– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Über Schillers Gedicht ,Die Bürgschaft‘“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –
BERTOLT BRECHT
Über Schillers Gedicht „Die Bürgschaft“
O edle Zeit, o menschliches Gebaren!
Der eine ist dem andern etwas schuld.
Der ist tyrannisch, doch er zeigt Geduld
Und läßt den Schuldner auf die Hochzeit fahren.
Der Bürge bleibt. Der Schuldner ist heraus.
Es weist sich, daß natürlich die Natur
Ihm manche Ausflucht bietet, jedoch stur
Kehrt er zurück und löst den Bürgen aus.
Solch ein Gebaren macht Verträge heilig.
In solchen Zeiten kann man auch noch bürgen.
Und, hat’s der Schuldner mit dem Zahlen eilig
Braucht man ihn ja nicht allzustark zu würgen.
Und schließlich zeigte es sich ja auch dann:
Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!
Wie hat die Nachwelt doch Schiller mitgespielt! Kaum war Schillers „Reiterlied“ aus dem Wallenstein erschienen, da machte sich Achim von Arnim schon darüber her und schrieb:
Auf, auf, Kameraden zu Fuß und zu Pferd,
Ins Feld, in die Freiheit gezogen!
Im Felde da ist der Preuße was wert
nicht mehr der Mann, und wenn das auch noch kein Spott war, so hielt Mynona, also Salomo Friedlaender, sich wohl kaum zurück, als er schrieb:
Wohl ab, Kameraden, vom Pferd vom Pferd,
Aus dem Feld in die Freiheit gezogen,
Im Frieden, da ist die Uniform nichts mehr wert.
Das war 1922. Anderen Schillerschen Gedichten ist es nicht besser gegangen. Wie hat man nicht „Die Glocke“ satirisch verunstaltet! Am harmlosesten war noch „Das Lied von der Erbswurst“, 1871 verfaßt, denn da gab es zwar etwas groben Humor, aber am Ende dann doch die Zeile: „Wilhelm, unser Kaiser lebe“. Schiller war an alledem nicht ganz unschuldig – schon Caroline Schlegel hatte die Nase gerümpft über seine „hochfahrenden Poesien“.
Aber nun „Die Bürgschaft“ – wir haben Schillers Pathos noch im Ohr und seine letzten Zeilen „Ich sey, gewährt mir die Bitte, / In eurem Bunde der dritte“ als Sprichwort jederzeit parat. Eine rührselige Situation: Der Freund bürgt für den zum Tode verurteilten verhinderten Tyrannenmörder, und was auch kommen mag – tropische Regengüsse, ein über die Ufer getretener Fluß, einige Grobiane, die ihm ans Leder oder doch zumindest ans Geld wollen, schließlich die erbarmungslos davoneilende Zeit –, er hält Wort und löst den Freund aus, und da kann der Tyrann gar nicht anders, als jene Bitte äußern, die inzwischen redensartlich geworden ist. Soll man Schiller die Geschichte glauben? Der ist freilich insofern fein heraus, als er die Sache gar nicht erfunden, sondern ziemlich genau einer Fabel des römischen Polyhistors und Schriftstellers Gaius Julius Hyginus nachgeschrieben hat.
Aber Brecht hat es nicht auf diesen, sondern auf Schiller abgesehen, und er reduziert die rührende Geschichte erst einmal auf ihre eigentliche Substanz: auf die quasi-kapitalistischen Verhältnisse, die dem Sachverhalt zugrunde liegen. Da sind ein Schuldner und ein Bürge, da sind Verträge, und da geht es um das Zahlen. Aber angesichts der erstaunlichen Geschichte, von der Schiller berichtet, kommt Brecht aus seinem höhnischen Kopfschütteln nicht heraus. Jene „edle Zeit“ muß eine fabulöse Zeit gewesen sein, in der der Mensch sich geradezu unmenschlich verhielt, da er nicht den Vorteil nutzte, den ihm die Bürgschaft bot, sondern mit einer Sturheit, die man sonst eher der Landbevölkerung gewisser Distrikte zuschreibt, tatsächlich zurückkehrt und sich an den Galgen liefert. Wäre dem wirklich so, ja, dann müßten Verträge ja auch gehalten werden, da wären Bürgschaften möglich und am Ende gar ein vorsichtiger Schuldenerlaß. Fürwahr eine edle Zeit, mit Menschlichkeit versehen bei Schuldner, Bürge und Tyrann. Sollen wir es glauben? Mitnichten, denn hier ist alles nur schöner Schein, der Tyrann schließlich überhaupt kein Tyrann, der sture Schuldner in seinem Fluchtverzicht fast schon unbegreiflich, der Tyrann ohnehin schon merkwürdig, weil er Geduld zeigt.
Nein, da bleiben Brecht nur Hohn und Spott, denn die Verhältnisse, sie sind nicht so. Fauler Zauber alles, das menschliche Gebaren nichts als Lüge, denn die Wirklichkeit, das weiß Brecht nur zu gut, sieht anders aus: Weder hat der Tyrann Geduld, noch kommt der Schuldner zurück, und vieles mag heilig sein, Verträge aber sind es nicht. Die erste Zeile von Brechts Sonett darf nicht als hymnischer Begeisterungsschrei gelesen werden. Sie enthält ein Todesurteil über Schillers hochherzige Menschheitsphantasie, denn nicht nur die Verhältnisse sind nicht so, sondern auch die Menschen. Das ist ein poetisches Wolkenkuckucksheim, das Schiller sich da zurechtbaut, ein balladeskes Ammenmärchen, und Brechts eigentliche Botschaft lautet: Laßt alle Hoffnung fahren.
Das Gedicht entstand im Exil, das Brechts Blick für vieles geschärft hat; 1938 hat er es zusammen mit anderen als „Vierte Lektion“ in seine Hauspostille eingefügt. Und er hat bissig hinzugefügt, diese vierte Lektion sei „für die wenigen Leser bestimmt, welche niedrige Motive noch in den erlesensten Kunstgebilden zu schätzen wissen, für Leser, welche imstande sind, Werke der Vergangenheit nicht zu verstehen“. Aber jetzt, nach diesem Gedicht, sollte jeder Leser verstanden haben, was es mit der „Bürgschaft“ Schillers eigentlich auf sich hat. Brecht, mit einiger Schlitzohrigkeit ausgestattet, hat später noch hinzugefügt:
Diese sozialkritischen Sonette sollen natürlich den Genuß an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern reiner machen.
Gewiß, aber doch wohl nur im Sinne dessen, der die „edle Zeit“ von damals durchschaut hat.
Helmut Koopmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995
Schreibe einen Kommentar