Helmut Heißenbüttel: Das Durchhauen des Kohlhaupts

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helmut Heißenbüttel: Das Durchhauen des Kohlhaupts

Heißenbüttel-Das Durchhauen des Kohlhaupts

NACHRICHTENSPERRE

wie geht es Ihnen
ich habe eine gute Nachricht erhalten
Sie haben eine gute Nachricht erhalten
es hat mir jemand eine gute Nachricht mitgeteilt
jemand hat Ihnen etwas mitgeteilt das Sie für eine
aaaaagute Nachricht halten
es ist die Nachricht die gut ist
eine gute Nachricht oder eine Nachricht die gut ist
ich habe eine gute Nachricht erhalten und ich unterscheide nicht
aber wie wissen Sie ob es eine gute Nachricht oder eine nicht gute Nachricht ist
ich unterscheide nicht weil ich weiß
wie aber wissen Sie wenn Sie nicht unterscheiden
nicht wie ich weiß wenn sondern ich weiß weil
Sie wissen weil
ja ich weiß weil ich nicht unterscheide
Sie wissen weil
aber natürlich denn nichtwahr wenn ich unterscheiden würde würde ich ja nicht wissen
Sie wissen also nur deshalb weil Sie nicht unterscheiden
ja natürlich
Sie wissen daß Sie eine gute Nachricht erhalten haben weil Sie nicht unterscheiden
ja natürlich
Sie wissen daß Sie eine gute Nachricht erhalten haben weil Sie nicht unterscheiden zwischen guter und nicht guter Nachricht
ja natürlich
aber was unterscheiden Sie da nicht
wie unterscheide ich was nicht
was ist es denn was Sie nicht unterscheiden
ich unterscheide nicht weil ich weiß
aber was unterscheiden Sie denn nicht wenn Sie offenbar ganz genau wissen daß die Nachricht die Ihnen jemand mitgeteilt hat eine gute Nachricht ist
ich brauche doch gar nichts zu unterscheiden wenn ich es genau weiß
aber was ist das was Sie nicht unterscheiden was unterscheiden Sie nicht von was wovon unterscheiden Sie nicht was
ist das denn nicht selbstverständlich
es ist das Gegenteil von selbstverständlich
aber ist es denn nicht selbstverständlich daß ich eine gute Nachricht gar nicht von einer schlechten Nachricht unterscheide
aber Sie haben gesagt Sie haben eine gute Nachricht erhalten Sie haben gesagt jemand hat Ihnen eine gute Nachricht mitgeteilt
wissen Sie in der Situation in der ich mich befinde ist jede Nachricht eine gute Nachricht

 

 

 

Vier Jahre nach seinem Projekt Nr. 1,

dem Roman D’Alemberts Ende, legt Helmut Heißenbüttel die dreizehn „Lehrgedichte“ seines Projekts Nr. 2 vor.
Heißenbüttel möchte diese Texte als didaktische Poesie verstanden wissen, wie man sie heute schreiben kann. Sie holen Stoff als Sprachmaterial herein, vom Werbetext bis zur philosophischen These, vom Dialog eines Comics bis zu den Ergebnissen einer Untersuchung über Gruppensex, von banalen Reimereien bis zu linguistischen Übungssätzen über Franz Josef Strauß, von Traumprotokollen bis zu Zitaten der Weltgeschichte. Stoffbereiche, über die bereits in vielfacher Weise geredet worden ist und mit denen jeder Berührung hat, werden aus dem normalen Sprachzusammenhang herausgenommen und in neue Verbindungen gebracht. Diese Versetzung ist das Literarische wie das Didaktische. Was immerzu gesagt worden ist, soll in der veränderten Mischung die Sache anders ins Blickfeld rücken. Das Standardrezept bei diesen Texten besteht aus der Kombination von Phrase, Banaltext und philosophischem Tiefsinn. Man könnte auch von Lesefrucht-Literatur sprechen. Die persönliche Einstellung wird vor allem in den Kommentar-Dialogen deutlich, aber auch im Titel; es ist das Buch eines Autors, der die Grenze der Fünfzig passiert hat, der Hegels Furie des Verschwindens körperlich spürt. In gewisser Weise handelt es sich um eine summierende Fortführung des Prinzips, das Heißenbüttel zuerst in dem Band Kombinationen (1954) anwandte. Alle Texte haben die Möglichkeit der akustischen Realisation; einige wurden als Hörspiele gesendet.

Hermann Luchterhand Verlag, Klappentext, 1974

 

Das Durchhauen des Kohlhaupts

Dreizehn Lehrgedichte nennt Helmut Heissenbüttel die Texte, die er in seinem jüngsten Buch Das Durchhauen des Kohlhaupts gesammelt hat. Doch mit Gedichten im traditionellen Sinne haben diese Arbeiten wenig zu tun : es sind Montagen, Collagen oder – so der Titel von Heissenbüttels erstem Buch aus dem Jahre 1954 – Kombinationen. Der Autor verwendet in diesen Gedichten, die er als „didaktische Poesie“ verstanden wissen möchte, Zitate aus den heterogensten Sprachbereichen: Auszüge aus Werbetexten und Politikerreden, aus Comics und Traumprotokollen, aus Banal-Poesie und aus Büchern von Hegel, Wittgenstein und Freud, aus Kriminalromanen und aus Schriften der Surrealisten – und nicht zuletzt auch aus eigenen frühen Arbeiten.
Diese Zitate, aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in neue Zusammenhänge gestellt, ergeben eine Art „Lesefrucht-Literatur“, bei der jeder Einzeltext, in neuer Umgebung neue Aspekte zeigen soll. Freilich muss angemerkt werden, dass viele dieser Stücke im Blick auf eine akustische Realisation geschrieben wurden, und dass die intendierte Wirkung erst bei der stereophonischen Sendung eintritt – ein Vergleich der Lektüre des Textes „Max unmittelbar vorm Einschlafen“ mit dem Hören der ebenfalls bei Luchterhand erschienenen Schallplatte gleichen Titels macht das deutlich.

Der Titel des Buches bezieht sich auf ein Wort von Hegel, der vom Tod, der absoluten Auslöschung des Individuums, gesagt hat, er sei „ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“. Dieses Zitat, das dem Band vorangestellt ist, kann als das geheime Leitmotiv nicht nur des einen Textes „Das Durchhauen des Kohlhaupts“, sondern des ganzen Buches angesehen werden, von dem es im Klappentext heisst, es sei „das Buch eines Autors, der die Grenzen der Fünfzig passiert hat, der Hegels Furie des Verschwindens körperlich spürt“. Freilich ist dieses allerprivateste wie allgemeinste Thema tief versteckt in den Kombinationen dieses Zitaten-Buches, das es dem Leser nicht leicht macht, aus dem dissonanten Konzert der fremden Einzelstimmen die Stimme des Autors selbst herauszuhören. Denn noch stärker als früher hat Helmut Heissenbüttel darauf verzichtet, die Zitate so zu arrangieren, dass aus ihrer Neukombination ein neuer Bedeutungszusammenhang rasch erkennbar wird, dass etwa, um die einfachsten Verfahrensweisen zu nennen, das vorgegebene Sprachmaterial zu Parodie oder Kontrafaktur verwendet wird. In diesen neueren Arbeiten wird den recht umfangreichen Zitaten weithin ihre Eigenständigkeit belassen, es wird dem Leser schwer gemacht, über längere Distanzen die Gesamtheit des miteinander kombinierten disparaten Materials im Blick zu behalten und jedes neue Zitat vor dem Hintergrund der vorigen zu lesen. „Man hat bisweilen den Eindruck“, so sagte Jörg Drews:

dass die Sinnlichkeit des Details, auch seine Aufladung durch irritierend neue Umgebung, Heissenbüttel gleichgültiger geworden sind; er scheint auf den Funken zu vertrauen, der zwischen zitierten Texten überspringt, auch wenn deren Umfang grösser, die Blöcke gröber geworden sind.

J. P. W., Die Tat, 27.5.1975

 

1960 und die Folgen 

– Erinnerungen an Helmut Heißenbüttel. –

Alles änderte sich im Jahr 1960. Gut, wir hatten sechs Jahre vorher schon als Pennäler durch einen Zufall Arno Schmidt entdeckt; ein Klassenkamerad und ich fischten Brand’s Haide und Aus dem Leben eines Fauns aus einer eben bankrottierenden Buchhandlung und waren irritiert begeistert, aber irgendwie blieb das eine isolierte Erfahrung: Was hatten wir denn – fragten wir uns verunsichert – für einen kuriosen Geschmack, daß uns diese beiden Bücher gefielen, wir damit aber völlig allein blieben? Und es war auch schon Paul Celan ins Blickfeld gekommen – die Studentenbibliothek der Universität Heidelberg hatte Mohn und Gedächtnis, im Sommersemester 1958 wurde in Arthur Henkels Oberseminar ein Celan-Gedicht analysiert, und bis heute hat es mir Celans Gedicht „Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum“ ganz besonders angetan. Und seien wir historisch gerecht, auch wenn die Entfernung von Grass in den letzten drei Jahrzehnten stark angewachsen ist: Die Blechtrommel hatte 1959 einen ungeheuer befreienden Effekt, und den Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner von 1956 halte ich immer noch für ganz vorzüglich. Ansonsten aber betete, wer nicht einfach nur bildungsfromm zu Magister Thomas von der Trave aufschaute, um dort gediegenes Deutsch zu genießen, zum großen Gottfried Benn. Damit sind sozusagen unsere damaligen Standards in der Literatur bezeichnet, das hielten wir für modernst. 

Dann aber schrieben wir 1960 und es tauchte in München ein leise sprechender, leise vortragender einarmiger Mann namens Helmut Heißenbüttel auf und las irgendwann im Winter 1959/60 – ich denke, es war im Januar 1960 – in der Lenbach-Galerie. Ein Gerhard von Graevenitz und ein Jürgen Morschel hatten eine Literaturzeitschrift gegründet, die hieß nota. studentische zeitschrift für kunst und dichtung und brachte es nur auf vier oder fünf hochformatige Hefte. nota lud zu sechs Lesungen ein, unter den Lesenden waren Eugen Gomringer, Max Bense, Claus Bremer, Bazon Brock – war Franz Mon auch dabei? Ich weiß es nicht mehr –, Bense theoretisch hochgestochen und später beim Bier atemberaubende Obszönitäten von sich gebend (jedenfalls schien das uns Buben so), Claus Bremer aufgeräumt, strahlend und Vertrauen erweckend, Gomringer mit der Designer-Neokargheit jener Jahre sehr beeindruckend, Bazon Brock irritierend eitel und hochfahrend aus seinem Band kotflügel kotflügel vorlesend. Und dazwischen also Helmut Heißenbüttel, und er las Texte, die wenig später in Textbuch 1 standen, darunter „Cinemascope 59/60“, „Der Wassermaler“ und „Einsätze“.
Sowas hatte ich noch nie gehört, das haute mir das ganze spät- oder postbennsche poetische System auseinander, aber wie Heißenbüttel das ruhig und nur bisweilen mit seinem Armstumpf im Jackenärmel wedelnd vortrug, machte es den größten Eindruck von Lakonik und Modernität, und von dem Stück Prosa namens „Der Wassermaler“ waren wir geradezu gerührt und bezaubert. Aber wie sollten die „Einsätz“ eigentlich verstanden werden? Jetzt hatten wir – Studenten im 6. Semester, als analytisch ambitionierte Benn-Leser organisiert in einem kleinen „forum artisticum“, auf dem kleinen Poster unserer Gruppe Benn im Profil mit seiner scharfen Nase – gedacht, wir marschierten an der Spitze des poetischen Fortschritts, und nun das!
Wolfgang Weyrauch war bei dieser Heißenbüttel-Lesung im Publikum; ihm traute ich, er hatte gerade die Anthologie expeditionen im List-Verlag herausgegeben, und ich fragte ihn verstört und ganz naiv: 

Wie soll man das denn verstehen?

Weyrauch gab mir keinen strukturellen Ratschlag, sondern antwortete klug und väterlich: 

Lesen! Immer wieder lesen!

Das war natürlich das Allerallgemeinste, was man sagen konnte, aber stimmte eben doch auch konkret: Gar nicht viel später hielt man es dann für selbstverständlich, daß man so mit der Syntax umgehen konnte, und bis heute ist für mich „Einsätze“ einer der suggestivsten Texte Helmut Heißenbüttels.
Im Herbst kam dann das Textbuch 1 heraus, im Format so hoch und ein bißchen breiter als DIN A 4, strahlend weiß, mit viel Platz auf den Seiten, großzügig, damit die Texte atmen konnten und nicht so gequetscht wie üblich auf winzigen Seiten stehen mußten, und ich fand das würdig, daß endlich einmal Gedichte luxuriös viel Platz hatten und wirken durften. Zwar höhnte im Oktober 1964 bei meinem Besuch Arno Schmidt über die Textbücher, auf den großen Seiten sei „fast nix druff, iss doch sehr viel weiß“, und das fand ich so schockierend verständnislos und banausisch wie seine Bemerkungen über Samuel Beckett, aber ich dachte: Besser kein Kommentar. 

Heißenbüttel entgrenzte alle unserer Vorstellungen von Texttypen und Gattungen – es hatte sehr wohl einen Sinn, angesichts vieler der Stücke in den Textbüchern provozierend, cool und korrekt von „Texten“ zu sprechen und damit die Gattungsfrage fürs erste zu neutralisieren, auf die Seite zu schieben. Und wie sollte zum Beispiel ein Stück wie „c) konjunktivisch“ noch als „Gedicht“ oder als „Lyrik“ zu bezeichnen sein? Es war ja obendrein auch noch wurscht. (Obgleich es natürlich Spaß machen konnte, gerade die Bezeichnung ,Gedicht‘ in einzelnen Fällen dialektisch doch wieder zu verfechten, ähnlich wie kurz darauf Heißenbüttel im Nachwort zu Laut und Luise von Ernst Jandl auf die antizipierte (– und in der Tat ja damals oft gehörte –) Frage, ob dies oder jenes noch ein Gedicht sei, lakonisch antwortete: 

Wie soll denn sonst ein Gedicht heute aussehen?

Kein Buch von Helmut Heißenbüttel hat mir bis heute einen solchen Eindruck gemacht wie die ersten sechs Textbücher. Mit den Aufsatzbänden Über Literatur und Zur Tradition der Moderne ist es was anderes, sie haben eine ganz andere Art von Gewicht, haben argumentatives Gewicht, während die Textbücher eben doch näher an der Poesie waren. Rekapituliere ich heute Texte wie „Kalkulation über was alle gewußt haben“, „Politische Grammatik“ oder „Deutschland 1944“ oder das große „Gedicht von der Übung zu sterben“ mit ihrer strengen Trauer und ihrem großen Pathos, auch den wundervoll ruhig und leise atmenden Sechszeiler (oder Fünfzeiler?) „einfache Sätze“: 

einfache Sätze
während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe 

– so habe ich den Eindruck, daß vieles im Aussagesystem der gegenwärtigen Literatur geradezu geschwätzig ist, regrediert, rekonventionalisiert, und dies nicht nur verglichen mit dem, was bei Heißenbüttel schon realisiert war, sondern auch bei anderen, bei Franz Mon, bei Eugen Gomringer, später bei Prießnitz und Ernst Jandl.
Aber vielleicht war es ein besonders günstiger und unwiederholbarer Moment des Zerfalls alter, altmodischer literarischer Ausdrucksmöglichkeiten; was da zwischen ungefähr 1958 und 1962 in der deutschen (der westdeutschen) Literatur passierte, ist so etwas wie das konzentrierte Aufholen jenes literarischen Hinterherhinkens – „cultural lagging“ nannte das damals Hans Kilian in seinen Vorlesungen zur geistigen Situation Deutschlands nach 1945 –, welches uns das Dritte Reich und in seiner Folge auch noch die Adenauer-Zeit eingebrockt hatte: die fünfziger Jahre brauchten und verbrauchten wir bei unserer Modernisierung. 

1960: Heißenbüttel war, wie gesagt, nicht allein. Ich sehe sein Textbuch 1 flankiert von zwei anderen Büchern dieses Jahres. Eines davon ist die Anthologie movens, erschienen bei Limes in Wiesbaden, herausgegeben von Walter Höllerer, Manfred de la Motte und Franz Mon (erstaunlicherweise ist nichts von Heißenbüttel drin in diesem Band), die der große Konservative Hans Magnus Enzensberger – daß er das werden würde, begann damals schon absehbar zu werden – gleich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Die Movens-Bande“ verhöhnte, welchem Hohn er dann gleich noch den Aufsatz „Die Aporien der Avantgarde“ hinterherschickte.
Ich mußte einen Tag lang im Studentenschnelldienst Bierfässer rollen in einer Münchner Brauerei, um abends die 26 DM gleich zum Buchhändler in der Veterinärstraße tragen und beispielsweise entdecken zu können, daß Kurt Schwitters nicht nur „An Anna Blume“ geschrieben und Merz-Kunst gemacht, sondern auch die Prosa „Der Schürm“ sich ausgedacht hatte, und daß ein gewisser Peter Weiss (noch nie gehört!) ungeheuerliche und unheimliche „Prosa“ verfaßt hatte; mehr an Überschrift als dieses „Prosa“ stand nicht drüber.
Das war sensationelle Prosa, und wir wußten damals nicht, daß „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ acht Jahre lang auf deutschen Redaktions- und Lektoratsschreibtischen gelegen hatte, bis Suhrkamp sich traute, einen „Tausenddruck“ daraus zu machen: 1960!, ohne den dann wiederum die Gruppe 47-Prosa der folgenden Jahre nicht zu denken ist. 

In den nächsten Jahren war Helmut Heißenbüttel einer meiner Hausgötter, zusammen mit Arno Schmidt und gegen Ende der sechziger Jahre dann Gerhard Rühm, der den Innovationen der Jahre um 1960 vor allem präludierte mit dem Prosastück „die frösche“ von 1958. Mit Heißenbüttel wechselte ich einige Briefe, in denen er freundlich auf meine Fragen Auskunft gab, mich – damals – sehr erstaunte mit seiner Hochschätzung Stefan Georges des Lyrikers, der mir in jenen Jahren Anathema war (daß die Sache so einfach nicht ist, weiß ich heute auch), und ich wunderte mich über die eigenartig hübsche, harmonische, fast ,weibliche‘ Handschrift von Heißenbüttel – so meine Anmutung; dabei verstand und verstehe ich nichts von Graphologie, aber meine damalige Freundin sagte: 

Wer so eine Handschrift hat, kann auch den „Wassermaler“ schreiben.

Heißenbüttel war es auch, der 1963 die schöne Formulierung prägte, Arno Schmidt sei „ein Volksschriftsteller, aber ein verhinderter“. Damit hebelte er die öde Behauptung aus, Schmidt sei – so hätte man es wenige Jahre später formuliert – „elitär“, und zugleich bestätigte er die Diagnose doch. Schmidts Literatur war ja einerseits – vom Leviathan bis zu gewissen Aspekten der Erzählungen in dem Band Kühe in Halbtrauer von 1964 – nach seinen Stoffen und Handlungen ganz nah an den Nachkriegs- und Alltagserfahrungen vieler Westdeutscher, aber dann doch untermischt mit entlegen-eigensinnigen Bildungs-Elementen, ernsthaft und zugleich närrisch versetzt mit bizarrer Gelehrsamkeit, die sich vom Quasi-Volkstümlichen dezidiert in Einsamkeitsträume absetzen wollte.
Mitte der siebziger Jahre machte ich auf Einladung Heißenbüttels drei längere Rundfunksendungen über Arno Schmidt beim Radioessay des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart, außerordentlich dankbar, daß Heißenbüttel mir so viel Sendezeit einräumte, um „meinem Affen Zucker zu geben“, wie Benn so gerne sagte. Es war dies vielleicht die Zeit meines größten Einverständnisses auch mit seinen theoretischen und kritischen Positionen, die er in den Bänden Über Literatur 1965 und Zur Tradition der Moderne 1972 dargelegt und mit Heinrich Vormweg in dem Briefwechsel über Literatur schon 1969 diskutiert hatte.
In diesen Jahren war er für mich als Kritiker an die Stelle des immer mehr verstummenden Kölner Literaturkritikers und Essayisten Albrecht Fabri getreten. Summarisch gesagt: Er war mir damals fast der einzige, der einen Begriff hatte von dem, was Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kenntnis und Bewußtsein ihrer avancierten Traditionen in einem ernsthaften Sinn – auch gegenüber den Wissenschaften – überhaupt war und sein konnte, als spezifische Disziplin, deren Tun immer auch mit Erkenntnisprozessen zu tun hatte, aber eben im Medium des Ästhetischen, als strenges und spielerisches Probierfeld für die Darstellung von Gesellschafts- und Bewußtseinsrealitäten eben dieser zweiten Jahrhunderthälfte.
Er war jemand, der Sprache als historisches Material auffaßte und das Nachdenken über Literatur nicht als Sequenz von irgendwie nacheinander entstehenden und eins nach dem andern auf den Schreibtisch des Rezensenten gespülten Büchern auffaßte, sondern nach ihrer Problemstellung und ihrer Notwendigkeit fragte.
Bis heute bewundere ich aufs äußerste die Essays „Vortrag über: was alles Platz hat im Gedicht“ und „Was ist das Konkrete an einem Gedicht?“, erschienen 1969 in einem kurios quadratischen Bändchen bei Hansen & Hansen in Itzehoe in der Reihe Vorspann. Eine Schriftenreihe zur Einführung in die Dichtung der Gegenwart, und besonders sympathisierte ich mit seiner Hochschätzung von Arno Holz’ Phantasus. 

Dabei wirkte er übrigens auf mich als Süddeutschen, der etwa einen Besuch im niedersächsischen Bargfeld schon als Visite in einem Landstrich empfand, der noch exotischer war als Arno Schmidt ihn schilderte, sehr „norddeutsch“, was ja nicht recht an seiner Schweigsamkeit liegen konnte, denn oft war er – allerdings mit seiner etwas gequetschten, nie so richtig aus ihm heraus kommenden Stimme – leise munter plappernd eher lebhaft, aber oft reagierte er auch langsam und zögerlich. In seiner Massivität wirkte er fast immer auf mich etwas einschüchternd; als er älter wurde, machte er oft den Eindruck, abweisend-hochmütig, mürrisch aggressiv oder vielleicht sogar auch depressiv zu sein.
In Stuttgart Mitte der siebziger Jahre schien er mir besonders aufgeräumt, gesprächig und entspannt, worüber ich mich dann wieder sehr wunderte. An die Wohnung in der Donizettistraße erinnere ich mich als ganz voll gestellt – aber gar nicht mit Büchern beziehungsweise Bücherregalen, sondern mit unzähligen Schallplatten in Regalen an mindestens zwei kompletten Zimmerwänden. Es gibt ja eine große Zahl von Musik- beziehungsweise Plattenbesprechungen von ihm – davon möchte man doch einmal eine umfangreiche Auswahl haben! –, aber damals in Stuttgart konnte ich mir merkwürdigerweise noch nicht einmal vorstellen, daß er musikalisch sei – irgend etwas an ihm schien mir zu prosaisch oder dröge und seine Stimme zu unmusikalisch, zu unmelodiös zu sein.
Am meisten aber verblüffte mich, wie – na, sagen wir mal: lustvoll und ausgiebig er Klatsch aus dem Literaturbetrieb erzählte, in scheinbar völligem Ernst und – so schien es mir jedenfalls – ohne jede Brechung durch Ironie, auch kaum lachend: Wer mit wem, und wie da die dramatischen Momente aussahen, als etwa die Lyrikerin B. sich von dem Lyriker und Kritiker H. telefonisch trennte und H. buchstäblich ohnmächtig vor Herzschmerz wurde; Heißenbüttel, sachlich und amüsiert: 

Wir mußten ihn dann auf eine Couch legen… 

Ich sperrte Mund und Ohren auf, daß der große Kritiker Heißenbüttel sich mit so was abgeben konnte, stundenlang, mit nicht nachlassendem detaillierten Interesse, aber andererseits dann doch auch so, daß mir der ernsthafte Gedanke kam, er müsse dies doch alles mal aufschreiben, nicht einfach nur als lustigen Klatsch, sondern man könnte dies alles dann doch auf die Literatur durchsichtig machen oder eben genauer herauskriegen, daß dies eben nicht mit Literatur kompatibel sei, sondern etwas ganz anderes; das alles wäre nicht einfach als lüsterne Grotesken zu goutieren, über Indiskretionen kichernd, sondern es müßte als deutbar zu betrachten sein und als Beispiel für… methodisch, aber wie?
Ich habe später – ich glaube, in einem Artikel zum 60. Geburtstag Heißenbüttels – im Ernst vorgeschlagen, er sollte doch einmal die Geschichte der westdeutschen Literatur sozusagen von ihrer Kehr- und Klatschseite her erzählen; ich meinte das aber gar nicht leichtfertig und nur als Gag, sondern als Material zu Überlegungen zur literarischen Kreativität oder zur Anthropologie der Dichter, mal hochgestochen gesagt. Ich weiß nicht, ob er mir das übel nahm, Heinrich Vormweg reagierte auf die gedankenspielerische Überlegung geradezu indigniert, und nicht nur deshalb, weil Heißenbüttels Erzählungen dieser Art vielleicht halt doch nur im Erzählen, mündlich funktionierten und nicht in Schrift und Druck; außerdem aber war Vormweg ja ethisch eher ein Protestant. 

Bei den Treffen und Sitzungen des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie war Helmut Heißenbüttel von 1978 bis zu seinem Tod neben Ernst Jandl und Franz Mon derjenige mit der größten Autorität, allerdings auch der, welcher häufig von uns allen am schlechtesten gelaunt war, oft auch lange Zeit bedrückend stumm, auch der, der Einwürfe anderer einfach überging oder abbürstete. Sagte man ihm etwa beiläufig, daß an irgend einer Stelle eines Artikels von ihm, der vor kurzem publiziert war, eine falsche Information stecke, der er offensichtlich aufgesessen sei, sagte er nur unwirsch, das sei ihm egal, brummte, und wandte sich ab.
Vielleicht waren dies aber auch schon Vorboten der Krankheit, die ihn zu zeichnen begann, wobei manchmal immer schwerer zu unterscheiden war, was da Krankheit und was da einfache grobe Aggressivität war. Seine letzten Auftritte bei den öffentlichen Lesungen des Colloquiums im Bielefelder Rathaussaal waren für uns Colloquiumsmitglieder und insbesondere für Klaus Ramm und mich sehr bewegend, gleichgültig, wie sehr er uns bisweilen verletzt hatte. Der Schlaganfall hatte den massigen Mann ja nicht auf einen Schlag gefällt, sondern verdammte ihn zu einer stummen Rollstuhlexistenz, bei der schwer zu deuten war, wieviel er mitbekam und ob und wie er sich hätte äußern mögen.
Was uns am meisten fehlte und fehlt, ist aber, neben seinem trockenen Sinn für Komik (verknüpft nicht mit Gelächter, sondern einem feinen, strahlenden Lächeln, zusammen mit einer Art rhythmischem Atmen), die Souveränität seiner Positionen, das nicht an den Tag Gebundene seiner Urteile und Perspektiven in einem Literaturbetrieb, der schon damals ungemein kurzatmig war und heute so völlig orientierungslos zu werden droht, daß die einzelnen Urteile durch kein Bewußtsein von Tradition irgendeinem lange oder weiter reichenden Gedanken mehr verbunden sind, damit aber eigentlich beliebig bleiben.
Zwar war Heißenbüttel bisweilen auch in seinen Urteilen über Bücher für Überraschungen gut, etwa wenn er zur Verblüffung von Klaus Ramm und mir ein Buch von Heinrich Böll (einen der späteren Romane) pries oder verblüffend vorbehaltlos positiv über einen Band von Chris Bezzel sich äußerte. Bei allem Respekt vor Heißenbüttels Leistung, durch die Propagierung eines Konzepts der „Offenen Literatur“ 1977 ein zu enges Konzept von Moderne und Avantgarde zu sprengen – das war nun doch verstörend. Dennoch: Ein Mann wie Heißenbüttel täte uns not – in der Literaturkritik. 

Was seine Literatur selber angeht, fällt es mir schwer, mich damit abzufinden, daß er im Moment in einer größeren Öffentlichkeit wenig gilt, wenig Resonanz hat. Kennt man den Literaturbetrieb länger, wundert man sich aber nicht. Erstens gab es bei Heißenbüttel eine gewisse handwerkliche Ernsthaftigkeit sowohl des kritischen wie des produzierenden Denkens, die im Moment kaum angesagt und vor allem auch mit der Rekonventionalisierung der literarischen Ästhetik bei vielen Autoren ohnehin nicht kompatibel ist.
Vielleicht kann man sagen: Daß so vielen Autoren die Gattungen wieder problemlos evident zu sein scheinen, ist das Problem. Daß es bei Heißenbüttel so viele Texte gab, die jeweils eine neue/andere Gattung darstellten, ist nicht einfach literarischer Reichtum, sondern bezeugt immer neue Akte der literarischen Erkenntnis.
Fast hätte ich resignativ gesagt: Da kann man nichts machen; es ist halt wohl so, daß es Zeiträume gibt, die weniger innovativ sind und in denen zum Beispiel vielleicht eben in der Lyrik Gedichtbände publiziert werden, deren gefällige Verschnarchtheit ganz unglaublich ist (keine Namen, damit es nicht nach Denunziation klingt), während zugleich die 44 gedichte von Reinhard Prießnitz kaum bekannt sind, so wenig wie seine Prosastücke, etwa „13 flocken“ oder „schrauben“, die weder von der Literaturwissenschaft noch von der Kritik bisher gründlich angeschaut wurden. Es kann ja auch wieder anders werden.
Bei Heißenbüttel bringt sich aber halt jeder – und das ist eine Art Trost – um einen Genuß, der die Liebesgeschichte „Oberwasser und Feuerborn“ oder die Erzählung von der „Haarigen Witwe von Botnang“ oder die Brecht-Geschichte „Eine Handvoll Gedichte, eine Handvoll Fotos“ nicht kennt, und auch nicht die so lakonischen wie seltsam verschwätzten Prosa-„Herbste“ und so vieles andere mehr.
Sehr viele Titel sind übrigens durchaus noch lieferbar, Heißenbüttel ist ja keineswegs völlig vom Markt verschwunden, und außerdem gibt es das ZVAB und es gibt zwei Heißenbüttel-Titel sogar via Print on demand. Zu den größten Kostbarkeiten meiner Bibliothek aber gehören neben einem Band mit erotischen Kriminalerzählungen von Walter Serner von 1925 und der Originalausgabe von Rubiner/Eisenlohr/Hahns Kriminalsonetten von 1913 gewiß auch Helmut Heißenbüttels Topographien. Gedichte 1954/55, die mir jemand am 30.12.1960 schenkte, und das auch schon leicht angegilbte Exemplar des Textbuch 1, das ich mir laut handschriftlicher Eintragung am 3.10.1960 kaufte. 

Ein Heide sagt über einen anderen Heiden: Gesegnet sei sein Name! 

Jörg Drews, die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006

GEH DENKEN!

Denn kein
Weg führt. Weit
mehr fruchtet
die Naht. Wo’s aus Asche
bricht und
Honig nicht scheut.
Spricht was. Was betäubt.
Und scheut sich auch
Diana nicht die Flucht zu
jagen. Wie der
Widder in die Gegenwart gereckt. Um
Totes zu zeugen. Oder
keinerlei Furcht.

(Helmut Heissenbüttel zum Gedenken)

Felix Philipp Ingold

 

Jörg Drews: 1960 und die Folgen. Erinnerungen an Helmut Heißenbüttel

Elke Heinemann: Helmut Heißenbüttel-Homestory

Thomas Combrink: Keine Elite, keine Auserwählten, keine Bescheidwisser. Über Helmut Heißenbüttel, Merkur, Heft 697, Mai 2007

 

EPILOG AUF HELMUT HEISSENBÜTTEL
(✝ am 19. Oktober 1996)

vorgestern trugst du noch den konischen finger ohne verschluss.
oder war es der zugzwang der deine lippe löschte.
kämst du einmal nur noch zum zuckerlecken in meine bremsspur.
doch er machte gekonnt die kehrtwendung um 181 grad.
there is no leaving while a noise is heard.

Franz Mon

 

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: Weil der Versuch die einzige Gewähr ist
Merkur, Heft 397, Juni 1981

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ulf Stolterfoht: Wie ich Helmut Heißenbüttel einmal fast begegnet wäre
Stuttgarter Zeitung, 18.6.2021

Peter Mohr: Poet im Sprachlabor
literaturkritik.de, Juni 2021

Willi Winkler: Erschreckend modern
Süddeutsche Zeitung, 20.6.2021

Paul Jandl: Die deutsche Sprache kam ihm immer spanisch vor
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2021

Beate Tröger: Ein Radikaler
der Freitag,  2.7.2021

 

 

„Sage ich Du zu mir oder Sie?“ Happy Birthday Helmut Heißenbüttel! am 26.6.2021 im Literaturhaus Stuttgart

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLGIMDbFacebook +
DAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Archiv 12 +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
 Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Heißenbüttelose“.

 

Fernsehdokumentation von Urs Widmer aus dem Jahre 1967 über den experimentellen Schriftsteller Helmut Heißenbüttel (1921–1996). Der Titel: Zweifel an der Sprache. Helmut Heißenbüttel, ein Portrait.

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