– Zu Walter Werners Gedicht „Johannes Schlaf im Rhöner Amt Fischberg“ aus dem Band von Walter Werner: Die verführerischen Gedanken der Schmetterlinge. –
WALTER WERNER
Johannes Schlaf
im Rhöner Amt Fischberg
Ich komme mit meinem Einöd gut zurecht.
Der tröstlichen Taschenspielerin Natur
schwellen die grünen Bohnen in den Schoten,
und die Luft schwingt durch der Dachstube Oberlicht.
Nur die Sperlinge regen sich auf überm Sims.
Ich wandere mir rote Backen im Schlehendrift
der langen Berge, der Zäune Kerker ziehet hoch hinauf,
und dem Abendgewölk über dem Gläser rostet der Flügel.
Doch wozu die frommen Bilder und die vielen Worte,
die bunten Wucherblumen meiner Sprache,
die stille Feier der Künstler- und Kalenderjahre,
die mich noch streifen, und die uns müde machen.
Jede Lektüre-Begegnung zwischen Autor und Leser ist ein Abenteuer besonderer Art, und es gehört zur inneren Dynamik eines Gedichtes, daß es in der Aneignung durch verschiedene Individuen und Epochen ein vielfältiges Leben gewinnt. Der Autor, souverän in der Gestaltgebung seiner Poesie, muß dem Leser, da er sein Werk hinausschickt, einen breiten Spielraum von Eigenermessen zugestehen. Dies wird um so notwendiger sein, je mehr der Zugang durch Dunkelheiten erschwert ist und der Leser darauf angewiesen ist, sich selbst „einen Vers darauf zu machen“. Auch unter den Gedichten Walter Werners befinden sich solche, die sich dem Verständnis nicht leicht erschließen – wo der Autor von der besonderen formalen und verbalen Freizügigkeit des Lyrikers Gebrauch macht. Das hier betrachtete Gedicht gehört nicht zu diesen, und obwohl es sich durchaus einer modernen lyrischen Diktion bedient, ist es doch durchaus klar und durchsichtig in seiner Aussage. Es hält in seiner Art etwa die Mitte zwischen den einfachen und volksliedartigen, mit Reimen versehenen Versen, die sich unter Walter Werners frühen, und den (wenigen) „hermetischen“ Gestaltungen, die sich unter seinen späteren Gedichten finden. 1971 entstanden und erstmals in dem Auswahlband Die verführerischen Gedanken der Schmetterlinge (1979) veröffentlicht, wurde es in den neuen Gedichtband Ein Baum wächst durchs Gebirge mit übernommen – was auf die Wertschätzung deutet, die der Autor dem Text zuteil werden läßt. Während Werner seit langem freie Strophen bevorzugt, gibt er seinem Gedicht hier mit drei Vierzeilern den Habitus des Regelmäßigen.
Der Titel bezeichnet die dem Gedicht zugrunde liegende „biographische Situation“: Johannes Schlafs (wiederholten) Aufenthalt im Feldatal, wie ihn Walter Werner auch in seinem Prosaband Der Traum zu wandern schildert. Bei der ersten Zeile des Gedichtes: „Ich komme mit meinem Einöd gut zurecht“, mag man angesichts der hochsprachlich ungebräuchlichen maskulinen Form von „Einöde“ zunächst stutzen. Werner verwendet hier jedoch mit besonderem poetischen Gespür eine regionale Spracheigentümlichkeit zur Verstärkung des „Lokalkolorits“ – aber offenbar auch zur Kennzeichnung eines persönlichen Innenbefundes. Der Dichter Johannes Schlaf, der einst zu den bedeutendsten Vertretern des „konsequenten Naturalismus“ gehörte, vollzog in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, psychisch schwer erkrankt, des Lärms der Großstadt und des Literaturgezänks überdrüssig, eine Hinwendung zu einer naturseligen, lyrisch-dithyrambisch gefeierten Freilichtatmosphäre („Frühling“) und regressiven Kleinstadt-Idyllik („In Dingsda“) sowie einer impressionistischen Gestaltungsweise. Obwohl weiterhin in den verschiedensten Genres überaus produktiv, war er doch literarisch weitgehend ins Abseits geraten. Ludwig Bäte, Biograph Johannes Schlafs und eng mit ihm befreundet, schildert ihn als den Wanderer und Spaziergänger, der die stillen Reize einer Landschaft auch in ihren herben Zügen durchaus zu schätzen wußte und ihnen besonders zugetan war. Was bereits in der ersten Zeile des Wernerschen Gedichts anklingt und sich bis zur Strophe 2 fortsetzt, ist die Poesie einer Einsamkeits-Idylle, die jedoch durch das, was dann in der dritten Strophe an Resignation zur Aussage gelangt, ihre Relativierung findet. In einem Nachlaßtext Robert Musils fand sich – als spätbürgerliche Selbstdiagnose – die Definition des Dichters als eines Menschen, „dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zum Bewußtsein kommt“. Es hat Dichter gegeben, die ein gleicher Befund zur Konsequenz des Suizids führte, andere, die versucht haben, dieses nihilistische Bewußtsein durchzuhalten in einer rein ästhetischen Existenzweise. Denn was bot sich, fand man keinen Festpunkt in der deutlichen Parteinahme für progressive gesellschaftliche Kräfte, sonst noch an? Der Kierkegaardsche Sprung in den Glauben (den auch Johannes Schlaf später auf besondere Weise vollzog) oder die Flucht zu den idyllenhaften Reservaten und Relikten der Natur.
Aber auch Natur, so intakt sie sich noch vereinzelt finden mag und so „tröstlich“ sie auch dem Gewühl, Lärm und Hektik ausgesetzten Menschen begegnet, ist von Fraglichem nicht frei: die „Taschenspielerin“ in der zweiten Gedichtzeile könnte, für sich genommen, auf einen solchen Sachverhalt zielen. Der Mensch der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, der die Natur bewußt erlebt, naturwissenschaftlich geschult ihre trickreichen Mechanismen kennt, ihre schreckensvollen Bereiche, ihre oft empfundene kalte Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit, die im Widerspruch steht zu ihrer gefälligen und täuschenden Außenseite, befindet sich ja ihr gegenüber in einem zwiespältigen Verhältnis, das mehr oder weniger durch Zuwendung und Distanz bestimmt ist. Aber so wie der begonnene Gedanke im Enjambement in der dritten Zeile sich vollendet: „schwellen die grünen Bohnen in den Schoten“, ist doch wohl auch die Interpretation erlaubt, daß es sich hier um jene gutartige mütterliche Taschenspielerin handelt, die das täglich erfahrbare Wunder unerschöpflicher Fruchtbarkeit und Vielgestalt vollbringt. „Tröstlich“ und „Taschenspielerin“ würden dann also nicht in einem wie auch gearteten Gegensatz, sondern in Kongruenz stehen. Idylle als Hort einer heilen Welt und als tröstlich würde nicht durch unheilvolle Taschenspielereien beeinträchtigt. Die andere Möglichkeit der Auslegung (nach meinem Ermessen die wahrscheinlichere, zieht man Walter Werners Neigung in Betracht, den Wörtern einen Doppelsinn zu geben, und denkt man an seine Fähigkeit, dem sinnlich Faßbaren das beste abzugewinnen) würde dagegen an das zuerst Gesagte anknüpfen: Die „Taschenspielerin Natur“ wird zwar in ihrer Mehrdeutigkeit gesehen, aber der tröstliche Aspekt wird (wenn auch im Grunde illusionslos) im Hinblick auf ihre erfreulichere und liebenswürdigere Seite betont. Walter Werner hätte dann also die Ambivalenz, in der sich der heutige Mensch der Natur gegenüber befindet, gleicherweise treffend wie poetisch schön und nicht ohne Beigabe romantischer Ironie formuliert. Neben die gedankliche Aussage tritt in den zwei mittleren Zeilen der ersten Strophe die bildlich gegebene. Sie mag, ganz konkret, die Vorstellung eines Bauerngärtchens wecken, das sich vorm Haus befindet, und geht in der vierten Gedichtzeile („und die Luft schwingt durch der Dachstube Oberlicht“) über in ein mit wenigen Strichen angedeutetes und deshalb durch Assoziationen des Lesers sich vollendendes interieurhaftes Bild. Etwas von Spitzwegscher Dachstubenromantik (Werner bekennt ja in einem anderen Gedicht, daß die Lampe Spitzwegs in seinen Büchern brenne) lebt in diesem Bild. Selbstaussagen Werners zu Hilfe nehmend, gelangt man wohl auch zu dessen Beschreibung seines Zimmers im Sommerhaus (in „Der Traum zu wandern“), in der sich vieles von stiller und behaglicher Genügsamkeit, von Freude an alten, einfachen Dingen mitteilt – und auch etwas von gewiß nicht leicht errungener Gelassenheit, die sich in der zweiten Strophe in dem Satz bekundet:
Nur die Sperlinge regen sich auf überm Sims.
Doch ist die Idylle, die sich in diesem Gedicht darbietet, letztlich mehr naturhafter als interieur- und domizilhafter Art – bei einem passionierten Wanderer und Spaziergänger wie Johannes Schlaf (dem sein „lyrischer Biograph“ Walter Werner mit seinem Wandervorbild Seume darin durchaus nahesteht) gar nicht anders denkbar:
Ich wandere mir rote Backen im Schlehendrift der langen Berge.
Bewußte Fußgängerschaft und dynamisches Erleben der Natur kommen hier poetisch zu Bilde. Doch dem Wanderer, mag er Johannes Schlaf heißen oder Walter Werner, ist kein unbeeinträchtigter Naturgenuß beschieden, und sei es nur in dem, was seine Bewegungsfreiheit einengt, seine Erlebnismöglichkeit beschränkt und sein Auge provoziert:
der Zäune Kerker ziehet hoch hinauf
Auch in dieser Gedichtzeile wieder – hier beim Verb – die poetische Dienlichkeit und der Kunstgriff eines unzeitgemäßen Wortgebrauchs, der an die Sprache Hölderlins oder Klopstocks erinnert, der aber, indem er die Szene verfremdet, sie sprachlich in eine andere Zeitebene verlagert, den Gegenwartsbezug nach meinem Empfinden noch verstärkt. Werner hat das, was diese Aussage an kritischer Feststellung enthält, in seinem Gedicht „Umwelt“ noch umfassender zur Sprache gebracht. (Ähnlich wie Johannes Schlaf, der in einem Gedicht die Ilm einmal „als durchaus nicht immer klassisch sauberes Gewässer“ bezeichnete.) Hier aber, in ihrer lapidaren, sachlich-unemotionalen Formulierung in besonderer Weise wirksam, ist sie als etwas, was es momentan „in Kauf zu nehmen“ gilt, eingefaßt in die gelassene „Feier der Natur“, die sich an das noch Unversehrte hält.
In der letzten Zeile der zweiten Strophe:
und dem Abendgewölk über dem Gläser rostet der Flügel (Gläser: Berg südwestlich von Dermbach)
faszinieren die metaphorische Trefflichkeit und Schönheit, mit denen hier das Bild der Tagesneige erfaßt ist. Das Bild leitet gedanklich-gefühlsmäßig über zur nächsten Strophe. Der Stimmungsgehalt des Gedichtes, der von der Mitte des Textes an (mit „der Zäune Kerker“) merklich „abfällt“ und nunmehr dieser Zeile etwas von fast Traklscher Melancholie verleiht, geht in der folgenden und letzten Strophe vollends in Resignation über. „Doch wozu die frommen Bilder und die vielen Worte…“ – das zielt auf die vorhergehende Zeile, in ihrer Weiterung aber auf die beiden vorhergehenden Strophen insgesamt. Die Schaffens- und Weltmüdigkeit, die sich hier unmittelbar ausspricht, relativiert das Asylhafte einer poetisch installierten Natur-Idylle und stellt sie deutlich in Frage. Man könnte darin einen antithetischen Grundzug des Gedichtes erkennen, doch wäre mit einem solchen Befund wirklich Endgültiges gewonnen? Ist „Gegensätzliches“ dieser Art denn nicht vereinbar, ja besteht hier nicht ein psychogener Zusammenhang? Ist menschliche Individualität nicht vielschichtig angelegt und oft von Ambivalenz bestimmt? Gibt es keine Polyphonie des Seins? Sind wir in dieser Stunde, wie wir in jener waren? Kann sich da einer nicht rote Backen erwandern „im Schlehendrift der Berge“ und mit seiner Einsamkeit gut zurechtkommen (das könnte sogar heißen: Alleinsein als Wohlsein zu erfahren), aber doch im tiefsten Grunde von einer Schwere erfüllt sein, die letztlich auch die „Taschenspielerin Natur“ nicht hinwegzuzaubern vermag? Und ist ein Gedicht nicht um so wahrer, je mehr es die Vielstimmigkeit des Lebens zu erfassen vermag? – Wer den Lebensweg Johannes Schlafs kennt, weiß, daß es sich bei unserem Gedicht – biographisch gesehen – nur um einen „lyrischen Situationsbericht“ handeln kann. Denn wie Ludwig Bäte bezeugt:
Er paßt sich weder an noch geht er still zugrunde…, sondern schafft unverzagt, seinem Kreis freudig aufgeschlossen, weder unzufrieden noch verbittert.
Es wird aber in dem Gedicht etwas Allgemeines und über den Einzelfall Hinausgehendes zur Sprache gebracht (und die letzte Gedichtzeile, wo der singularische Akkusativ des Personalpronomens plötzlich in den Plural „uns“ übergeht, deutet sichtlich darauf hin): die Krisis individueller schriftstellerischer Existenz in einer besonderen Situation, wie sie – bei verschiedener Verursachung – immer möglich ist.
Die Ich-Form des Wernerschen Gedichtes und das Monologische in ihm verstärken den Einsamkeitscharakter des Ganzen, aber auch das Subjektive und Bekenntnishafte darin. Die Frage, die sich durch den Gesamteindruck des Gedichtes und beim Lesen besonders der letzten Strophe stellt, ist die nach seinem möglichen Identifikationscharakter. Berührungspunkte zwischen Johannes Schlaf und Walter Werner gibt es ja ganz offensichtlich; die Liebe zur Natur, der Zug zur Idylle, manches wohl auch im Bereich des Poetisch-Künstlerischen ist ihnen gemeinsam, sosehr bei Werner diese Eigentümlichkeiten auch integriert sind in engagierte Poesie. Stimmungen von der Art dieses Gedichtes mögen auch seinem Autor bisweilen nicht fremd gewesen sein. Wir kennen solche Befindlichkeiten sensibler und geistig produktiver Menschen aus zahlreichen Äußerungen. Die Briefe Liliencrons etwa sind voll verzweifelter Klagen, daß er, obwohl er die Einsamkeit und die stillen Spaziergänge liebt, an die Öffentlichkeit gezerrt wird, daß die überhandnehmende Korrespondenz und die Flut von Manuskripten, die er beurteilen soll, ihm seine Zeit rauben. Trotz aller Müdigkeit, die sich bisweilen einstellen mag, wird sich jedoch wohl nur selten ein Schriftsteller dazu entscheiden können, „die bunten Blumen seiner Sprache“ nicht mehr blühen zu lassen.
Walter Werners Gedicht erfaßt die Problematik eines spätbürgerlichen Künstlers sehr genau – es würde aber sicher einen Verlust in der Erfassung der Mehrschichtigkeit dieses poetischen Textes darstellen, würde man das lyrische Ich des Gedichts nur als Rollen-Ich begreifen. Vielmehr besteht der besondere Reiz des Gedichtes darin, daß es durchlässig wird für Fragen, die die künstlerische Existenz überhaupt betreffen.
Heinz Richter, neue deutsche literatur, Heft 7, 1983
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