DER STÜRZENDE IKARUS
Leute, wer ist das, der da brennend zu uns
aaaaaherabstürzt?
Trägt er einen Bart? Ist es der ewigwährende Marx
Oder Jahve? Seine Flügel, gestylt von Ferrari,
Provozieren den Beifall der Menge. Seine Zähne,
Die besten der Welt, werden den Sturz überstehn.
Ein Maler, am Rande der Szene postiert, wirkt als
aaaaaChronist.
Das Meer, das Meer! ruft ein Philosoph,
Der um tausend Jahre zu spät kam. Er brennt, konstatiert
Einer der schreibenden Zunft, der Brecht überlebte, und
Notiert die Konterrevolution. Hölderlin,
Der einiges über Herakles schrieb, doch nichts
Über Ikarus, sieht aus dem Fenster des Tübinger Turms
Diesen Sturz, der alles vorwegnahm, was uns noch bevor-
Steht. Wir aber, selbst schon im Sturz, wundern uns nicht:
Der Flug, der zum Fluch wurde, ist uns vertraut. Jetzt
Beschweren wir uns mit dem Blei,
Das uns zur Verfügung gestellt ist,
Und diesen Misthaufen, in den Ikarus stürzt,
Nennen wir einfach Geschichte.
der Titel verbirgt dem Kundigen nicht, aus welcher Landschaft heraus sich Heinz Czechowski in die Welt aufmacht: Kolmen, eine wüste Mark in der Nähe Leipzigs, 1813 durch die Truppen Napoleons niedergemacht und verwüstet, ist ein Bild für des Dichters Rückkehr in die Geschichte seiner Landschaft und gleichzeitig Aufbruchsort in die Gegenwart einer veränderten Zeit.
In deren Spannungsfeld bewegen sich Czechowskis neue Gedichte, in denen das ungleiche Geschwisterpaar Melancholie und Ironie eine höchst eigene Verbindung eingeht. Mit widerborstiger Melancholie und poetischer Aufsässigkeit stellt sich Heinz Czechowski gegen die Gewißheiten, die man uns ungefragt anpreist. In der sich ständig wandelnden Zeit der strahlenden Gewinner wird leicht vergessen, daß Überleben schwerer ist als Siegen. Und von diesem Überleben geben die Gedichte Zeugnis, mit zärtlicher Bitterkeit und elegischem Humor.
Ammann Verlag, Klappentext, 1997
Der Dichter ist ein Umformer: Alle Dinge verwandeln sich in ihm zu Worten, werden anders. Aber etwas bleibt von ihnen, ihr Geschmack vielleicht, die Farbe, der Duft, die Gestalt von einst… In seinem Gedichtband Wüste Mark Kolmen stellt sich Heinz Czechowski seinen Erinnerungen an sie angesichts einer total veränderten Welt. Aber:
Ich weiß nicht, ob
Sich alles verändert hat oder
Nichts… Ich wünschte
Ich könnte mich sehen
Von einem anderen
Stern.
Hier bereits meldet der Dichter Zweifel am eigenen Geschichtsbild an, geprägt von den Jahren der DDR und beklagt die Distanz, die sich durch wechselvolle Jahre Irrens und Suchens eingestellt hat. Fremdheit schiebt sich über das Vertraute, die Heimat, die Kindheit in Sachsen, in Dresden. Mit wenigen Worten markiert Czechowski seine Situation:
Am liebsten
Wäre mir ein geschichtsloser Raum:
Eine Vergangenheit
Ohne Zitate, Anspielungen und
Dem Modergeruch alles Vergangenen,
Wo nichts als die Brücke über den Neckar
Von Wagen und Menschen tönte.
Wüste Mark Kolmen ist ein programmatischer Ort für die Aufarbeitung, in der Nähe von Leipzig, wo der Dichter einige Jahre lebte: Das einstige Schlachtfeld und Aufmarschgebiet napoleonischer Truppen. Dieser „einzige Ort / Zum Aufbruch in die Vergangenheit“ wird zur dichterischen Auseinandersetzung und durchzieht den Band wie ein Leitfaden. Die Zeitschichten, die der Dichter dabei kenntlich macht, ergeben einen Querschnitt mitten durch Geschichte und Landschaft, aber auch mitten durch eine sich wandelnde Gesellschaft und das eigene, sich auf sie beziehende Ich.
Heidelandschaft vor Mutzschen,
Ziegenkäse und Kaffegärten
In Wermsdorf,
Erinnerungen an Novalis,
Pferdezucht, Wüstungen,
Aufsteigende Cessnas.
Meine Provinz,
Eingetauscht gegen die Weltläufigkeit
Anderer Provinzen:…
Ist dies die Resignation eines alternden Mannes? Oder ist es das Leiden an der Welt überhaupt, wie es der Dichter par excelence immer wieder erleidet? Ist es die Nostalgie, das Heimweh nach einem Ort, den es nie je gab? Wie ist dieser Prozeß des Erinnerns zu fassen, der das Selbst wie auch die einstigen Dinge verwandelt. Da frappiert Czechowskis sehr sinnliche Sprache, fern einer geschliffenen Wortgewandtheit und erzwungenen Metaphorik. Da wird erzählt und beschrieben, manchmal sehr drastisch, überreal, aber immer verdichtet. In seinen Kindheitsreflexionen werden „Bilder gemalt“, die atmen und deren Ausdünstungen man riechen kann. Sie zählen denn zu den schönsten Gedichten, die ich im Band finden konnte. Eingebettet sind sie im ersten Teil seiner Sammlung zur Landschaft seiner Knabenzeit. Das Vaterhaus am Wilden Mann, Baumwiese und Heide werden ebenso plastisch beschrieben, wie der Blick von den Dächern nach Radebeul, der mir ein typisches Phänomen dieser Gegend offenbart:
Am Rande der Stadt, den Kirchturm, die
Weinberge mit dem Spitzhaus. Von hier aus
Entdeckte ich die Sehnsucht
Nach einer noch immer ferneren Ferne…
Diese Ferne ist für Czechowski zum zweiten, ungeliebten Aufenthaltsort geworden. Von hier aus unternahm er immer wieder Abstecher in den verwilderten Osten. Der zweite Teil seines Gedichtbandes, den er mit „Bis ins Friaul“ überschreibt, wirkt denn auch wie ein Bericht aus unfreiwilligem Exil und ist doch eine Huldigung an die große, geliebte Kultur Italiens, die sich ihm in ihrer Großartigkeit ganz real und nackt darbietet. In einem Gedicht über Mailand wird auch dies gesagt:
Italien, ach,
Mein Arkadien südlich der Alpen
(…)
ist auch
Nicht mehr das, was es einmal
Gewesen schien: schrecklich, Europa
Macht alles gleich: die Möbel, das Essen, das Trinken.
Doch eines Tages,
Wenn ich lange genug
Hier gewesen sein werde, wird mir
Ein Unterschied aufgehn…
Es ist aber auch, als bewirke die Ferne einen Sog, der ihn in Gedanken nach Kindheit und Zu Hause zurückführt. Die dabei angeführten Reminiszensen entbehren nicht der für Czechowski typischen Melancholie, die dort, wo er mit dem eigenen Ich kocketiert, ein wenig maniriert erscheint. Der letzte Teil des Bandes vereint Gedichte ohne genaue Ortsangabe: Gedichte, die hier und dort geschrieben wurden und von hüben und drüben erzählen. Vor allem sind es immer wieder Schlaglichter auf Landschaften in Ost und West, aber auch Gedichte des Abschieds und unerfüllter Sehnsucht nach der Geliebten. In diesen Gedichten verschmelzen Bilder aus dem heimatlichen Dresden ebenso, wie aus Paris und intimen Begegnungen, die durch die Verquickung von szenenartig dargestellten Landschaftsausschnitten und dem Interieur eines Liebesnestes eine neue poetische Qualität erlangen. Hier plötzlich findet der Dichter eine vorläufige Einheit, die sein Schaffen und auch Leben betrifft:
Erinnerungslücken,
Geschlossen,
Während ich mich
Um Kopf und Kragen
Bemühe.
Und dieses Bemühen, erkennt der Dichter in dem Gedicht „Dante Alighieri in Sachsen“ letzten Endes, „ist es, was bleibt: der Rückzug / ins Fragwürdige Paradies / Des Erinnerns“.
Heinz Weissflog, Ostragehege, Heft 12, 1998
In lauter „Unterczechowskis“ – wie vor einigen Jahren, anläßlich des poetischen Journals Nachtspur behauptet – zerfällt der Dichter auch heute gewiß nicht. Im Gegenteil, sein neuester Gedichtband Wüste Mark Kolmen zeugt von einem jener seltenen Glücksfälle, in denen eine poetische Existenz sich – durch alle Umbrüche hindurch – kontinuierlich und widersprüchlich fortschreitend entfaltet. Im Beharren auf detailversessene Spurensuche im endgültig Vergangenen, im Begreifen des erfahrenen Moments der alltäglichen Gegenwart als Teil eines Prozesses ist sich Czechowski treu geblieben. Immer noch auf der Suche nach Glück, immer noch behaftet mit den unvermeidlichen Peripheriegefühlen, durchstöbert er nunmehr nicht nur seine sächsische Lebenslandschaft, sondern auch süddeutsche Gefilde bei Koblenz und italienische Provinzen. Sein Hauptfeld aber bleibt Sachsen zwischen Noblesse und Schäbigkeit. Mit hoher Präzision zeichnet er hier die Konturen des Zerfalls: das Zerbröckeln von Gebäuden und Gegenständen als Zerbröseln von Kultur. Die zeitgebundenen Dinge des Alltags sind es, die zu einem wesentlichen Teil das historisch authentische Fluidum der Verse ausmachen: die Aschengrube im Hof, die blau emaillierte Kanne mit Malzkaffee oder ein Spielzeug: das Schlachtschiff mit Federtriebwerk. Wie in einem Archiv sammelt Czechowski in seinen Versen nutzlos gewordene Gegenstände und klopft sie auf ihren poetischen Wert hin ab: als Zeugnisse der Lebensweise ihrer Benutzer, als Zeichen der Lebensart und Denkweise von Menschen, als Symbole gesellschaftlicher Verhältnisse. Anders als im Museum aber erzeugen im Czechowskischen Gedicht die Verschiebungen der Kontexte neue Assoziationsfelder. Das Nebeneinanderstellen von Details aus verschiedenen Bereichen nimmt ihnen ihre scheinbare Harmlosigkeit. Etwas dabei bleibt ungeklärt und hält die Verse in der Schwebe – trotz aller Genauigkeit in der sinnlichen Wahrnehmung.
Genregemäß steht das Sehen im Vordergrund. Bilder aus der Familiengeschichte werden erinnert, und die Gegenwart teilt sich zuerst in optischen Eindrücken mit.
Wir
Fotografierten
Mit einer langen Belichtungszeit
Die nach keinem
Kommentar verlangende Szene
diese Worte aus „Bauernsterben“ wirken wie ein ästhetisches Programm. Mit fotografischer Schärfe hält Czechowski fest, was er sieht: die vergessenen und abgenutzten Dinge, deren Zustand er mit aufschlußreichen Adjektiven beschreibt: verlassen, entstellt, geplündert, vernagelt, zerbrochen, zerschlagen, verstaubt, vernarbt, verstimmt, leergetrunken, niedergebrannt. Das Leben im niedergebrannten Haus ist eine Metapher, die sehr genau sowohl eine Nachwendebefindlichkeit erfaßt als auch das Leben des Künstlers inmitten fortschreitender Kulturbarbarei. Was über Generationen gut war, hat – so scheint es – schlagartig seinen Wert verloren. Das Erscheinungsbild der Dinge verweist auf den Zustand des Menschen. Der Epochenumbruch ist in der Summe der optischen Details erkennbar. Czechowskis Leistung und Eigenart besteht nicht zuletzt im minutiösen Bewahren der Erinnerung an Entwicklungen und Prozesse, die am Verhältnis des Menschen zu den Dingen ablesbar sind. Das Sehen und wirkliche Erkennen über die bloße Information hinaus ist eine Anstrengung geworden – gegen den Widerstand der in rasendem Tempo wechselnden Bilder der Computer- und Fernsehgesellschaft. „Blick, wenn du kannst“ heißt die wiederholte Aufforderung im gleichnamigen Gedicht. Sie steht im Widerspruch zu einer zweiten Aufforderung:
Vergiß aber nicht, deinen Text zu sichern.
Die einander zuwiderlaufenden Prozesse des Festhaltens, Erinnerns und Vergessens sind hier adäquat in Sprache umgesetzt.
Neben dem Sehen bestimmt mehr denn je das Hören die Verse Czechowskis. Geschichte ereignet sich als „Kanonade im Ohr“, als Klavierakkord, als verspätetes Posthorn, als Krähen eines Hahns, als Hundegekläff und Wespengetön. Musik rauscht als Choral durch die Verse und als Orffsche Musik oder als Oper vom Sterben Christi im Radio – bis die Stille „in den Ohren hackt“. Die Verse selbst fließen elegisch dahin, gelegentlich vom Reim ironisch unterbrochen. Und ein drittes Element des Sinnlichen bestimmt die Gedichte: Sie werden durchweht von allerlei Gerüchen. „Die Luft / war gewürzt mit Pferdeurin“ in der Kindheit; in Treppenhäusern Brünns riecht es „Nach Sperma und Blut“; verflucht wird der Braunkohlegeruch der DDR. Allerlei „schwarze Gerüche“ steigen aus desolaten Zuständen auf. Nicht zuletzt werden aus Sinneseindrücken eindrucksvolle Metaphern, Allegorien und Vergleiche gezogen: die Wahrheit als Schnecke, das Nichts in Gestalt eines Einhorns, die Einsamkeit als doppelgesichtige Schwester. Der Schornstein einer Brauerei ist „gekrümmt wie eine Sattlernadel“. Über allem steht ein merkwürdig dämmeriges Licht, das die Finsternis bald verschlucken würde – wäre da nicht der ausgeprägte Witz des Dichters, der die Melancholie immer wieder konterkariert.
Der sanfte Humor und die gelegentliche Selbstironie in früheren Büchern ist in Wüste Mark Kolmen um einige Spielarten erweitert worden. Mit einem sechsten Sinn für kuriose Dinge begabt, wird Czechowski in der eigenen Biographie fündig, vor allem aber entdeckt er in Banalitäten des Alltags Kurioses und Paradoxes in zeittypischen Details, die er zum Gegenstand fast beiläufig wirkender Satire macht. Vom leicht ironischen Blick auf verquere Maßstäbe, an denen Kunst und Leben gemessen werden („Die Schwalben“), bis zum beißenden Sarkasmus auf gängige Vorurteile und landläufiges „gesundes Volksempfinden“ („Dichter, altmodische Leute“) bieten die Gedichte eine Fülle von Nuancen. In alte literarische Muster (Goethe: „Elegie“) haut er ein zeitgenössisches Wort ein, das schlagartig die Elegie zur Satire macht. Mit drastischen Stoßseufzern wird der Kleingeist attackiert („Lautlos“) oder der Geist der Zeit parodiert („Ich sah Helden und Strolche“). Jede Gelegenheit zur Situationskomik wird genutzt. Wo aber der unangemessene Umgang mit Kultur, mit Malerei, Architektur, mit Landschaft und Geschichte zum Gegenstand der Verse avanciert, bleibt die Komik aus. Der Ton wird nachdenklich-bedenklich. Immer auf der Suche nach Spuren und Zeichen durchstreift ein grüblerisches Ich die Dörfer und Flure, unternimmt Reisen, um am Ende stets in die Provinz Sachsen zurückzukehren. Fast alle Gedichte sind Gespräche mit den Figuren der Kindheit, mit Bewohnern von Landschaften, mit Musikern, Schriftstellern und Malern aus Vergangenheit und Gegenwart über das, was bleibt. In Fahrtgedichten reibt sich ein Ich in unermüdlicher Bewegung an den Widersprüchen der Zeit und bringt sie nüchtern-lakonisch auf den Punkt. Von illusionsloser Härte ist die Zwiesprache mit Landschaft und Geschichte geworden. Von der einstigen Hoffnung:
Vielleicht,
Daß ein neuer Glaube gestiftet würde,
Ein Weg zu Fuß übers Meer?
(„Wort“ in Schafe und Sterne, 1974) ist nichts mehr geblieben.
Dorothea von Törne, neue deutsche literatur, Heft 514, Juli/August 1997
Kerstin Hensel: Wegkehr nach Sachsen
Neues Deutschland, 20.3. 1997
Konrad Franke: Wüste rings umher
Süddeutsche Zeitung, 23./24.8. 1997
Jan Koneffke: Vergiß nicht, deinen Text zu sichern
Frankfurter Rundschau, 30.8.1997
Alexander von Bormann: Unter den Füßen der schwankende Boden
Freitag, 12.9.1997
– Zu Heinz Czechowskis autobiographischer und diaristischer Lyrik seit der Wende. –
Zum 65. Geburtstag Heinz Czechowskis erschien unter dem Titel Die Zeit steht still eine große Auswahl seiner Gedichte von 1958 bis 1999. „Will man von einem wesentlichen Moment, nämlich dem einer starken religiösen Bindung, absehen, so würde ich den Dichter Heinz Czechowski als einen unmittelbaren Nachfahren der berühmten Barockdichter bezeichnen“, schreibt Günter Kunert in seiner Rezension des neuen Sammelbandes. Kunert sieht als „[a]naloge Themen“:
Ausgeliefertsein, Einsamkeit, Menschsein als das Fragwürdige schlechthin, und immer wieder der Krieg, der in Czechowskis Werk niemals endet.
Kunert geht auch auf das autobiographische Moment im Werk Czechowskis ein:
Liest man Czechowskis Gedichte als ,Lebenslauf‘, berichten sie von einer zunehmenden Heimatlosigkeit und Vereinsamung. So redet einer als Emigrant im eigenen Land. Er ist nicht gern, wo er herkommt, er ist nicht gern, wo er hingeht, nur fehlt ihm die Ungeduld Brechts, der den ,Radwechsel‘ beobachtet. Czechowski hat längst die Ziellosigkeit des Schreibens, des Wirkenwollens eingesehen. Er ist ein Getriebener, dem, im Gegensatz zu seinen barocken Kollegen oder den ideologiegläubigen Zeitgenossen, alles Teleologische abhanden gekommen ist.
Im folgenden soll besonders die literarische Entwicklung des Dichters seit der Wende, d.h. seit dem Zusammenbruch der DDR und der Vereinigung Deutschlands, beleuchtet werden.
Heinz Czechowski, 1935 in Dresden als Sohn eines Beamten geboren, nahm nach Ausbildung und Tätigkeit als graphischer Zeichner das Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ auf (1958 bis 1961). Er gehört mit zu der Generation von Lyrikern, die besonders von Georg Maurer beeinflußt wurde, zur „Sächsischen Dichterschule“, um Adolf Endlers Bezeichnung aufzugreifen. Czechowski hat mit zahlreichen Lyrik- und Prosabänden und essayistischen Stellungnahmen seine Spuren in der literarischen Szene der DDR hinterlassen, zwar weniger laut, provokativ und kunstvoll-virtuos als seine Generationsgenossen Volker Braun, Karl Mickel und Sarah Kirsch, aber doch unüberhörbar, nicht zuletzt durch seine skeptische Einstellung zum vorgeschriebenen Fortschrittsoptimismus. In einem Interview von 1984 zum Beispiel geht Czechowski auf die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz ein: „Die Maxime ,Man halte sich ans fortschreitende Leben‘“ sei „ebenso platt wie wahr“. „Das fortschreitende Leben“ sei „aber leider nicht mit dem Fortschritt identisch“. Czechowski nennt als Beispiele die „Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, die Potenzierung der Rüstung, de[n] Hunger – all das… unaufhebbar mit jeder einzelnen Existenz verbunden“.
Das Jahr 1989 bringt für Czechowski Krankheit und eine schwere nervliche Krise, wie der Dichter sagt:
Seit 1989 ging es mit mir absolut bergab.
In den ersten Jahren nach 1989 erscheinen gleichzeitig mehrere, zum Teil sehr kunstvoll illustrierte und sorgfältig zusammengestellte Gedicht- und Prosasammlungen, und 1993 legt Czechowski mit dem Buch Nachtspur ein umfangreiches und gewichtiges Werk mit Prosa und Lyrik von 1987 bis 1992 vor, „das Geschwätz [der großen Medien] darüber, daß den Autoren aus der DDR Themen und Sprache abhanden gekommen seien, weil sich die existentiellen Voraussetzungen und Herausforderungen für ihr Schreiben erledigt hätten“, Lügen strafend, wie Gerhard Wolf in einer Rezension sagt. „Eine ruhige, besonnene Stimme, noch dazu wenn sie jetzt über einen Schweizer Verlag zu uns kommt“, so Wolf weiter, „wird da kaum wahrgenommen. Ein Buch ohne spektakulären Plot, fern von exzentrischer Artistik, gar zwischen Vers und Prosa changierend, das ist wohl nichts fürs ,Literarische Quartett‘ und läuft schon dadurch Gefahr, keine große Öffentlichkeit zu erreichen.“ Es handelt sich um eine in sieben größere thematische Abschnitte untergliederte Sammlung von Texten, die tagebuchähnlichen Charakter aufweisen, da sie, meist datiert, zum Tagesgeschehen Stellung beziehen, dieses allerdings – ohne die strikt chronologische Anordnung persönlicher Eintragungen – vor dem Hintergrund persönlicher Lebenserfahrung und im weiteren historischen und politischen Kontext reflektierend.
Selbstironisch greift Czechowski die Problematik literarischer Produktivität in schwierigen Zeiten in dem folgenden Gedicht auf:
Nimms, wie es kommt, nimm es leicht,
Bedenke: es hätte
Auch anders kommen können. Ja,
Ich schreibe zu schnell: das Gedicht
Ersetzt mir das Tagebuch, Stenogramme
Des täglichen Lebens, gelebt
Zwischen den hohen Tönen der Bücher und
Den Banalitäten des Tages. So
Verweigert die Sprache
Sich nicht. Aber wie lange? Ich hink
den Vergleichen davon. Wohin
Mich der Weg führt,
Ist mir ein Rätsel. Noch
Wohne ich, noch
Gibts ein paar Menschen,
An die ich glaube.
Für andre zu reden,
Hat vielleicht doch
Einen Sinn? Dreihundert Zeilen
Pro Tag schrieb Zola:
Wie lange
Habe ich keine Zeile
Von ihm gelesen?
Zur eigenen Kennzeichnung seiner poetischen Verfahrensweise beruft sich Czechowski auf den Goethe entlehnten Begriff des „Gelegenheitsgedichtes“. Er versteht darunter „das Gedicht als Reaktion auf den erlebten Moment, den Kreuzungspunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem geschichtliche Erfahrung bewußt wird, notierbar.“ Zum ironischen Ton des Gedichtes „Nimms, wie es kommt, nimm es leicht“ treten Aussagen, die sich an noch nicht Verlorenes klammern, was das Alltagsleben und den Kreis von Freunden betrifft, die dem Dichter Halt gewähren. Die Verse „Wohin / Mich der Weg führt, / Ist mir ein Rätsel“ sind dagegen als Ausdruck von Ratlosigkeit, wenn auch – zumindest zu diesem Zeitpunkt – noch nicht Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft zu verstehen. Sein Weg führt ihn bald nach der Wende in den Westen. Seit 1993 sind die Stationen des Dichters Italien, wo er unter anderem an der Universität Turin Seminare über Klopstock hielt, Limburg an der Lahn und Schöppingen bei Münster, wohin es ihn im Zusammenhang mit Literaturstipendien verschlagen hat. Jetzt lebt er in Frankfurt am Main. In seiner Geburtsstadt Dresden fand er sich einmal als Gast wieder:
Die mehrmals geschleifte Stadt, die ich, als ich 1998 als Stadtschreiber dort gastierte, nicht mehr lieben lernte, weil ich sie nicht wiedererkannte und in ihr nicht mehr das Dresden wiederfand, das ich 1958 verlassen hatte.
Czechowski begleitet das Zeitgeschehen zwar schon lange mit Skepsis, aber nicht grundsätzlich als sich in individuelle Trauer zurückziehender Elegiker. Das melancholische Naturell des Dichters und seine Neigung zu elegischer Diktion sind unverkennbar, so verwundert es nicht, daß in der kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk die Frage nach der Funktion des Elegischen gestellt wird. Gerd Labroisse setzt sich in seinem gründlichen Aufsatz zur neueren Lyrik Czechowskis ab von der Einschätzung der ostdeutschen Literaturwissenschaftlerin Ursula Heukenkamp und Wolfgang Emmerichs, des westdeutschen Autors des KLG-Artikels über Czechowski (1989), die den Rückzug ins Privat-Alltägliche und den elegischen Tonfall der Gedichte, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erschienen sind, herausstellen bzw. beklagen. Czechowski sei „– wohl endgültig – ein elegischer Nonkonformist geworden, dessen Verse zwar noch nicht die Schwärze seines älteren Freundes und Fürsprechers Günter Kunert erreicht haben, aber sich ihr immer weiter annähern“, resümiert Emmerich. Demgegenüber betont Labroisse, „die Frage nach der lyrischen Präsentation ins Zentrum“ rückend, die konkret historische und gesellschaftsbezogene Dimension dieser neueren Gedichte Czechowskis und zeigt die kritische Haltung des Dichters am Beispiel von „In den Ruinenstädten des zweiten Weltkriegs“ auf:
Bei dem auf elegischen Duktus und Traurigkeit/Trauer festgelegten Czechowski werden Aussagen dieser Brisanz nicht registriert.
Was die weitere Entwicklung in den 90er Jahren betrifft, haben, so Labroisse, Czechowskis „Texte […] eher eine sarkastische als eine elegische Note. Hier schreib[e] ein sehr wacher, ein bei allem Einsetzen seiner Lebens- und Schreiberfahrungen doch distanzierter Beobachter, auch wenn bisweilen Erschrecken und Bitterkeit zu spüren ist darüber, daß weiterhin nicht gelernt wird aus Geschichte/Zeitgeschichte“. Emmerichs Einschätzung von Czechowskis lyrischem Werk ist übrigens keineswegs grundsätzlich abwertend gewesen. In der erweiterten Neuausgabe seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR von 1996 betont Emmerich, daß „Czechowskis furor melancholicus […] weil eher beiläufig, lapidar und leise, nie aufgesetzt, nie wehleidig“ wirke und Czechowski „auch in und nach der Wende […] die wichtige lyrische Stimme geblieben [sei], die er vorher schon war“. Überhaupt schließen Trauer und elegischer Tonfall kritische Brisanz der Zeitbetrachtung nicht aus, im Gegenteil, oft bedingen sie sich gegenseitig.
Die ihm zugesprochene Klassifizierung als „Landschafter“ aus dem Kreis der „Sächsischen Dichterschule“ aufgreifend und prinzipiell akzeptierend, fragt sich der Dichter in seiner Rede zur Verleihung des Preises als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim am 31. August 1990, ob diese Landschaft „vielleicht nur die Folie“ gewesen sei, „auf der das geschrieben wurde, was aus der Spannung von erlebtem Leben und der geheimen Utopie von einem anderen ,besseren‘ Land“ entstanden sei. Selbst sein „Grunderlebnis“ der Zerstörung Dresdens, das seine „Weltanschauung und [s]ein Schreiben geprägt hat“, habe „nicht unbeeinträchtigt von ideologischen Prämissen in [s]ein Bewußtsein Eingang gefunden“:
Deshalb, so meine ich, wird kaum ein Schriftsteller der DDR – also auch ich nicht – sozusagen nahtlos aus seiner Vergangenheit heraustreten können. Die Stigmatisierungen, die das Leben im Sozialismus ihren Autoren hinterlassen hat, die es nicht vorzogen, dieses Land zu verlassen, oder die vertrieben wurden, sind ein literarisches Thema für sich. Ob Trauerarbeit oder Verdrängung – die „Idylle“, die sich in der DDR mancherorts konserviert haben soll, ist nur die Kehrseite wirtschaftlicher Zurückgebliebenheit und der Landschaften in und um Bitterfeld, Espenhain, Meuselwitz oder Leuna. Lyrik, wie sie bisher in der DDR geschrieben wurde, und die auch in der BRD Erfolg gehabt hat, wird so nicht mehr möglich sein. Die Vereinigung und die mit ihr nicht ausbleibenden Enttäuschungen werden Erschütterungen auslösen und Spannungen entstehen lassen, die auch in Gedichten ausgetragen werden. Was hinter uns liegt, glauben wir zu wissen. Was vor uns liegt, wird uns unbekannt bleiben, bis wir es hinter uns haben. Zwischen Wissen und Ahnung könnte die Literatur eine Leerstelle ausfüllen.
In Nachtspur hat Czechowski unter dem Titel „Die überstandene Wende“ eine kleine Passage aus dieser Rede als fünfzeiliges Gedicht präsentiert:
Was hinter uns liegt,
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es
Hinter uns haben.
Das Gedicht „Historische Reminiszenz“, mit genauer Angabe der Entstehung am 19. Dezember 1989, d.h. dem Tag von Bundeskanzler Helmut Kohls Besuch in Dresden, thematisiert die Täuschung und Enttäuschung durch die Machthaber des DDR-Regimes, sowie die Skepsis gegenüber den neuen Versprechungen:
Was hat man uns nicht alles eingeredet:
Daß uns Monokulturen bekömmlicher sein sollen
Als Vielfalt und daß die Versteppung der Landschaft
Erst deren wahre Schönheit
Uns offenbare. Heute, so scheint es,
Ist auch so ein Tag, wo man uns einreden will:
Nun wird alles gut!
Das Gedicht endet mit den Zeilen:
Die Dresdner Bank –
Dank sei den eisernen Kanzlern –
Zieht Bilanz in der dreimal zerstörten
Stadt an der Elbe, während das Volk
Sich zu zerstreiten beginnt um seinen Anteil
An einer Ordnung, von der niemand weiß,
Wer nun den Kopf hinhalten wird
Für die Vergangenheit des immerwährenden
Historischen Augenblicks. Demokratischer Aufbruch
Ins Niemandsland zwischen
Gestern und Morgen.
Czechowskis Kommentare zur Wende schwanken zwischen solchem melancholischen Lamento und geschichtsfatalistischem Sarkasmus, was ihn jedoch nicht davon abhält, die Vergangenheit als das ihm Bleibende zu betrachten. In „Dunkler Tag“, dem ersten Text des Bandes, der anläßlich des Gedenktages an die Zerstörung Dresdens vor 45 Jahren am 13. Februar 1990 entstanden ist, heißt es:
Was bleibt, ist meine Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit.
In dem Gedicht „Die Fähre“ (1988) findet sich die Frage:
Was ist denn geblieben
Außer den Trümmern, die mich umgeben, mir
Dem gebrannten Kind einer Zeit,
Die ich Vergangenheit nenne?
In dem Titeltext „Nachtspur“ führt der Dichter weiter aus, was er unter „Vergangenheit“ versteht und in welchem Sinne sie für ihn Bedeutung behält:
Der Verfall, der mich umgab und den ich beschrieb, gehört bereits zur Vergangenheit. Eigentlich müßte ich doch gerade über diese schmerzlose Ablösung von mir selbst Trauer empfinden. Aber ich fühle mich gleichgültig und kalt. Interessant ist mir die Vergangenheit nur als Landschaft der „Seele“. Doch die spannt nicht, wie bei Eichendorff, ihre Flügel aus…
Als Stoff seines Schreibens bezeichnet der Dichter dann im selben Text selbstironisch auch „das endgültig Vergangene“. Angesichts des bevorstehenden 3. Oktober 1990, des offiziellen Vereinigungstages oder, wie Czechowski sagt, „des Anschlusses der DDR an die BRD“ greift Czechowski zu einem Vers Stephan Hermlins aus den Jahren der französischen Résistance, um seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen:
Die Jahre gehen, die Zeit der Wunder ist vorbei.
Czechowski trauert nicht nostalgisch verlorenen DDR-Realitäten nach, sondern dem Verlust des bei aller Skepsis, Resignation und Melancholie vorhandenen Utopie-Potentials. Endgültig vergangen ist der Alptraum der Verfallserscheinungen des realen Sozialismus, aber auch die Hoffnung, wie schwach auch immer sie in den achtziger Jahren wurde, die er auf das Gegen-die-Verhältnisse-Anschreiben setzte, das Gedichte-Schreiben „[g]egen die Vergeblichkeit“, wie es in dem Gedicht „Sic transit gloria mundi“ heißt.
Am Anfang des Bandes Einmischungen (2000), in dem Essays und verschiedene andere Prosatexte von 1966 bis 1999 gesammelt sind, steht der autobiographische Text „Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich“, in dem Czechowski eindringlich die Frage nach seiner Identität stellt:
War ich, so frage ich mich, überhaupt jemals mit mir identisch? Oder habe ich die Identität eines DDR-Bürgers inzwischen mit der eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland vertauscht?
So etwas wie Identität kann sich für den Dichter nur in der Sprache, im Schreiben herstellen:
Also erfinde ich meine Identität! – Ich sollte mich, sagte ich mir, einem Stoff zuwenden, den ich zu beherrschen glaube, gleichgültig, ob dieser Glaube nun ein Irrglaube ist oder nicht. Ich weiß ja, daß einem, der das Leben schreibend zu bestehen hat, nichts anderes übrig bleibt, als auf das hin zu leben, was als Text vielleicht die physische Existenz überstehen wird.
Diese Identitäts(er)findung vollzieht sich in besonderem Maße im lyrischen Genre. „Meine innere Biographie habe ich in meinen Gedichten niedergelegt“, erklärt Czechowski, und besteht, obwohl wiederholt auf die Nähe seiner Gedanken- und Gelegenheitslyrik zur Prosa hingewiesen wurde, darauf, daß „die Preisgabe des Ichs im Gedicht […] eine andere als die [sei], welche die Prosa oder der Essay hervorruft“. Es fällt allerdings auf, daß der Prosatext „Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich“ selbst zum Beispiel nicht nur eigene Gedichte zitiert, sondern gelegentlich geradezu die Grenzen der Genres überspielt, indem die Prosa in freirhythmische Lyrik übergeht. Die Nähe der beiden Ausdrucksformen Gedicht und Klartext sprechender Essay zeigt sich, wie das obige kleine Beispiel zeigt, gelegentlich auch darin, daß in beiden Formen nicht nur dieselben Lebenserfahrungen, Reisebeobachtungen und Gedanken thematisiert werden, sondern auch sprachliche Entsprechungen bestehen. In diesem Nebeneinander der Darstellungen kommt dem Gedicht mit seinen Möglichkeiten der Verdichtung und vielschichtigen Fiktionalisierung sicherlich die größere Bedeutung zu.
1997 erschien der Lyrikband Wüste Mark Kolmen, dessen neue Gedichte Reiseindrücke aus Italien, Westfalen und Sachsen verarbeiten. Zu den literarischen Begleitern des lyrischen Ich gehören Dante, Jan Skácel, Anna Achmatova, Ossip Mandelstam und Hölderlin, sowie die verstorbenen DDR-Schriftsteller Erich Arendt, Franz Fühmann und Uwe Greßmann. Wie Czechowskis jüngere ostdeutsche Dichterkollegin Kerstin Hensel beobachtet, ist der Band „von einer Art ewiger Heimkehr nach Sachsen“ getragen, aber vielleicht auch gleichzeitig einer „Wegkehr“ von den Gegenden der Heimat. Hensel nennt Czechowski treffend einen „Spaziergänger“, und zwar in „der Wirklichkeit wie in der Dichtung“. „Spaziergang“ ist auch der Titel eines Gedichtes in der Sammlung, das einfach die melancholischen Gedanken des vereinsamten Dichters wiedergibt, wobei in der Ansammlung von Klagen eine leise selbstironische Note mitschwingt:
Wenn ich das alles
Zu Ende denke, dachte ich noch,
Während ich, verschollen
Wie andre Verschollne,
Durch den grauen
Winterwald ging, Italien
Im Rücken, vor mir
Der Abgrund: Bin ich
Der Welt abhanden
Gekommen oder
Sie mir?
Der lockere Stil und die assoziative Verkettung von Beobachtung und Reflexion stießen in der westdeutschen Kritik auch auf Unverständnis. Konrad Franke zum Beispiel spricht vom „unglücklichen Glücksucher Heinz Czechowski“, der mit diesem Band „eine kaum bearbeitete Materialsammlung“ vorgelegt habe. Der Eindruck des schnell Skizzierten, Vorläufigen oder auch Bruchstückhaften entsteht sicher bei manchen der Gedichte. Diese Neigung zum Fragmentarischen findet sich auch häufig im modernen Tagebuch, das dem unbehausten Dichter als eine Art „Logbuch im Labyrinth“ dient.
Der Titel des Bandes stammt aus dem mehrstrophigen Gedicht „Entwurf einer Biografie“ und bezieht sich auf eine 1813 durch Truppen Napoleons zerstörte wüste Mark in der Nähe von Leipzig. Das Gedicht endet mit einer paradoxen Geschichtsbetrachtung, indem die Rückbesinnung auf die Geschichte der heimatlichen Landschaft als Aufbruch des Dichters verstanden wird:
Die Geschichte hat uns überholt,
Grinsende Radfahrer
Auf der Straße nach Baalsdorf. Letzter Gruß
Aus der Flasche. Einziger Ort
Zum Aufbruch in die Vergangenheit:
Wüste Mark Kolmen.
Eines der schönsten Gedichte der Sammlung nimmt seinen Ausgang von der Wahrnehmung des bitteren Geschmacks einer Orange, die in einer dadurch ausgelösten Reminiszenz an die Zeit der Kindheit das Bild des Geschmacksinns weiterführt und mit anderen erinnerten Sinneswahrnehmungen verknüpft. Das Kind hört schreckliche Geschichten vom Krieg und sieht den Hitlergruß des Blockwarts. Es entsteht ein eindringliches Stück erlebte Geschichte, das die Greuel der Ermordung galizischer Juden, die Zwangsarbeit russischer Frauen und die Schrecken der Bombennacht in Dresden vor Augen führt:
Die Bitterkeit auf meiner Zunge
Rührt nicht von der Orange, die ich soeben verzehrte.
Es ist eine Bitterkeit, die nicht vergeht. Für sie
Habe ich keinen Begriff. Ich glaube,
Ich hab sie als Kind während des Krieges
Mit einer Handvoll Schnee,
Die meinen Durst stillen sollte,
Zu mir genommen. Es gab
Keine Märchen, aber es war damals immer
Ein großes Geflüster um mich: die Erwachsenen
Erzählten sich hinter vorgehaltenen Händen
Vom Kriege, vom damals gewesenen Kriege,
Von Grünen Minnas und von Soldaten,
Die beinlos aus Stalingrad wiederkehrten.
Ich sah auch den Hitlergruß
Des Blockwarts und hörte,
Während ich mir das Haar schneiden ließ,
Von dem an die Wand spritzenden Blut
Galizischer Juden. Der schier endlose Zug
Der Russinnen abends den Wilden-Mann-Berg empor,
Wenn sie vom Goehle-Werk
Sich in ihr Lager zurückschleppten,
Und schließlich die Panjewagen,
Beladen mit den Toten des Bombenangriffs.
Mit der Reflexion des rückblickenden Dichters kehrt das Gedicht am Schluß zu der Schnee-Metapher zurück, die die Permanenz dieser Kindheitserlebnisse in der Biographie des Dichters ebenso erfaßt wie den unstillbaren Drang, sich im Schreiben der eigenen Biographie und Geschichte zu vergewissern:
Das alles muß in dieser Handvoll
Schnee gewesen sein, die ich mir
In den Mund steckte, um meinen Durst
Zu stillen, diesen kindlichen Durst,
Der mich nie verließ, und von dem
Diese Bitterkeit auf der Zunge zurückblieb.
1998 veröffentlichte Czechowski seinen Band Mein westfälischer Frieden. In den Rezensionen wird wiederholt der diaristische Charakter der prosanahen Gedichte hervorgehoben. Jürgen Wallmann spricht von „offen autobiographischen“ Gedichten, die „eine Art lyrisches Tagebuch“ ergeben, Harald Hartung von „tagebuchhafte[n] Notate[n]“ und Jürgen Verdofsky findet in dem Buch „[f]ast ein tagebuchähnliches Selbstvergewissern“. Ins tagebuchähnliche Selbstgespräch sind dabei immer wieder auch poetologische Betrachtungen und literarische Anspielungen in Form von Selbstzitaten und Zwiesprache mit vergangenen und zeitgenössischen Dichtern verwoben. Ein Beispiel sei vollständig angeführt:
Gewaschen. Rasiert. Die Angst vor dem Tag
Heruntergeschluckt mit dem Trost
Des schwarzen Kaffees. Was
Ist noch zu tun? Vor allem: die Fassung bewahren,
Immer wieder versuchen,
Das Leben zu überlisten. Ach,
Diese winzigen Beiträge
Zu einer Phänomenologie
Des Bewußtseins: alle Versuche
Sind schon gescheitert,
Bevor sie begannen. Wie lange
Bin ich nicht durch den Regen gegangen? Hier
Gibt es die Bäume nicht mehr,
Die zu mir sprachen
Vor meinem Fenster aufs Hofgeviert. Auch
Wenn die Wunder ausbleiben,
Hat die Übelkeit in der Magengrube
In mir Stimme und Sitz, vergeblich
Versuche ich, mir ein Gebäude
Aus Lügen zu baun, der Selbsttrost
Ist noch immer gebührenfrei, alles andere
Kostet mich
Zopf und Kragen.
Im Eingangsgedicht „Da sitze ich nun mit meinen alten Scharteken“ der kleinen Sammlung Seumes Brille. Gedichte aus der Schöppinger Chronik (1999/2000), nicht zu verwechseln mit der Ausgabe gleichen Titels im Grupello Verlag (2002), mit der es kaum Überlappungen gibt, klagt sich das Ich an, es unterlassen zu haben, in der DDR „alte Nazis, / Als Kommunisten verkleidet“ öffentlich bloßzustellen und überhaupt „[zu] sprechen, wie mir zumute gewesen“. Das Gedicht endet mit der resignativen Erkenntnis, daß damit schon früh seine Selbstfindung zum Scheitern verurteilt war:
Also war ich
Verloren schon, als ich an mich noch glaubte oder glaubte,
Noch an mich zu glauben…
Es ist immer dasselbe,
Was mich behinderte, zu mir zu kommen
Sicher greift Czechowski hier ironisch das vielzitierte Wort vom Zusichselberkommen von Johannes R. Becher auf, das Christa Wolf ihrem 1968 erschienenen Roman Nachdenken über Christa T. als Motto voranstellte.
In „Abgebrochene Gespräche“ werden Momente aus dem Alltag des Lebens in Schöppingen festgehalten, vom durch zu schweres Essen verursachten Magendrücken zum Schreien der Schweine, die ins Schlachthaus gefahren werden. Das Ich denkt auch hier über seine „intellektuelle Biografie“ nach:
Wird von solchen Koordinaten gezeichnet
Der Rest meines Lebens vergehn?
Flüchtig, aber nicht ohne Schrecken,
Denk ich an das,
Was ich meine intellektuelle Biografie
Nennen könnte: die Namen der Paten,
Die mir Gevatter standen,
Will ich hier nicht nennen. Aber sie alle
Waren die Partner
Abgebrochener Gespräche. Der Tod
Hat Schneisen geschlagen, durch die ich
Nicht einmal voller Entsetzen gehe. Andere
Haben mir den Stuhl
Vor die Türe gesetzt.
In der Form des prosanahen Gedichtes werden Momentaufnahmen aus dem Alltag des Lebens in Schöppingen nicht nur mit solchen autobiographischen Erinnerungen und Reflexionen verknüpft, sondern auch mit poetologischen Betrachtungen über das Gedicht als Gefäß für Biographie:
Eigentlich
Ließe sich alles, was andere
In langen Biografien verankerten,
In einem Gedicht sagen
Wie es in dem resignativen Gedicht „Der Dichter“ heißt, ist sowieso seine „ganze Biografie / Aufs Maß des Unerheblichen zusammengeschrumpft. Auf Christa Wolfs Frage „Was bleibt?“ wisse er auch keine Antwort. Das Gedicht schließt selbstironisch:
Und ziehe es vor,
Meinen bisherigen Ungereimtheiten
Eine weitre
Hinzuzugesellen…
In „Ich saß auf meinem kleinen Balkon und sah“ gedenkt das Ich „der Freunde, / Die nichts bessres zu tun hatten, / Als zu schweigen, während ich sprach, und dies / Mitzuteiln einer Akte“. Czechowski grenzt sich ganz bewußt von der autobiographischen Selbstrechtfertigungsliteratur mancher seiner Dichterkollegen ab, die seit der Wende erschienen ist.
Das Grundgefühl der Einsamkeit, des Nichtheimischwerdens in der westfälischen Provinz und der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit durchzieht die Gedichte dieser kleinen „Chronik“. Czechowski zitiert frei aus Hugo von Hofmannsthals „Chandos-Brief“, um seinem Lebensekel metaphorischen Ausdruck zu verleihen. Wie schon im Falle von Hofmannsthals Sprachkrise signalisiert sich hier aber paradoxerweise nicht das Ende des Schreibens. Thema des kleinen Gedichtes ist die schmerzliche Trennung von Leben und Schreiben, das Scheitern der Sinnsuche im Leben, im Alltag. Für den Überdruß an den Wörtern borgt sich der Dichter im Jahr 2000 die Bildersprache des literarischen Vorbilds aus der vorigen Jahrhundertwende. Wie in Hofmannsthals Text kleidet sich die Sprachkrise somit in historisches Gewand. Der Dichter setzt sich eine Maske auf und schreibt weiter:
Leben, das wäre: ein anderes Ich zu besetzen,
Eines, das weiß, wohin der Weg geht.
Das wäre: dem zu entsagen, was nichts mehr bringt,
Dem Ekel des Alltags entkommen, den modrigen Pilzen,
Den Wörtern, dem Leichengeschmack auf der Zunge.
In dem Aufsatz „Im schalltoten Raum. Dichter im Zeitenwechsel“ (1998) schreibt Czechowski:
Heute versuche ich, mir meinen Westfälischen Frieden zu erschreiben: ein kleiner Ort im Münsterland, stigmatisiert durch die „Idiotie des Landlebens“, muß mir vorläufig ersetzen, was ich durch bestimmte Fügungen meiner Biographie verloren habe. Daß sich das an der Schwelle des Alters vollzieht, eine neue „Landnahme“ daher nur noch bedingt möglich erscheint, gibt meinen Versuchen mitunter den Anstrich der Vergeblichkeit. Das, was mir durch den Kopf schießt, ist an dieser Stelle noch kein Thema: Einsamkeit, Alter, Krankheit, Tod, Selbstmitleid sind nur Wörter, zwischen und hinter denen sich eine Existenz verbirgt, die von Aussichtslosigkeit gekennzeichnet ist. Aber es ist, anders gesagt, nicht die Aussichtslosigkeit meines lyrischen Ichs, sondern die, hinter der noch immer Schopenhauers Verneinung des Lebens steht.
Und so Czechowski weiter:
Dem Leben an sich ist kein Sinn mehr in Hinsicht auf eine wie auch immer geartete Utopie abzugewinnen. Ob Vormoderne, Moderne, Postmoderne oder Post-Postmoderne – Gedichte entstehen noch immer aus dem Zusammenstoß des Ichs mit den Tatsachen.
In dem Gedicht „Auf einer Brücke über die Parthe“ folgt das Ich willig dem großen Vorgänger Gottsched nach Leipzig, einer Stadt, die immer noch „[w]ie ein Felsen: unbezwingbar und / Gegenwärtig“ in das Leben des Dichters ragt, den es nach der Wende nach Hessen und Westfalen verschlagen hat. In den 2002 bei Grupello erschienenen jüngsten Lyrikband hat Czechowski dieses Gedicht als einziges außer dem Titelgedicht „Seumes Brille“ mit aufgenommen. Hier folgt ein weiteres, das sich mit Gottsched beschäftigt und einigen Aufschluß über die Bedeutung gibt, die der Rationalist aus dem 18. Jahrhundert für Czechowski hat. Das Gedicht beginnt mit einem Hinweis auf eine Anekdote aus Goethes Dichtung und Wahrheit, die Czechowski auch in seinem Aufsatz „Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich“ wiedergibt:
Man weiß ja, und wenn man es noch nicht weiß,
Kann man es lesen: Gottsched
Trug eine Perücke, der Aufklärer in mir
Steht Lessing näher, aber ich akzeptiere
Die Größe des Mannes, der Leipzig beherrschte,
Als wär ich
Sein Zeitgenosse und unterdrückte
In mir die Empörung
Über den Rationalismus,
Der den mir lieben
Hanswurst von der Bühne vertrieb.
Die historische Figur und die ästhetische Auseinandersetzung aus der Literaturgeschichte dienen als Folie für den autobiographischen Rückblick des Dichters, der in den folgenden Strophen seine Abnabelung von der ideologischen Vorgabe, wie sie in den frühen Jahren der DDR vor allem der übermächtige Kulturminister Johannes R. Becher verkörperte, und den eigenen widersprüchlichen kreativen Weg umreißt. Mit dem Namen Becher verknüpft ist natürlich auch die Dichterschule des Leipziger Instituts für Literatur, an dem Czechowski 1958 bis 1961 studierte. Das geschätzte Vorbild wurde hier allerdings Georg Maurer, der einer ganzen Dichtergeneration auf den Weg geholfen hat. Die Metapher der brennenden Stadt evoziert bei Czechowski auch immer das Kindheitserlebnis der Bombardierung Dresdens, das ihn entscheidend geprägt hat und nie losläßt:
DENN AUCH ICH BIN DAS OPFER
Einer Kadettenanstalt stand still
Vor dem großen Johannes R. Becher.
Ach, auch ich
Bin aus der Bahn geworfen,
Die ich beschritt, als ich ging
Durch das Bühnenportal zur Feier des Tages.
Als ich erschrak und zurückblickte,
Sah ich den winkenden Mann,
Der mich, vergeblich, zurückrufen wollte.
Ich ging meine Bahn wie kein andrer.
Denn es ist kein Geheimnis,
Daß ein jeglicher nur einen Weg
Zu beschreiten hat: seinen. Jeder Tod
Sucht seinen Leib: Welch ein Gewimmel
Im Schauhaus!
Einer
Bläst die Trompete, ein andrer
Schlägt auf die Pauke. Herrlich
Wölbt sich der Hügel, die Pracht
Eines vergangnen Jahrhunderts
Leuchtet noch einmal: die
Brennende Stadt.
In seinem Aufsatz „Dreimal verfluchte DDR“ von 1990 spricht Czechowski davon, daß er, wie die „meisten Intellektuellen der DDR […] Opfer einer lähmenden Halbbildung“ sei:
Ungenügend mit Welterfahrung ausgestattet, behütet von der Dunstglocke des real existierenden Sozialismus, stehen wir jetzt vor dem Scherbenhaufen unserer literarischen Existenz.
Von ehemaligen Weggenossen wie zum Beispiel Volker Braun, der sich nicht weniger als Czechowski, wenn auch seinem Naturell gemäß auf ganz andere Art, mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit plagt, hat Czechowski sich völlig entfremdet. Angesichts der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 an Volker Braun läßt er sich gar zu gehässigen Attacken hinreißen. In grober Vereinfachung des komplexen literarischen und essayistischen Werkes Brauns wirft er dem prominenten Dichterkollegen vor, zu DDR-Zeiten „am Strick der Treue“ gehangen zu haben und jetzt seine Rolle als sich bis zum Ende prinzipiell für den DDR-Staat abmühender Intellektueller zu verfälschen und den Zusammenbruch der DDR unaufrichtig zu kommentieren. In einem fünfzeiligen Gedicht adressiert er seinen jüngeren Dresdener Landsmann Thomas Rosenlöcher:
Du gehst mir auf die Nerven, Ostbarbar,
Mit deinen Foto-Posen, deinem Grinsen.
Mitten im Ostgezeter gingen wir
Einst ein gemeinsames Stück
Über den Bruchacker nahe bei Dresden
Daß sich auch hinter manchen humoristischen Texten Rosenlöchers schmerzliche Selbstbefragung verbirgt, scheint Czechowski in seiner völligen Desillusionierung und offensichtlich auch persönlichen Verletztheit zu entgehen. Verständlich allerdings, daß den zwar immer mehr zu ironischer und sarkastischer Geschichts- und Selbstbetrachtung neigenden, aber doch tiefernsten – um nicht zu sagen: humorlosen – Dichter Rosenlöchers clowneske Selbstinszenierung eher abstößt.
In der fast zwölfseitigen „Sauerländischen Elegie“ (1999), einer Art Brechtscher Ballade vom armen H. C., allerdings durchgehend in Distichen gehalten, erzählt Czechowski von seinen bisherigen Reisen und Lebensstationen im westlichen Exil. „Ferner als Luxembourg-Stadt oder Brüssel sind jetzt“, so klagt der Dichter, „Dresden, Halle und Leipzig. Der einst mein Freund war, verriet mich: / Selbst die Gespräche beim Wein bis in den Morgen hinein – / Mit den besten Empfehlungen anvertraut einer Akte“. In der Gedichtgruppe unter dem Titel „Inferno“, im Stil der Mittelachsengedichte von Arno Holz verfaßt, bezeichnet der Dichter das Exil, in dem er sich sieht, als eine weitere Überlebensmöglichkeit:
Auch das Exil
Ist nichts,
als eine der Möglichkeiten
zu überleben.
Verzweifelt klammert sich das Ich dabei immer wieder an das Schreiben als einzig sinnvolle Tätigkeit in seinem Leben, wenn es auch jegliche Hoffnung auf eine Antwort verloren hat und Schreiben als eine Art Selbstgespräch auffaßt. Im Schreiben erfaßt und vergewissert sich das Ich der Landschaften und Orte, in denen es sich – oft mehr oder weniger zufällig – aufhält, sieht sie in ihrer Geschichtlichkeit und verfolgt gern die Spuren der mit ihnen verbundenen längst verstorbenen Dichterkollegen, sich entweder direkt auf sie beziehend, wie zum Beispiel im Falle Dantes, Hölderlins oder der Droste-Hülshoff, oder ihr Werk durch gelegentliche markierte oder versteckte Zitate evozierend. Die Gedichte ähneln dabei oft Tagebuchaufzeichnungen, in denen die Beobachtungen des Spaziergängers oder Reisenden mit Reminiszenzen und Reflexionen angereichert sind:
Man muß schreiben und schreiben, gleichgültig,
Ob aus der Leere heraus oder dem Eindruck
Falscher Empörung, Versuch, dich zu konzentrieren:
Wie sich dein Leben verlaufen hat, so
Findest du dich zwischen Trümmern.
Du bekommst keine Antworten mehr,
Schreib oder schreib nicht
Mit dem Blick auf die Mitwelt. Der Text
Ist nicht mehr und nicht weniger,
Als ein Gespräch mit dir selbst, alles andere
Gleicht der Verleumdung, die du dir
Zuschreiben kannst. Weniger
Wäre mehr gewesen. Ja, du erinnerst dich
An die Ausfahrten aus großen Städten, vorbei
An Autofriedhöfen, Industriebrachen: schon damals
Fühltest du dich in der Opferrolle, die gewendete Zeit
War dir unheimlich, aber der Sprechblasenpolitik
War nur zu begegnen durch Arbeit.
Welches Gesetz hinter dem Zufall steht, fragtest du dich
Angesichts deiner Biographie, um
Dem Nichts zu entkommen, das sich
Auftrat wie die Trümmerlandschaft, die sich
Erhalten hatte über die Jahre.
[…]
Nein, du kommst nicht los
Von deiner Vergangenheit: Immer wieder
Reihen sich Bilder an Bilder, wo du auch bist. Vielleicht
Gab es Oasen des Glücks, kleine Inseln,
Von denen du sprachst, als du noch
An die Zukunft glaubtest, die man versprach.
[…]
Du schreibst und du schreibst,
Um den Preis des flüchtig Vergehenden. Unwiderruflich
Und umstandslos fändest du immer noch Wörter,
Geeignet, dein selbstloses Sein zu beschreiben:
Am Bettelstab der Gewohnheit bist du gegangen:
Stiftungen, Stipendien und Preise. Wo aber war er, dein Platz
In deinen Jahren? Heute, Gestern und Morgen
Sind Synonyme, an denen vergeblich du festmachtest,
Was dich beunruhigte, jetzt, wo du dir über die Schulter siehst,
Erkennst du den überschrittenen Abgrund. Denn die Sache selbst
Findet im Gegensatz zu deinem Leben
Kein Ende. Der du deinen Lehrern entkamst
Und der Festlegung auf eine Schule, jetzt
Hast du erreicht, was du wolltest: Du bist in der Kälte
Des Universums, die dich umgibt. Was außer dir ist,
Betrifft dich nicht mehr, dein Zustand
Entspricht deinem Zustand. In diesem
Gleichgewicht kannst bleiben, solang du noch lebst…
Das lyrische Ich hat den Dialog mit seiner Umwelt aufgegeben und adressiert nur noch sich selbst. Die autobiographische Selbstvergewisserung in der Form des prosanahen Gedichtes, das Czechowski selbst als Tagebuchersatz versteht, hat für den Dichter sicher auch eine Art therapeutische Funktion. Wie Peter Boerner am Beispiel Franz Kafkas aufzeigt, löste sich der Dichter „im Tagebuch von der Not seiner Alpträume, bekannte hier immer wieder die ,schreckliche Unsicherheit‘ seiner ,innern Existenz‘“:
Wie der Schiffbrüchige an die Planke klammerte er sich an seine täglichen Aufzeichnungen und suchte in ihnen den Zusammenhang des Daseins, der ihm im realen Erlebnis ständig zu entgleiten drohte: „Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es“ (16. Dez. 1910).
Der Lyriker Czechowski findet ähnlich seinen Halt im Schreiben, paradoxerweise im immer wieder neu ansetzenden „Aufbruch in die Vergangenheit“.
ZWEITE ODE AN CZECHOWSKI
Auch über Lebende
Wird es doch heißen
Müssen: wie gut
Daß Der auf der Erde gewesen ist.
Traust Du dem Frieden?
Ich sage
Besser sogleich über Dich:
Gut, daß er da ist.
Zu Deinem Lobe
In höchsten Tönen
Vier Wörter mit i:
Er isset, trinket, dichtet und fickt –
Wenn aus dem Fenster
Flüchtig
Anderthalb Takte
Hat er das ganze
Wider sich streitende Stück
Hält er zusammen
Schlottern ihm die Gelenke auch
Und die Seele flattert
Und unsre Freunde
Die hin sind –
Hier das Nordlicht
Dort das Kreuz des Südens –
Ist es woanders
Anders?
Ist es hier denn
Anders als anderswo?
All
Gemeine Allgemeine Krise
Vom scheiternden Schiff
Die scheiternden Schiffe
Betrachten-
Ja! darum
Leiden, Du mußt nur die Hälfte sehn
Menschen Symmetrisches:
Streu Deinen Samen
Sagt ich; wenige Jahre, und
Meine Söhne
Schießen einander
Karl Mickel
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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