist das Maß aller Dinge,
sagt Protagoras.
Der Mensch,
Vom Weibe geboren,
Lebt nur kurze Zeit und ist
Voller Unruhe,
Steht
In der Schrift.
Allzuleicht
Könnte hier stehn
Die langwierige Frage: Was
Ist der Mensch?
Menschen,
Verbissen in Stalingrads Gräben,
Erstickt
In den Kellern von Dresden –
Ich seh sie:
Das letzte Stück Brot
Verteidigend gegen
Ihresgleichen.
In Liebe verbissen
In ein Weib, im Haß
Ihre Zähne schlagend in
Ihre Feinde,
Das Flugzeug erfindend,
Den Bruder zu töten,
Das Atom spaltend,
Sich auszurotten,
Das Mehl mahlend,
Ihresgleichen verhungern zu lassen.
Menschen.
Das sind sie,
Die ununterbrochen
Sich angreifen,
Die sich verzehren
In Liebe, Not, Angst,
Die sich flüchten
Im letzten Moment
In ihre Zuflucht:
In sich.
Sie sind das Ziel unsrer Wünsche,
Heiß
Spinnen sie ein
In ihre Grammatiken,
Formeln,
Den Schweiß: sich.
Daß sie am Morgen aufstehn
Nach schlecht durchschlafener Nacht
Und ihr Tagewerk fortsetzen:
Daß sie sich wecken
Nach schlecht durchschlafener Nacht und sich sagen:
Es ist Tag, Mensch!
Rüdiger Ziemann: Versuch poetischer Weltsicht
Neues Deutschland, 6.12.1967
Manfred Jendryschik: Zu Lande, zu Wasser
Sinn und Form, Heft 5, 1968
ERNSTE MAHNUNG 751
Der Odendichter H. Czechowski, welcher
Die Welt sehr liebt, und darum melancholisch
Auf sie blickt, seit er denkt, hat vor 5 Jahren
(Er wohnte da in Trotha, das ist weit
Von hier, dem Zentrum, wo er jetzt wohnt, gleich beim
Stadtgottesacker, wo der Stadtgott sitzt
Von Halle, und, geurteilt nach den Blättern
Im Frühjahr, die sind fett und werden
Jedes Jahr weniger, langsam eingeht)
Der Dichter H. Czechowski also hat
Vor gut 5 Jahren, als wir Rotwein tranken
In Trotha, neugrauer Vorstadt, die aus stillen
Straßen mit Häuschen, Gras und Gartenweiden
Ausläuft in viergeecktes Neubauland
Die Häuser hoch, darinnen Puppenstuben
An Fäden, oder in, Kokon Kokon
Die Puppe in der Puppe ist der Mensch
Czechowski, sag ich, hat vor 5/6 Jahren
Als wir beim Wein, und friedlich, sprachen über
Genüsse unterschiedlicher Erzeugungsart
Von seiner Kunst gesprochen, einen Karpfen
So zu bereiten, wie es keiner kann
Außer ihm selbst; und schon die Ingredienzen
Genannt nur, nicht gezeigt, bewirkten uns
Den Speichelfluß im Mund wie Pawlows Hunden:
Der Mensch ein Reflexwesen. C., tief zufrieden
Lud uns zum Karpfenessen für die Zeit
(Das sind, man weiß, die Monate mit R)
Wo Karpfen wären, die so fest wie gut sind.
Seitdem, wenn wir uns trafen – Theater, Umzug
Besuch, ein krankes Kind, Parteiverfahren –
Ging anfangs noch die Rede von Verschieben
Und wenn ich Czecho sah, und das war öfter
Dachte ich an Karpfen. Jahrelang. Jeder Reiz
Flacht ab durch Wiederholung oder Ausbleiben
Dessen, was man erwartet. So könnte ich ruhig sein:
Sechs Jahre sind sechs Jahre und bald sieben.
Tatsächlich bin ich ruhig, man kennt mich ja.
Nur manchmal, wenn ich Karpfen sehe, denke ich
Jenes Abends in Trotha, und der ungeheuern
Ahnung im Mund (seitdem hat Czecho
2 Bände mit Gedichten, 1 Essayband
Nachdichtungen, Interviews, Theaterstücke
Sowie ein längeres Werk vom Karpfenessen
Achtstrophig und in Vierzeilern, doch reimlos
Veröffentlicht) und dann, erinnernd, möchte ich
Stehend auf Festem wie auf Mickels Tisch
Ausrufen, laut, zum mindesten vernehmlich:
Czechowski, statt der Oden auf den Karpfen
Gib uns den Karpfen, gleich! Die Stimme bricht mir.
1975
Rainer Kirsch
Richard A. Zipster: DDR-Literatur im Tauwetter Stellungnahmen
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
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