Helmut Koch: Ernesto Cardenal

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helmut Koch: Ernesto Cardenal

Koch-Ernesto Cardenal

ERNESTO CARDENAL UND NICARAGUA

Als am 19. Juli 1979 der Diktator Somoza vom nicaraguanischen Volk gestürzt war und die Menschen auf den Straßen und Plätzen der Hauptstadt Managua und des ganzen Landes im Glücksrausch jubelten, gab es keine Rundfunkanstalt, keine Zeitung in der Welt, die davon nicht Notiz nahm. Und hätte man weltweit nach dem bekanntesten Nicaraguaner gefragt, so hätte es keinen Zweifel gegeben: Ernesto Cardenal, der Dichter, Priester, Revolutionär. Er hatte mit seinen Dichtungen und während seiner Reisen durch viele Länder auf den Befreiungskampf seines Volkes aufmerksam gemacht, hatte im Widerstand gearbeitet, hatte ins Exil gehen müssen und trat nun für zehn lange Jahre das Amt des Kulturministers an.
Kolonialismus, Ausbeutung der Bevölkerung durch die Oberschicht, die Verstrickung in die Kämpfe rivalisierender Parteien, die Ausplünderung durch ausländische Wirtschaftsunternehmen, verschiedene Invasionen der USA und die blutige Herrschaft der Somoza-Dynastie hatten die Geschichte Nicaraguas bestimmt. Dieser lange Leidensweg des nicaraguanischen Volkes schien nun zu Ende. Das Land wurde von freudiger Aufbruchstimmung erfaßt. Eine große Alphabetisierungskampagne ließ die Quote der Analphabeten von 58 Prozent auf 12 Prozent sinken. Schulen wurden gebaut, Krankenhäuser errichtet, Impfkampagnen durchgeführt, Land wurde an besitzlose Bauern verteilt, Mindestlöhne wurden festgesetzt, soziale Absicherungen eingeführt, und es wurde Mitbestimmung in Betrieben und Basiskomitees praktiziert.
Weltweit waren die Menschen von dem kleinen Land fasziniert, dessen politische Entwicklung zum Modell eines Dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu werden schien. Hier sollten Demokratie und soziale Gerechtigkeit zugleich verwirklicht werden – im Unterschied zu vielen anderen Ländern der Dritten Welt. Der Versuch eines Dritten Weges gab vielen Menschen Hoffnung, nicht nur in der Dritten Welt.
Ernesto Cardenal übte weltweit auch deshalb Faszination aus, weil er als Christ eindeutig Partei für die Armen und Unterdrückten ergriff. Er bezog die Gebote der Liebe und Gerechtigkeit auf die konkrete Wirklichkeit Nicaraguas und der westlichen und östlichen Gesellschaftssysteme. Noch heute sind seine Thesen, Christentum und Marxismus hätten das gleiche Ziel der Errichtung einer gerechten Welt, provozierend. Daß er mit der offiziellen Kirche in Konflikt geriet, konnte nicht ausbleiben. Das Modell Nicaragua konnte sich nicht entfalten, der Leidensweg des Volkes ist nicht zu Ende. Der Wirtschaftsboykott und der Krieg mit den „Contras“, einem von den USA finanzierten Söldnerheer, haben das Land ausgeblutet. Fast 60.000 Menschen sind in diesem Krieg gestorben, Verschuldung und Inflation sind erheblich, es herrscht wieder Hunger. Am 25. Februar 1990 beugte sich die nicaraguanische Bevölkerung der Repressionspolitik des nordamerikanischen Goliath, dem es so lange widerstanden hatte. Sie wählte aus Angst vor Hunger und weiterem Krieg die konservative Verlegerin Violeta Chamorro zur Präsidentin. Die Revolution ist ins Stocken geraten, aber nicht am Ende.
Aus dem Leben und Werk Ernesto Cardenals erfahren wir viel über den Leidensweg, den Widerstand, die Hoffnung, den Überlebenswillen, den Triumph, den Freiheitswillen des nicaraguanischen Volkes – auch darüber, wer Interesse am Elend der Armen hat. Cardenals Leben ist ein Stück der Geschichte Nicaraguas. Seine Visionen einer Gesellschaft nach den Maßstäben der Liebe und Gerechtigkeit betreffen aber auch uns, die westliche Welt und jeden einzelnen persönlich.1

 

HERKUNFT

Granada, wo Ernesto Cardenal am 20. Januar 1925 geboren wurde, ist eine reiche und schöne Stadt. Der zentrale Platz, auf dem die Menschen zwischen Blumen und Springbrunnen Schatten unter dem Dach hoher Palmen finden, ist umgeben von weißen, im spanischen Stil gebauten Patrizierhäusern. An der großen Kathedrale vorbei führt der Weg zum Nicaragua-See, dem größten See des Landes. Das Auge vermag die gegenüberliegenden Ufer nicht zu erkennen, und wenn ein Wind das Wasser bewegt, könnte man meinen, man blickte auf das Meer. Gegen Abend, wenn das Licht sanfter wird, zeichnen sich die dunklen Silhouetten der Uferwälder vor dem Himmel ab, und die Tierstimmen werden deutlicher. Vogelschwärme überkreuzen den See, und im Gegenlicht werden die Flamingos sichtbar, die ruhig und langstelzig im seichten Uferwasser neben badenden Kindern stehen. Eine Stimmung, die einen ahnen läßt, was in Ernesto Cardenal von Kindheit an den Sinn für Schönheit und die Liebe zur Natur weckte.
Doch Granada ist nicht nur eine schöne, sondern auch eine geschichtsträchtige Stadt. Dies hängt mit der Lage am See zusammen. Zum Unterschied von Peru oder Mexiko weckte nicht Gold das Interesse der spanischen Konquistadoren an Nicaragua, sondern die geographische Lage des Landes. Sie suchten nach der „ungewissen Meerenge“, wo sie am leichtesten vom Atlantischen in den Pazifischen Ozean gelangen konnten, ohne den gefährlichen und beschwerlichen Landweg durch den Dschungel wählen zu müssen. In Nicaragua bot sich die Möglichkeit. Man konnte per Schiff den Rio San Juan bis in den Nicaraguasee hinauffahren, diesen ebenfalls per Schiff durchqueren, und dann war nur noch ein kurzes Stück Landweg zu überwinden, bevor man den Pazifik erreichte.
Diese günstigen geographischen Bedingungen waren auch der Grund, warum sich die Nordamerikaner im 19. Jahrhundert des Landes bemächtigten.
Als 1855 die nicaraguanische Partei der Liberalen im Kampf gegen die Konservativen den Nordamerikaner Mr. Walker zu Hilfe rief, erstritt dieser nicht nur den Sieg für die Liberalen, sondern erklärte sich selbst zum Präsidenten Nicaraguas und Granada zur Hauptstadt. Ein Nordamerikaner als Präsident Nicaraguas! Auch wenn Mr. Walker bald von der Bevölkerung vertrieben wurde, zeigt diese historische Episode die enorme Abhängigkeit des Landes von den USA – ein Hauptproblem Nicaraguas bis heute.
Mit der Geschichte des Landes wird sich Ernesto Cardenal später auch literarisch auseinandersetzen: Die spanische Eroberung schildert er in dem Buch Die ungewisse Meerenge, und für das Gedicht „Mr. Walker“ erhält er seinen ersten Literaturpreis.
Mit Literatur kommt Ernesto schon früh in Berührung. Zwei der berühmtesten Dichter Nicaraguas, Pablo Antonio Cuadra und José Coronel Urtecho, gehören der engeren Verwandtschaft an. Im Gymnasium, einer Jesuitenschule, wird Ernesto von einem spanischen Dichter unterrichtet. Und er tritt einem Literaturkreis bei, den sein Lehrer gegründet hat. Ernesto schreibt vor allem Liebesgedichte in dieser Zeit.
Von 1943 bis 1947 studiert Ernesto Cardenal in Mexiko Philosophie und Literatur und schreibt eine Diplomarbeit über „Sehnsucht und Sprache in der neuen Lyrik Nicaraguas“. Dann studiert er in den USA zwei Jahre englische und nordamerikanische Literatur, macht ab Oktober 1949 eine mehrmonatige Europareise und kehrt im Juli 1950 endgültig nach Nicaragua zurück. Inzwischen sind in Mexiko, Chile, Spanien, Kuba und anderen Ländern seine Gedichte erschienen. Er gibt eine Zeitschrift heraus, eröffnet einen Buchladen und einen Verlag. Und da er eine reiche Familie im Rücken hat, bestens ausgebildet ist und in der internationalen Kulturszene bekannt ist, scheint seiner weiteren Karriere als Schriftsteller oder Literaturwissenschaftler nichts mehr im Wege zu stehen. Doch so geradlinig sollte sein Leben nicht verlaufen.2

 

DER DICHTER DER PSALMEN 

1959 bricht Ernesto Cardenal sein Noviziat ab. Für zwei Jahre lebt er als Gast in der Benediktinerabtei Cuernavaca/Mexiko, dann besucht er von 1961 bis 1965 das Priesterseminar Medellin in Kolumbien.
In dieser Zeit entstehen die „Psalmen“, die innerhalb weniger Jahre den Weltruhm des Dichters begründen. Ernesto Cardenal verfaßt sie nach dem Vorbild der Psalmen des Alten Testaments. Diese sind Gebete in Gedichtform, Gotteslieder, Klagen über Verfolgung und Not des israelischen Volkes, Anklage gegen die Feinde, Bitten um die Hilfe Gottes und Lobpreisungen seiner Macht und Gerechtigkeit. Ernesto Cardenal aktualisiert sie. Er beklagt gegenüber Gott das Leiden der Menschen in der Gegenwart: Verfolgung, willkürliche Verhaftungen, unmenschliche Behandlung in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten, Folterungen, Massenmorde in Konzentrationslagern, Kriege, atomare Verseuchung, Zerstörung der Umwelt, Armut, Verelendung, Hunger.

Bewahre mich vor dem Hochmut der Geldherrschaft und der politischen Macht.

Damit werden für die gegenwärtige Fehlentwicklung in der Welt zwei zentrale Ursachen genannt: die Herrschaft des Geldes, die zur Ausbeutung von Menschen und Natur und zur Vernichtung allen Lebens führt, und der Mißbrauch der politischen Macht, dessen Folgen Unterdrückung, Verfolgung und Tod sind.
Die Sprache Cardenals klingt angesichts der Situation der Menschheit oft verzweifelt. Bisweilen scheint Gott sich um die Welt nicht zu kümmern.

Warum verbirgst Du Dein Antlitz, Verfolgung und Drangsal vergessend?

Die Klage über die Verletzung der Menschenrechte in aller Welt, über das Vergessen der christlichen Werte der Liebe und Gerechtigkeit klingt bitter. Und doch sind die Psalmen Ernesto Cardenals geprägt vom Vertrauen auf Gott.

Der Herr ist mein Schutz.

Er wird helfen, eine bessere Welt zu schaffen, eine Welt, die radikal anders ist, jenseits der Blöcke der kapitalistischen und kommunistischen Welt. Ein Dritter Weg, der anknüpft an die unverfälschten Werte des Urchristentums, eines wirklichen Sozialismus, wird als Vision sichtbar.
Bereits einige Jahre vor dem zweiten vatikanischen Konzil und vor der Verbreitung der Theologie der Befreiung findet Cardenal in seinen Psalmen zu einer neuen, zugleich religiösen, politischen und sozialrevolutionären Sprache, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Dorothe Sölle, die bekannteste christliche Theologin der Gegenwart, schreibt 1985 an Cardenal:

Wie wichtig Deine Psalmen für mich werden, begreife ich erst heute richtig! Sie haben mir – theologisch – aus der Verzweiflung über den falschen Gott der Bourgeoisie hinausgeholfen, einen Gott, von dem ich damals schon wußte, daß er tot war. Ich hatte aber noch keine Sprache, neu zu sagen, wer Gott ist. Du hast mir damals durch Deine Psalmen – ich kannte Dich nicht – etwas ganz Einfaches gesagt, das ich nie vergessen werde: Sie ist doch längst da, die neue Sprache.3

 

 

Inhaltsverzeichnis

– Ernesto Cardenal und Nicaragua

– Herkunft

– Die Aprilrebellion gegen den Diktator Somoza

– Der Weg ins Kloster Gethsemani/Kentucky

– Thomas Merton und die Idee einer neuen Gemeinschaft

– Der Dichter der Psalmen

– Solentiname – eine christliche Kommune

– Bauernmalerei

– Ernesto Cardenal – Dichter und Prophet

– Widerstand und Revolution

– Kulturminister in schweren Zeiten
Aufbruch
Im Krieg

– Die Wahlen vom 25. Februar 1990 und Nicaraguas Zukunft

– Dichtung als Lobgesang – die Kosmischen Lieder Ernesto Cardenals

– Daten zu Leben und Werk Ernesto Cardenals

– Quellenverzeichnis 

– Bildnachweis

 

Dichter, Priester, Revolutionär –

das sind die Attribute. die der bekanntesten Persönlichkeit Nicaraguas. vielleicht Lateinamerikas, zukommen. Ernesto Cardenal war zehn Jahre lang Kulturminister seines Landes. Sein Name ist untrennbar mit dem Befreiungskampf des nicaraguanischen Volkes verbunden. Und dieser Kampf aus christlichem und politischem Engagement wird weitergehen. Die Biographle vergegenwärtigt in Texten und vielen, zum Teil noch nicht veröffentlichten Bildern, das Leben und Wirken einer großen Persönlichkeit unserer Zeitgeschichte.

Signal-Verlag, Klappentext, 1990

 

 

Klaus Ther: Ernesto Cardenal: Unbeugsamer Dichter, Priester, Revolutionär

Klaus Ther im Gespräch mit Ernesto Cardenal: „Jesus Christus war nicht religiös!“

 

Heiner Müller über Ernesto Cardenal in Berlin 1995.

 

Zum 60. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Birte Männel: Aus Liebe zu seinem Volk wurde er Revolutionär
Neues Deutschland, 19.1.1985

Zum 70. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

„Uns bleibt die Hoffnung“
Berliner Zeitung, 27.1.1995

Zum 75. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Klaus Ther: Biographie von Ernesto Cardenal: Einer, der sein Leben verloren hat
Die Furche, 20.1.2000

Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Uwe Wittstock: Ernesto Cardenal 80
Die Welt, 20.1.2005

Hermann Schulz: Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstagnicaraguaportal.de, 10.4.2005

Roman Rhode: Der Heldenpoet Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal
Der Tagesspiegel, 20.1.2005

Klaus Blume: Ernesto Cardenal wird 80 Jahre alt
Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2005

Klaus Blume:  Baskenmütze und Bauernhemd
nwzonline.de, 15.1.2005

Zum 85. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

epd: „Ich muss optimistisch sein“
sonntagsblatt, 24.1.2010

Erich Hackl: Lehrmeister des Gedichteschreibens
neues deutschland, 20.1.2010

 

Zum 90. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Gunnar Decker: Der Traum vom Anders-Leben
neues deutschland, 20.1.2015

kna: Nonkonformist Ernesto Cardenal wird 90
Münchner Kirchenachrichten, 19.1.2015

Peter B. Schumann: Christ und Marxist
Deutschlandfunk, 20.1.2015

Werner Hörtner: Das Leben von Ernesto Cardenal: Der Geld-Gott als Feind der Menschheit
Die Furche, 22.1.2015

 

Zum 92. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Andreas Drouve Interview mit Ernesto Cardenal:Immer verbunden mit meiner Kirche“
domradio.de, 21.1.2017

Zum 95. Geburtstag von Ernesto Cardenal:

Michael Jacquemain: Marxist, Rebell und Priester: Ernesto Cardenal wird 95
kirche-und-leben.de, 17.1.2020

Natalia Matter: Der nicaraguanische Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt
Sonntagsblatt, 22.1.2020

 

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Willibert Pauels über Ernesto Cardenal.

 

Ernesto Cardenal liest auf dem XV. International Poetry Festival von Medellín 2005.

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