Helmut Koopmann: Zu Hilde Domins Gedicht „Tokaidoexpress“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Tokaidoexpress“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Tokaidoexpress

Wie ein Tokaidoexpreß
sind wir durch die Geschichte gefahren
und kaum noch zu sehen
Ich rede in der Vergangenheitsform
während ich atme sehe ich mir nach
ich bin das Rücklicht
Als Rücklicht
leuchte ich vor euch her
euch Dichtern eines vielleicht zweifachen
Zuhauses
des Bodens auf dem ihr bleiben dürft
euer Land wird immer größer werden
wenn die Erdoberfläche sich zusammenzieht
und die Grenzen zurückweichen
unter den Flügeln der Menschen
ihr könnt gehen und doch bleiben
und im Worte wohnen
vielleicht im Worte vieler Sprachen zugleich
doch im deutschen zuerst
im deutschen
an dem wir uns festhielten
Ich der letzte
kämpfe für euch alle
um den Stempel in diesem Paß
um unsern Wohnsitz im deutschen
Wort

 

Das Lebenszentrum der Sprache

Das Erlebnis der Hochgeschwindigkeit war ursprünglich ein Eisenbahnerlebnis. „Die vorüberjagenden Landschaften“, das Durcheinanderrütteln der Welt, „die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht“: Das alles verband sich mit den modernen Expreßzügen. Aber es ist nicht erst eine Erfahrung unserer Zeit – so hat sich Joseph von Eichendorff 1845 geäußert. Heute würde jedes Kleinmotorrad den damaligen Expreß, der solche „Vehemenz“ vermittelte, lässig hinter sich lassen.
Der Tokaidoexpreß ist wesentlich schneller. Er hat noch nicht die Geschwindigkeit, die Chamisso satirisch dem „Dampfroß“ zuschrieb, als er die Eisenbahn der nach Westen laufenden Zeit hinterherrasen ließ, sie überholte und gestern von Osten wieder heraufkommen sah: fünf Jahre, bevor überhaupt der erste Zug in Deutschland fuhr. Dennoch ist das, was der Tokaidoexpreß dem Reisenden vermittelt, gar nicht so weit entfernt von dem, was Eichendorff und Chamisso verärgert oder satirisch beschreiben. Der Weg geht zwar nicht um den Erdball, sondern durch die Geschichte. Aber das Erfahrungs-Paradox ist ähnlich.
Die Dichterin als Rücklicht, das vor anderen herleuchtet, sich als vergangen betrachtend, während sie noch atmet: kein Eisenbahnerlebnis, sondern die Selbstbeschreibung eines Menschen, der eher ein Zuviel an Geschichte erfahren hat als ein Zuwenig. Und diese Geschichte war keine sehr freundliche. Sie, durch die die Dichterin so rasend hindurchgefahren ist, war eine ihr aufgezwungene. Sie hielt etwas bereit, was in der Regel Verlust, Tod und Untergang bedeuten konnte: Vertreibung, Flucht, Exil. Eine der großen leidvollen Erfahrungen unseres Jahrhunderts bestimmt auch das Gedicht vom Tokaidoexpreß.
Hilde Domin hat viele Gedichte über das Exil geschrieben, über das Fremdsein und über das Weggehenmüssen. „Der Wandrer / von Tag zu Tag / und von Land zu Land, / an dem das Wort / von der Flüchtigkeit / allen Hierseins / Fleisch ward“, heißt es in dem Gedicht „Apfelbaum und Olive“. „Fremder“, „Mit leichtem Gepäck“, „Vaterländer“, „Rückwanderung“ – die Gedichttitel sprechen ihre eigene Sprache. Was blieb, war die Sprache, dieses eine Vaterland, das mitgenommen werden konnte und das das andere mitersetzen mußte.
Von Elias Canetti wissen wir, daß er im Londoner Exil Wortlisten anlegte, nur um nichts von der deutschen Sprache zu verlieren. Sprachverlust ist die vielleicht schlimmste Form des Exils. „Mein Geist fühlt sich in Frankreich exiliert, in eine fremde Sprache verbannt“, schrieb Heinrich Heine nach Jahren in seinem Pariser Exil. Aber Hilde Domin, die ein schlimmeres Exil durchmachte, hat die wirkliche Verbannung triumphal überwunden – mit Hilfe der Sprache. In einem offenen Brief an Nelly Sachs 1966 heißt es:

Da wird einer verstoßen und verfolgt, ausgeschlossen von einer Gemeinschaft, und in der Verzweiflung ergreift er das Wort und erneuert es, macht das Wort lebendig, das Wort, das zugleich das Seine ist und das der Verfolger.

Dieses Lebenszentrum der Sprache blieb, und niemand weiß genauer um dessen Bedeutung als der, der nur noch jenen einen Wohnsitz hat, den „im deutschen Wort“. Wer so über die Sprache denkt, so mit ihr lebt und sie so braucht, für den gibt es keine Sprachschludereien. Für den kann das Gedicht sogar mehr sein als das Leben, nämlich „die Essenz des Gelebten: exemplarisch und vollziehbar gemacht“. Auch das steht im Brief an Nelly Sachs und ein Satz, der uns sagt, warum die Gedichte, die vom Exil handeln, nicht verlorengehen dürfen. Er lautet:

Die Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit.

Mag der Tokaidoexpreß auch vorübergejagt sein, dieses Gedächtnis bleibt. Hilde Domin hat für alle Verfolgten gesprochen, stellvertretend und beispielhaft.

Helmut Koopmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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