ANFÄNGE
Denn der Gott, der ist, ist der Gott der Proletarier. (Psalm 57)
Ernesto Cardenal, der prophetische Verkünder der Revolution seines Volkes, entstammt selbst keineswegs den proletarischen Schichten. Im Gegenteil. Die Familie der Cardenals, deren Wurzeln in Spanien und Ostpreußen liegen, ist eine der führenden des Landes, und nur mißbilligend betrachtet der Vater bis heute die Rolle seines Sohnes in der sandinistischen Revolutionsbewegung.
Geboren wurde Cardenal am 20. Januar 1925 in Granada, dessen wohlhabendes Zentrum im Stil spanischer Patrizier erbaut ist. Die Stadt, konservative Konkurrentin zum liberalen León im Norden und zeitweilig Hauptstadt des Landes, liegt am Rande des Großen Nicaragua-Sees und des sich weit bis zur Ostküste und in den hohen Norden erstreckenden Urwaldes. Die Schönheit dieser Landschaft ist überwältigend, und wie tief sie Cardenal geprägt hat, zeigen nicht nur die romantisch-impressionistischen Gedichte aus seiner Zeit in Mexico, sondern auch seine pantheistische, panerotische Naturphilosophie aus der Zeit im Kloster von Gethsemani, die Grundlage noch des späteren Cántico cósmico ist.
Durch die Lage seiner Geburtsstadt am See, der ja Teil des Wasserwegs von der Ost- zur Westküste (Ungewisse Meerenge), Teil also eines möglichen Nicaragua-Kanals war und insofern im Mittelpunkt kolonialer Macht- und Wirtschaftsinteressen stand, hatte er zur Geschichte seines Landes einen engen Bezug.
Von Kindheit an kam er auch mit Literatur und der literarischen Szene in Berührung. Zu seinen engeren Verwandten zählten José Coronel Urtecho und Pablo Antonio Cuadra, die beiden namhaftesten Vertreter des nicaraguanischen Avantgardismus.
Die Großmutter galt als sehr belesen und war nach der Erinnerung Pablo Antonio Cuadras „Ratgeberin“ beim Verfassen von Gedichten. Die literarischen Eindrücke mögen sich verdichtet haben, als die Familie 1930 nach León zieht. Das liberale León ist die Stadt des eigentlichen literarischen Lebens, ist die Stadt des großen, bis dahin einzigen weltberühmten Dichters Nicaraguas, Rubén Darío, der mit seinem Werk Azul (1888) als der eigentliche Begründer des lateinamerikanischen „Modernismus“ gilt. Ihn lernte Cardenal aus den Erzählungen einer Verwandten kennen, die sich an Darío aus eigenen Begegnungen erinnerte. Ihn spürte er gewissermaßen körperlich in den Häusern, Kirchen, Straßen Leóns. Über sein Gedicht „León“ sagt Cardenal, daß es nicht nur seine eigene, sondern zugleich auch die Kindheit Daríos beschreibe, der, ebenfalls neben der Kirche San Francisco wohnend, fast gleiche Erfahrungen gemacht und in seiner Autobiographie beschrieben hatte. (Borg S. 19)
LEÓN
Ich wohnte in einem großen Haus bei der Kirche des Heiligen Franz,
das im Flur eine Aufschrift trug mit den Worten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaAVE MARIA
und die Flure waren rot und aus Lehm,
aus alten roten Ziegeln,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund Fenstern mit rostigen Gittern,
und da war ein beängstigend großer Hof, in dem an windlosen Tagen
eine traurige Rohrdommel die Stunde schlug,
und eine weiße Tante betet im Hof ihren Rosenkranz.
Nachmittags hört man das Läuten des Angelus
aaaaaaaaaaaaaaaaaa(„Der Engel des Herrn brachte Maria
aaaaaaaaaaaaaaaaaadie Botschaft…“)
und man hörte die Hand eines fernen Mädchens einen Ton anschlagen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaauf dem Klavier
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund die Trompete einer Kaserne.
Nachts stieg ein riesiger roter Mond den Kalvarienberg hinauf.
Man erzählte mir Geschichten von Seelen im Fegefeuer und von Gespenstern.
(Cardenal I, S. 59)
Eine solche atmosphärisch dichte Beschreibung von Kindheitserinnerungen: großbürgerlichem Wohnen, Kirchennähe und christlichem Ritus, Hitze und tropisch verfallender Architektur, menschlicher Verlorenheit, bildungsbürgerlicher Kultur, militärischer Präsenz, nächtlichen Bildern voller Magie und Schaudern findet sich bei Cardenal leider nur in diesem Gedicht. Andere Bemerkungen von ihm und seinen Freunden zur Kindheit – spärlich genug – betreffen fast immer nur seinen literarischen Werdegang. Man mag es bedauern, aber muß es konstatieren: Die Kindheit Cardenals ist im Grunde ein blinder Fleck. Wir wissen nichts oder sehr wenig über die Beziehung zur Mutter, zum Vater, zur Familie, über die täglichen Spiele, über prägende Erlebnisse, Freundschaften, Verliebtheiten, Lehrer, Schule, Strafen, Glücksmomente, kleine oder große Verzweiflungen. Das Bestreben zu einer psychologischen Rekonstruktion seiner individuellen Geschichte geht ihm Zeit seines Lebens völlig ab. Immer nur ist er in den Erinnerungen an seine Kindheit greifbar als zukünftiger Dichter, zukünftiger Künstler. Mag sein, daß dies von früh an seine Existenz so erfüllte, daß alles andere ihm unwesentlich schien und bis heute scheint. Aufschlußreich ist eine Notiz in einem unveröffentlichten Fragment einer Autobiographie.
Ich erinnere mich, daß ich immer mit großer Freude zum Meer gelaufen bin. Aber nur um Figuren aus Sand zu formen. Nur deswegen. (Borg S. 20)
Und obschon er als Kind dazu neigte, Maler und Bildhauer zu werden, gibt er sich mit gleicher Leidenschaft dem Lesen hin. Pablo Antonio Cuadra, dem wir die meisten Reminiszenzen an diese Zeit verdanken, beobachtet ihn, wie er als Kind selbstvergessen in ein Buch mit poetischen Versen vertieft ist.
Seit damals interessierte ihn nur die Poesie. „Alles ist Poesie. Alles kann sich in Poesie umwandeln.“ (Prólogo S. 10)
Es mag mit dieser Literarisierung seiner individuellen Erfahrungen zusammenhängen, daß er auch in den Liebesgedichten, die sichtlich auf konkrete Erlebnisse und Personen zurückgehen, als Person hinter den wortreichen Beschreibungen der Leidenschaft an sich (Carmen) oder der ironischen Distanziertheit (Epigramme) fast ganz verschwindet.
Es ist bezeichnend, daß sich eine andere Erinnerung Cardenals an León wieder auf einen Schriftsteller bezieht, den psychisch gestörten, einige sagen geisteskranken Alfonso Cortes, der im ehemaligen Haus Rubén Daríos wohnte.
Alfonso Cortes ist ein verrückter Dichter, einer der größten surrealistischen Dichter der Welt, und seine beste Dichtung hat er im Zustand des Verrücktseins geschrieben. Er wurde in diesem Haus verrückt, und wenn er manchmal einen Tobsuchtsanfall bekam, dann hielten sie ihn mit einer Kette gefesselt, die an einem Dachbalken befestigt war. Als ich dort einmal vorbeiging, sah ich aus der Vorhalle den angeketteten Dichter. (Borg S. 20)
Mehr als anderthalb Jahrzehnte später wird Cardenal, im Besitz einer kleinen Verlagsbuchhandlung, schon in der Phase seines exterioristischen Schreibens und in konkrete Unternehmungen des Widerstands eingebunden, Verse dieses so ganz anders schreibenden Poeten veröffentlichen. Es lohnt diesen Hinweis: Cardenal ist nicht der engstirnige Verkünder einer politischen Bewegung oder Doktrin. Er rezipiert die Literatur in ihrer ganzen Breite und Vielfalt. Seine Sympathie zu diesem „Verrückten“ hängt zusammen mit seiner Auffassung von Literatur, die sich zwar dem sogenannten Realen konkret zuwenden, aber dieses zugleich transzendieren soll: anarchisch, subversiv, rebellisch, mystisch, revolutionär.
In Granada, wo er ab 1935 das jesuitische Kolleg besucht, geht er weiter seinen literarischen Interessen nach. Dichter und Literaturprofessor ist der spanische Schriftsteller Angel Martínez Baigorri. Dieser ist gleichzeitig Herausgeber der Cuadernos del Taller de San Lucas, des schriftstellerischen Organs einer Literaturgruppe, die von José Coronel Urtecho und Antonio Cuadra gegründet worden war. Dieser Gruppe gehörten auch zwei Schulgefährten Cardenals an: Ernesto Mejía Sanchez und Carlos Martínez Rivas, die später mit Cardenal zusammen die neue Schriftstellergeneration der „Vierziger“ verkörpern sollten. Im Rahmen eines Schulwettbewerbs verfaßt er die ersten uns bekannten (wenngleich von ihm nicht veröffentlichten) Gedichte (1940): „Tagesanbruch“, „Mit dem Vollmond“ und „Das Haus Christi“. Sie sind recht traditionell geschrieben, beinhalten aber immerhin zwei seiner großen Themen, Natur und Christentum.
Ein anderes Thema tritt in den Vordergrund: die Liebe. Nicht ohne einen Unterton der Belustigung berichtet Pablo Antonio Cuadra über eine Sitzung der Taller de San Lucas:
Ernesto, der damals sein Abitur machte, kam zu unseren Sitzungen, um mir von seinen Liebschaften zu erzählen und uns seine Liebesgedichte vorzulesen. Er lebte in Liebe im wahrsten Sinne des Wortes, weil für ihn damals das Leben keinen anderen Sinn hatte, als zu lieben, und an dem Tag, an dem seine Geliebte seine Träume verriet, schrieb er ein langes Gedicht, „Die verlassene Stadt“ („La Ciudad Deshabitada“), in dem er die Stadt seines Wahns zerstörte, Granada wie Walker niederbrannte, sie in Schutt und Asche legte zusammen mit dem, was noch von seinem ersten Liebesfeuer geblieben war. (Prólogo S. 11)
Von 1943 bis 1947 studiert Cardenal an der Universität Nacional Autónoma von Mexico-City Philosophie und Literatur. Er schließt das Studium mit einer Magisterarbeit über das Thema „Sehnsucht und Sprache in der neuen Literatur Nicaraguas“ ab. Das Leben dort scheint, soweit man das den wenigen Äußerungen Cardenals selbst oder seiner Mitstudenten entnehmen kann, durchaus nicht nur auf die Wissenschaft beschränkt gewesen zu sein. Die zahlreichen Fiestas nahmen nicht selten den Charakter von Gelagen an, und es gab, so der mexicanische Schriftsteller Wilfredo Cantón, „nicht wenige Tagesanbrüche, die Cardenal als Opfer alkoholischer Exzesse sahen.“ (Kalt S. 21)
Während mehrfacher Reisen zwischendurch nach Nicaragua bekommt er Kontakte zu den dortigen oppositionellen Kräften im Lande, in Mexico selbst organisiert er politische Aktionen.
Ich veranstaltete Kampagnen in der Universität, zusammen mit weiteren nicaraguanischen und zentralamerikanischen Studenten, gegen Somoza und die anderen lateinamerikanischen Diktatoren. Mejía Sánchez beteiligte sich ebenfalls an dem Kampf. Wir vereinigten uns häufig mit den Exilanten aus Nicaragua und den anderen zentralamerikanischen Staaten. Es war eine Zeit vieler Exilanten und Konspirationen und revolutionärer Projekte. Und wir befanden uns immer mitten darin. (Gonz S. 48)
Seine Gedichte, fast ausnahmslos Liebesgedichte, die oft auf biographische Erlebnisse zurückzugehen scheinen, greifen die politische Thematik nicht auf. Sie bewegen sich in Kategorien von Leidenschaft, Sinnlichkeit, Melancholie und Tod und sind sichtlich zu sehr noch dem Vorbild des alles überragenden Pablo Neruda verhaftet.
Den größten Einfluß mit achtzehn Jahren hatte auf meinen poetischen Ausdruck Neruda. In jener Zeit war das der entscheidende Einfluß auf die Jugend… Aber der Einfluß Vallejos war tiefer; er beeinflußte mich nicht so sehr in meinem literarischen Stil, sondern in der Seele. Danach gab es keinen lateinamerikanischen Einfluß mehr. (Borg S. 28)
„EXTERIORISMUS“
Von Ende 1947 bis 1949 studiert Ernesto Cardenal an der Columbia University von New York angloamerikanische Literatur. Er beschäftigt sich mit der Literatur von Walt Whitman, von T.S. Eliot, den er später persönlich kennenlernt, von William C. Williams, dessen Gedichte er mit José Coronel Urtecho zusammen übersetzt, mit der Schule der „Imagists“ insgesamt, aber insbesondere mit einem Schriftsteller, der ihm dazu verhilft, endlich seinen eigenen Stil zu finden: Ezra Pound.
An Ezra Pound interessiert ihn nicht dessen Ideologie, über die er sich nicht äußert, sondern allein dessen Poetologie. Cardenal spürt, daß er die barocke, modische und subjektivistische Sprache seiner Liebeslyrik überwinden muß. Er muß und will sich zu seiner eigenen Alltagsrealität hinwenden und eine Sprache finden, die die Komplexität dieser objektiven Welt und Wirklichkeitserfahrungen auszudrücken vermag, ohne damit alle Subjektivität auszuklammern.
Eben dies, von ihm eher gespürt als gewußt oder gar zum Programm erhoben, findet er in der Poetologie Pounds. Dieser verlangt vom Sprachkünstler, der sich der subjektiven und objektiven Wirklichkeit zuwendet, ein äußerstes Maß an sprachlicher Disziplin. Der gelungene Text soll in einer Schreibweise verfaßt sein, die „perfekt kontrolliert“ ist und in der „der Schriftsteller exakt das sagt, was er sagen will. Das sagt mit der größten Klarheit und Einfachheit.“ (Pound S. 5) Bekanntlich hat Pound sein Konzept in drei kurzen Punkten zusammengefaßt: 1. direkte Präsentation der „Sache“, sei sie nun subjektiv oder objektiv; 2. Ausschluß jeden Wortes, das nicht zur Präsentation beiträgt; 3. hinsichtlich des Rhythmus: komponieren nach dem Takt der musikalischen Phrase, nicht nach dem Takt des Metronoms. (Pound S. 3)
Zusammen mit José Coronel Urtecho entwickelt Cardenal als Antwort darauf seine Poetologie des „Exteriorismus“. Der Begriff bezeichnet „die Poesie der äußeren (exteriores), objektiven, realen, wahren, konkreten Dinge. Eine Poesie, die sich stützt auf das Volk mit seinen eigenen Namen und Vornamen, mit seinen geographischen Namen…“ (Borg S. 32)
Es ist eine Poesie, die sich prinzipiell auf ,facts‘ gründet… im Gegensatz zur anderen, idealistischen Poesie. Pound sagt uns, daß wir die Wirklichkeit so nackt zeigen können, wie dies die Fotokamera tut, wie sie auch die Zeitungsvorlage zeigt, und diese Poesie kann über alle Themen handeln, genau wie die Prosa (ich mache keinen Unterschied zwischen beiden)… Wir haben ja in Lateinamerika geglaubt, daß die Poesie nur auf bestimmte Themen begrenzt ist, die ,poetischen‘ Themen, und unterstellt, daß andere Themen ,prosaischer‘ sind. Pound hat gezeigt, daß die Poesie so weit sein kann wie die Prosa. (Ebd.)
Hier und da ist der Vergleich der exterioristischen Poetik mit Brechts Literaturtheorie gezogen worden. Vieles ist ihnen sicher gemeinsam: die Hinwendung zur Realität, die knappe schnörkellose Benennung von Tatsachen und Befindlichkeiten, die Einebnung des Unterschieds zwischen Lyrik und Prosa, die Einbeziehung des nahezu unbegrenzten Arsenals dichterischer und alltäglicher Sprache, die Montage als Technik der Verbindung der verschiedensten Elemente, das Streben nach „Volkstümlichkeit“, die Einbeziehung des Rezipienten in die Sinnkonstruktion des Textes, das Hinausweisen des Textes im Leseprozeß auf die Realität oder die Absicht der Einwirkung auf Denken, Fühlen und Handeln des Rezipienten. Der Begriff „exterioristisch“ deckt sich zweifellos mit vielem, was bei Brecht mit „realistisch“ gemeint ist.
Was die Selbsteinordnung in die nicaraguanische und lateinamerikanische Literaturtradition betrifft, wird man Cardenals Hinweis auf Neruda und Vallejo als einzige Vorbilder natürlich differenzieren müssen. So finden sich noch im Cántico cósmico wiederholt Hinweise auf den erwähnten „verrückten“ Alfonso Cortes. Die Mischung in dessen Werk aus sprachlicher Experimentierfreudigkeit, Volksnähe, sozialkritischen Bezügen, Elementen der Mystik und surrealistischer Rätselhaftigkeit haben ihn offensichtlich beeindruckt. Vor allem in der Person von José Coronel Urtecho dürfte sich das Traditionsgeflecht der Literatur recht komplex vermittelt haben, war dieser doch die lebendigste, kreativste und anregendste Gestalt der nicaraguanischen Literatur in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Sehr früh schon hatte er sich mit Rubén Darío auseinandergesetzt, die Abgeflachtheit des nicaraguanischen „Postmodernismus“ überwunden, die nordamerikanische Literatur kennengelernt, in der „sinfonischen Dichtung“ die spätere „konversationelle Dichtung“ vorbereitet, Elemente von Alltagssprache und Volkspoesie, Montagetechniken, freie Verse, surreale Bilder gemischt, und im Avantgardismus der dreißiger Jahre die nicaraguanische Literatur, anknüpfend an avantgardistische Strömungen in Chile, Cuba und Mexico (Bierm S. 4, 375, Schopf S. 19), aus ihrer provinziellen Weltabgeschiedenheit an die soziale und politische Wirklichkeit herangerückt.
In dieser Tradition steht Cardenal sehr deutlich. In der New Yorker Zeit (1947–1949) entstehen freilich wenige literarische Arbeiten. Für Cardenal liegt das Schwergewicht auf literaturwissenschaftlichen Studien, poetologischen Überlegungen und schreibpraktischen Erfahrungen durch Übersetzungen. Erst am Ende dieser Zeit entsteht das Gedicht „Raleigh“, zu dem Cardenal bemerkt:
In New York schrieb ich das erste Gedicht, das ich zu meiner Produktion zähle, d.h. ich bereits als zu mir oder zu meinem eigenen Stil gehörig anerkenne. Es handelt sich um das Gedicht „Raleigh“. (Kalt S. 28)
Das Gedicht erscheint im Frühjahr 1950 in den Cuadernos Hispanoamericanos in Madrid. Nicht von ungefähr. Im Jahr zuvor war in Madrid die Anthologie Neue nicaraguanische Poesie erschienen, die Cardenal zusammen mit Orlando Cuadro Downing herausgegeben hatte. Neben drei Gedichten war von ihm als Einleitung eine veränderte Fassung seiner Magisterarbeit enthalten. Ende Oktober 1949 war er mit Hilfe eines Stipendiums für ein halbes Jahr nach Europa gereist, wovon er die meiste Zeit in Madrid zubrachte. Für die Cuadernos Hispanoamericanos hatte er in dieser Zeit verschiedene Kritiken geschrieben. In Paris traf er bei Carlos Martínez Rivas mit Octavio Paz zusammen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.
Als er im Juli 1950 im Alter von 25 Jahren nach Managua zurückkehrt, um dort die nächsten Jahre zu verbringen, kann er das Gefühl haben, Weichen gestellt zu haben. Seine Studien hat er abgeschlossen, sich ein internationales Verständnis von Literatur angeeignet, eine große Zahl literarischer Übersetzungen angefertigt, eine literarische Anthologie herausgegeben, im internationalen Bereich Kontakte geknüpft, literarische Arbeiten und eigene Gedichte veröffentlicht, eine Poetologie entwickelt, von der er weiß, daß sie bahnbrechend sein wird für die lateinamerikanische Literatur insgesamt, und er hat, wenn auch nur in wenigen Zeilen und in Andeutungen – noch sind die technischen Möglichkeiten begrenzt, fehlt ein kritischer Umgang mit der Geschichte und ist die politische Situation ausgeklammert – seinen eigenen Stil gefunden.
– Unterdrückung, Widerstand, Vision – Nicaragua und Ernesto Cardenal
– Anfänge
„Exteriorismus“
– Der Rebell
Epigramme
Stunde Null
– Der Mystiker
Ernesto Cardenal und Thomas Merton
Das Buch von der Liebe
Gethsemani/Ky
– Der Prophet
Die Psalmen
– Dichter, Prophet, Revolutionär – Solentiname
Verschüttungen und Entdeckungen:
die Malerei auf Solentiname
Das neue Evangelium
In Cuba – die „zweite Berufung“
– Dolmetscher der Geschichte
Die ungewisse Meerenge. Die Farbe des Quetzal.
Wolken aus Gold
– Der Agitator
Nationallied für Nicaragua. Orakel über Managua
– Kulturminister und Dichter des „Kosmischen Gesangs
Cántico cósmico – die „astrophysikalische Epik“ Cardenals
– Cardenal – ein Romantiker?
– Anhang
Daten zu Leben und Werk. Werkverzeichnis.
Siglen. Arbeiten über Ernesto Cardenal
erweist sich als beunruhigender Querdenker und -schreiber, nicht als stromlinienförmiger Befreiungstheologe. Als 1989 in Mexiko sein Cántico cósmico erschien, herrschte selbst in Lateinamerika eine gewisse Ratlosigkeit vor. Am ehesten erinnerte manchen dieses gigantische Werk mit rund 16.000 Versen, das der Autor selbst als „astrophysikalisches“ Epos bezeichnet, an Dantes La divina commedia oder Lukrez’ De rerum natura. Es wirft vielfältige Fragen auf, aber es erlaubt – als die Summe des Schaffens Ernesto Cardenals – nun auch eine genauere Gewichtung seiner Einzelwerke. In der Rezeption Cardenals während der letzten Jahrzehnte zeigt sich ein auffälliger Widerspruch zwischen seiner weltweiten Bekanntheit als Priester, Dichter und Mitgestalter der nicaraguanischen Revolution und der selektiven Wahrnehmung seines literarischen Werks. Dieses schien eine Zeit lang zusammengeschrumpft auf einige zentrale Aussagen im Sinne einer christlich-marxistischen Befreiungstheologie, die ihn für die einen zur Kultfigur der Revolution, für die anderen zum Verteidiger eines lateinamerikanischen Totalitarismus machten. Die mystischen, naturphilosophischen, kosmologischen und indiogenen Wurzeln seines Werkes kamen nicht mehr in den Blick – ebensowenig wie die Qualitäten seines poetischen, „exterioristischen“ Stils, der mehr an der nordamerikanischen Poetologie eines Ezra Pound als an lateinamerikanischen Vorbildern orientiert ist. So liegt es nahe, das Gesamtwerk Ernesto Cardenals im Überblick und in vielen unbekannten Details, vor allem aber in seinen poetischen Schönheiten neu zu entdecken.
In der vorliegenden Studie zeichnet Helmut H. Koch die Entwicklung des Autors und seines literarischen Werks in chronologischer Abfolge und im Rahmen der nicaraguanischen und lateinamerikanischen Geschichte nach.
edition text + kritik, Ankündigung
Klaus Ther: Ernesto Cardenal: Unbeugsamer Dichter, Priester, Revolutionär
Klaus Ther im Gespräch mit Ernesto Cardenal: „Jesus Christus war nicht religiös!“
Heiner Müller über Ernesto Cardenal in Berlin 1995.
Birte Männel: Aus Liebe zu seinem Volk wurde er Revolutionär
Neues Deutschland, 19.1.1985
„Uns bleibt die Hoffnung“
Berliner Zeitung, 27.1.1995
Klaus Ther: Biographie von Ernesto Cardenal: Einer, der sein Leben verloren hat
Die Furche, 20.1.2000
Uwe Wittstock: Ernesto Cardenal 80
Die Welt, 20.1.2005
Hermann Schulz: Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstagnicaraguaportal.de, 10.4.2005
Roman Rhode: Der Heldenpoet Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal
Der Tagesspiegel, 20.1.2005
Klaus Blume: Ernesto Cardenal wird 80 Jahre alt
Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2005
Klaus Blume: Baskenmütze und Bauernhemd
nwzonline.de, 15.1.2005
epd: „Ich muss optimistisch sein“
sonntagsblatt, 24.1.2010
Erich Hackl: Lehrmeister des Gedichteschreibens
neues deutschland, 20.1.2010
Gunnar Decker: Der Traum vom Anders-Leben
neues deutschland, 20.1.2015
kna: Nonkonformist Ernesto Cardenal wird 90
Münchner Kirchenachrichten, 19.1.2015
Peter B. Schumann: Christ und Marxist
Deutschlandfunk, 20.1.2015
Werner Hörtner: Das Leben von Ernesto Cardenal: Der Geld-Gott als Feind der Menschheit
Die Furche, 22.1.2015
Andreas Drouve Interview mit Ernesto Cardenal: „Immer verbunden mit meiner Kirche“
domradio.de, 21.1.2017
Michael Jacquemain: Marxist, Rebell und Priester: Ernesto Cardenal wird 95
kirche-und-leben.de, 17.1.2020
Natalia Matter: Der nicaraguanische Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt
Sonntagsblatt, 22.1.2020
Willibert Pauels über Ernesto Cardenal.
Ernesto Cardenal liest auf dem XV. International Poetry Festival von Medellín 2005.
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