– Zu Günter Kunerts Gedicht „Vision an der Oberbaumbrücke“ aus Günter Kunert: Stilleben. –
GÜNTER KUNERT
Vision an der Oberbaumbrücke
Berlin du späte Totenstadt
vergraut und still wie nie vorher
der Leiden und der Mühen satt
erwartungslos von Leben leer
so reglos und so voller Angst
schon aufgegeben von der Welt
da du um deine Tage bangst
als wär das Urteil nicht gefällt:
Du wirst versinken und vergehn
wie andre Städte einstens auch:
Berlin – auf Nimmerwiedersehn.
Verfall zu Staub. Steig auf als Rauch.
Brücken verbinden. Länder, Kontinente, Welten – oder auch nur zwei Stadtteile, die durch nichts als ein Wasser voneinander getrennt sind. Die Berliner Brücken sind im Grunde genommen nicht der Rede wert, keine Stadtbeschreibung rühmt sie als irgendwie beachtlich. Spree oder Landwehrkanal sind unauffällige Gewässer, und entsprechend sind die Übergänge. Die Oberbaumbrücke verbindet freilich nicht nur auf belanglose Weise zwei Ufer. Sie trennt zugleich zwei Welten, den Westen und den Osten.
Visionäres an einer dieser Brücken? Aus welchem Anlaß und warum gerade hier? Doch so fragt allenfalls der Alltagsverstand; Zukunftsgesichte pflegen nicht anzuklopfen, um eintreten zu können. Es könnte ein anderer Übergangsort sein, und hier ist auch nicht wichtig, daß das Wasser zwei politische Systeme, zwei Weltanschauungen, zwei Lebensformen voneinander scheidet. Im Gedicht führt die Brücke ohnehin nicht an ein gegenseitiges Ufer, sondern in eine andere Zeit: die Gegenwart ist Anlaß zu einem Blick in Zukünftiges.
Die Prognose ist tödlich. Reichshauptstadt einst, Symbol des geteilten Deutschland später; subventioniert und politisch herausgepäppelt: die moderne Metropole wird auf ihre Zukünftigkeit hin durchleuchtet, und mit einem Schlag ist das Weltstadt-Erlebnis dahin, Alexanderplatz und Kurfürstendamm, Europa-Center und Preußens Gloria werden zu gespenstischen Fassaden. „Berlin tut gut“, lesen wir gelegentlich. Dem, der Kunerts Gedichte kennt, muß das wie blanker Hohn klingen. Der Blick über die Brücke ist ein Blick ins Totenreich, das Wasser ist der Styx; aus diesem Hades wird kein Orpheus mehr zurückkehren.
Der Weltuntergang ist bei Kunert kein höllisches Spektakel; er kommt unhörbar, schleicht sich ein in eine längst todgeweihte Stadt. Ein Troja-Schicksal; das hölzerne Pferd ist überflüssig geworden. Brecht hat 1933 ähnliche Berlin-Gedichte geschrieben; er hatte freilich unmittelbarere Gründe, den Reichstagsbrand mit Neros brennendem Rom zu vergleichen. Kunerts Berlin geht lautlos unter, und es gibt keinen anderen Anlaß als einen Blick über die Oberbaumbrücke. Ein Kassandra-Gedicht. Wir wissen, wie sehr Kassandra recht hatte. Wird auch Kunert recht behalten?
Berlin ist Kunerts Troja. Aber wir lesen das Gedicht so, wie es vermutlich gelesen werden will: symbolisch. In das Bild der lebendigen Stadt ist jenes andere, die Untergangsvision, eingeblendet, und es ist nicht Berlin allein, sondern die Glitzerfassade vieler Städte. Auch sie werden versinken und vergehen. Daß die Erde tatsächlich unbewohnbar werden kann, wissen wir seit kurzem, da der apokalyptische Rauch auch jene erreichte, die sich für unverwundbar hielten. Das ist kein unverbindlich-schönes Gedicht über Altern und Tod: nicht der einzelne vergeht und läßt eine strahlende Welt zurück, sondern die Welt vergeht und läßt den einzelnen übrig. Das Gedicht nimmt vorweg, was plötzlich jederzeit Wirklichkeit werden kann.
In einer derart tödlichen Bedrohlichkeit haben lyrische Allerweltsgefühle keinen Raum: das ist, so eindringlich der Rauch hier aufsteigt, das Gedicht eines Betroffenen, der seine Betroffenheit nicht lautstark zeigt. An dem Gedicht ist kein Wort zuviel, keine Zeile überflüssig. Ein formvollendeter Abschied, für immer. Mit dem letzten Vers ist das Troja-Schicksal nicht nur erfüllt, sondern auch hingenommen: so wird es sein.
Helmut Koopmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
Schreibe einen Kommentar