– Zu Helga M. Novaks Gedicht „Tschechow nach Sachalin“ aus Helga M. Novak: Legende Transsib. –
HELGA M. NOVAK
Tschechow nach Sachalin
als Tschechow sich auf den Weg begab
blühten bei ihm zu Hause die Maiglocken
der Flieder und das Tränende Herz
noch betäubt von Akazienduft geriet er
von Tjumen nach Tomsk am Ende der Schienen-
strecke in kahle Wälder die Seen vereist
Schnepfen Wildenten und wilde Gänse
Schwäne zogen mit und ein Kranichpaar
1890 auf der uralten Straße nach Sachalin
Steilufer Weiden gichtknotige Äste
Möwenflügelschlag wo sie bloß das viele
Fett herholen gegen den stillschreienden
maßlosen baumaufreißenden Frost
dies Wegstück ist es vielleicht gewesen
wo Tschechow rumpelnd ungefedert stöhnend
einen einsamen Mann überholte Bastschuhe
Fußlappen dünne Mütze ,ein unnützer Mensch‘
mit nichts als zwei Violinen auf dem Rücken
Dieses Gedicht steht in Helga M. Novaks poetischem Zyklus Legende Transsib. Sie schrieb an ihm zur Vorbereitung einer Reise nach China, die sie mit der Transsibirischen Eisenbahn machen wollte, 1985. Sie reiste, aber nicht mit der Transsib; dafür bekam sie kein Visum; denn neunzehn Jahre zuvor hatte ihr die DDR die Staatsbürgerschaft aberkannt. Auch solche Erfahrungen, deren Folgen für viele auf schrecklichere Weise „transsibirisch“ wurden, bezeugen ihre Gedichte: eine „Geistreise“ (so nannte der Barockdichter Quirinus Kuhlmann seine topographisch real phantasierten Reisen ins heilige Jerusalem), die in Räume und Zeiten führt, zu denen die zwischen 1891 und 1906 erbaute Transsibirische Eisenbahn nie gelangt. In der sitzt man nämlich, so meine eigene sechstägige Erfahrung aus dem April 1977, bei 28 Grad Wärme hinter Fenstern, die nicht zu öffnen sind, während draußen bei 20 Grad Kälte Millionen Birken vorbeirauschen. Man hat viel Zeit für Tee und die Lektüre dicker russischer Romane.
Auch Geistreisen halten sich an Realien. Sie konzentrieren konkretes Material. Seinen realen Phantasieort hat Helga M. Novaks Gedicht in einem Pferdewagen, der im Mai 1890 von Tjumen, dem damaligen Endpunkt der Eisenbahn östlich des Ural, durch Sibirien holpert. Darin der Schriftsteller Anton Tschechow auf dem noch viertausend Kilometer langen Weg nach Sachalin, dem fernsten Deportationsort für Schwerverbrecher und andere Verbannte.
Tschechow reiste, um die „Kolonisation durch Verbrecher“ zu studieren, blieb etwas über drei Monate und schrieb den Erfahrungsbericht „Die Insel Sachalin“. Nebenbei entstand ein kleines Reise-Tagebuch: Aus Sibirien.
Helga M. Novaks Gedicht entwickelt die Momentaufnahme einer historischen Station auf dem langen Weg Tschechows: Er ist aufgebrochen von daheim aus einem blühenden Mai; nun, ins rauhe Sibirien geraten, wenden sich seine Sinne erinnernd zurück. Der Weg nach Sibirien führt in eine Ödnis, die auch den Wasservögeln ihr Element verwehrt. Die uralte Straße wird mit jedem Kilometer unwegsamer, die Kälte immer schärfer, so daß man nicht weiß, wie man da überhaupt existieren kann. Der rumpelnde Wagen führt den stöhnenden Tschechow unerbittlich aus der Zivilisation hinaus.
In dieser maßlos gequälten Landschaft überholt Tschechow einen armselig gekleideten „einsamen Mann“, der ihm – das ausgewiesene Zitat legt diese Zuordnung nahe – als „unnützer Mensch“ erscheint, „mit nichts als zwei Violinen auf dem Rücken“.
Das Zitat steht in Tchechows kleinem Reise-Tagebuch. Von dessen erster Seite bezieht das Gedicht sein Material:
Durch die Stille tönt plötzlich ein vertrauter melodischer Ruf, wir schauen nach oben und erblicken in geringer Höhe ein Kranichpaar, und irgendwie wird einem beklommen zumute. Da fliegen Wildgänse, da zieht ein Schwarm schöner, schneeweißer Schwäne dahin. Überall stöhnen Schnepfen und weinen Möwen…
Auch der „unnütze Mensch“ kommt da vor, einer, der seiner verarmten Verwandtschaft, die ihn ein Leben lang mitschleppte und nun ein neues Leben im freien Sibirien sucht, auf dem Wege dorthin hinterherwankt: ein kränklicher Liederjan, der die Kälte scheut, manchmal einem Schnäpschen nicht abgeneigt, schüchtern – und ein Leben lang unnütz und überflüssig, einer, der dummes Zeug schwätzte, „nur Violine spielen und mit den Kindern auf dem Ofen Schabernack treiben“ konnte. „Er spielte in der Schenke, auf Hochzeiten, auf dem Felde, ach, und wie er spielte!“ So wie nur ein Künstler spielt, ein sonst „unnützer Mensch“, der es zu nichts brachte als zu zwei Violinen: Meisterwerkzeugen seiner Kunst.
Und so kreuzt Helga M. Novak auf ihrer lyrischen Geistreise, die sie nach China bringen sollte, zwischen Tjumen und Tomsk immer wieder den Weg ihres Bruders im Geiste Anton Tschechow auf seiner Forschungsreise in die Strafkolonie Sachalins.
Heinz Ludwig Arnold, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998
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