– Zu Walter Helmut Fritz’ Gedicht „Also fragen wir beständig“ aus Walter Helmut Fritz: Schwierige Überfahrt. –
WALTER HELMUT FRITZ
Also fragen wir beständig
aaaaaAlso fragen wir beständig
aaaaaBis man uns mit einer Handvoll
aaaaaErde endlich stopft die Mäuler –
aaaaaAber ist das eine Antwort?
Als Heinrich Heine das schrieb
als er mit letzten Amüsements
dem Verhängnis zuvorzukommen suchte
bei Gesprächen
das gelähmte Augenlid mit dem Finger hob
mit dem Opernglas
die Menschen auf der Straße beobachtete
da schleppte er sich
hinter sich selbst her
erfuhr er Last und Überlast
hatte er verstanden
daß man immer zu spät sieht,
wann etwas aufzuhören beginnt
stellte er sich die Frage,
ob alles unabänderlich sei
ach diese Vogelscheuche Vergänglichkeit.
Das Gedicht von Walter Helmut Fritz lebt entscheidend von dem Zitat, das hier integraler Teil des Gedichtes selbst geworden ist. Es evoziert die Situation des kranken Heinrich Heine, der an der Grenzlinie zum Sterben eben dieses Sterben ein letztes Mal hinauszuzögern versucht oder es doch zumindest nicht wahrhaben möchte. Das Gedicht ist trotz des gelehrten Zitates dabei nicht kryptisch, und es bedarf im Grunde genommen auch nicht eines ausführlicheren philologischen Kommentars, um verstanden zu werden.
Der Autor, der die Zeilen Heines zitiert, zitiert zugleich einige Szenen aus Heines Biographie, pointillistisch anmutende Situationen, die allerdings besser als jedes Gesamtpanorama die Situation des todkranken, zum Tode kranken Heine verdeutlichen. Diese Begebenheiten waren früher nur allzu bekannt; in den Jahren seiner Krankheit berichteten die Zeitungen häufig über seinen Leidensweg. Moritz Gottlob Saphir, der im August 1855 der deutschen Öffentlichkeit mitteilte, was er bei einem Besuch Heines erlebt hatte, konnte sich bereits damals auf das bekannte Krankheitsbild Heines berufen, wenn er schrieb:
Heine muß, wie bekannt, mit der einen Hand sein Augenlid in die Höhe heben, wenn er Jemand sehen will. (Begegnungen mit Heine, S. 400)
Die Zahl der deutschen Besucher Heines war Legion; sie alle berichteten entweder privat oder öffentlich über Heines Leidenszeit, und diese Berichte zogen sich über alle Jahre seiner sich immer stärker verschlimmernden Krankheit hin. Über die „letzten Amüsements“ wissen wir nicht viel – oder eben doch nur, daß Heine, immer stärker an seine „Matratzengruft“ gefesselt, Besuche und Gespräche schätzte, solange er zu ihnen fähig war, aber im Grunde genommen gab es nicht viel an „letzten Amüsements“. Bereits im November 1847 berichtete ein Besucher (Wolfgang Müller von Königswinter):
Es bot sich mir ein trostloses Bild menschlicher Hinfälligkeit. (Begegnungen mit Heine, S. 95)
Heine wußte nur zu gut um seinen eigenen Zustand, und der Bericht dieses Besuchers schließt:
Als ich ihm mit den besten Wünschen für seine Genesung die Hand reichte, versicherte er mir, daß er über alle Täuschungen hinaus sei und sich jeden Tag mehr und mehr absterben fühle. (Begegnungen mit Heine, S. 96)
Am schroffsten hat wohl Friedrich Engels in einem Brief an Karl Marx aus dem Januar 1848 Heines Befindlichkeit beurteilt, wenn er schrieb:
Heine ist am Kaputtgehen. Vor 14 Tagen war ich bei ihm, da lag er im Bett und hatte einen Nervenanfall gehabt. Gestern war er auf, aber höchst elend. Er kann keine drei Schritte mehr gehen, er schleicht, an den Mauern sich stützend, vom Fauteuil bis ans Bett und vice versa […]. Geistig ist er auch etwas ermattet. (Begegnungen mit Heine, S. 99)
Alles das war der deutschen Öffentlichkeit also mehr oder weniger bekannt; es sind diese häufig überlieferten, stereotypen Situationen, die hier im Gedicht von Fritz erscheinen. Aber das Gedicht endet nicht mit der Beschreibung der desolaten Situation Heines. Es zielt vielmehr auf die Erkenntnisse ab, die aus diesen Zuständen folgen, und wenn in der zitathaften Überschrift vom beständigen Fragen die Rede ist, so kommen von der Mitte des Gedichtes an gleichsam Antworten auf dieses beständige Fragen; nicht die biographisch orientierten Situationen vor dem Tode sind das eigentliche, zentrale Thema dieses Gedichtes, sondern vielmehr die Folgerungen, die Heine aus der Einsicht in seine Befindlichkeit zieht. Die syntaktischen Verhältnisse des Gedichtes lassen das auch klar erkennen. Denn auf das wiederholte „als“, mit dem Situationen des kranken Heine beschrieben werden, folgt, den zweiten Teil des Satzgefüges einleitend, das „da“: und den vier Eingangssituationen, die das Dasein des maladen Dichters beschreiben – die Niederschrift des Gedichtes, die „letzten Amüsements“, die Gespräche und das Beobachten der Menschen mit dem Opernglas –, entsprechen die im zweiten Teil des syntaktischen Gefüges gegebenen Erkenntnisse: sie werden ebenso, wie im ersten Teil aneinandergereiht Situationen beschrieben werden, gleichfalls additiv als Antworten darauf genannt. Läsen wir das Gedicht anders, also nicht in der vorgegebenen Ordnung der zweimaligen Reihungen, sondern so, wie sich die Situation und deren Exegese jeweils darstellen, dann würden diese Entsprechungen noch deutlicher. Eine einfache Umstellung und Zuordnung der jeweiligen Satzhälften würde zu folgenden vier Feststellungen führen:
Als Heinrich Heine das schrieb
da schleppte er sich
hinter sich selbst her
als er mit letzten Amüsements
dem Verhängnis zuvorzukommen suchte
erfuhr er Last und Überlast
(als er) bei Gesprächen
das gelähmte Augenlid mit dem Finger hob
hatte er verstanden,
daß man immer zu spät sieht,
wann etwas aufzuhören beginnt
(als er) mit dem Opernglas
die Menschen auf der Straße beobachtete
stellte er sich die Frage,
ob alles unabänderlich sei.
Die Sinnzuordnungen sind deutlich: am überzeugendsten in der dritten Antwort auf die dritte Frage, wo der erste Teil des Satzes („[als Heinrich Heine] bei Gesprächen das gelähmte Augenlid mit dem Finger hob“) die entsprechende Antwort findet („[da] hatte er verstanden, daß man immer zu spät sieht, wann etwas aufzuhören beginnt“). Dein Sehen, auch bei gelähmtem Augenlid, entspricht also die Einsicht, daß man zu spät sieht, wann etwas aufzuhören beginnt: hier ist es das Leben, das für Heine tatsächlich schon fast an ein Ende gekommen ist. So kommt den im zweiten Teil der Satzkonstruktion gegebenen Hinweisen die Rolle von Korrekturen zu, von Erkenntnissen, die als Antworten auf die vier dargestellten Situationen zu gelten haben. Wie sind sie zu verstehen?
Ist die Antwort auf die dritte Situation, die vom Sehen bei gelähmten Augenlidern handelt, noch ohne weiteres plausibel, als Erkenntnis verständlich und akzeptabel, Ausdruck der verspäteten Einsicht in ein so notwendiges wie unabänderliches Ende, so fehlt es bei den anderen Antworten zumindest auf den ersten Blick an Eindeutigkeit; und hier wird das Gedicht, das an sich so verständlich und durchaus nicht kryptisch begann, dann doch zunächst rätselhaft, zweideutig. Denn was heißt es, daß Heinrich Heine sich hinter sich selbst herschleppte, als er sein Gedicht schrieb? Daß er „mit letzten Amüsements“ (2) „Last und Überlast“ (10) erfuhr? Daß der Blick durch das Opernglas auf die Menschen auf der Straße die Frage auslöst, „ob alles unabänderlich sei“ (15)? Die Antworten sind aber dennoch nicht unverständlich oder das doch nur dann, wenn man von ihnen rationale Aufhellungen erwarten würde. Doch schon die von Fritz zitierte Strophe Heines läßt ja vermuten, daß die Antworten hier anders ausfallen, als sie von der Frage her möglich sein könnten: und so wie Heine seine eigene Frage durch das Stopfen der Mäuler mit einer Handvoll Erde beantwortet sah, so werden auch die Situationen, die hier in den Rang von Fragen versetzt werden, ebenfalls auf paradoxe Weise beschieden: etwa damit, daß Heine sich hinter sich selbst herschleppte, als er sein Gedicht schrieb. Was heißt das? Das Bild zielt auf eine eigentümliche Dissoziation von sich selbst ab, freilich nicht, um damit einen Identitätsverlust zu veranschaulichen, der hier eingesetzt haben könnte. Tatsächlich geht es wohl eher in einem mehr temporalen Sinne um die Beschreibung einer eigentümlichen Postexistenz, um ein Hinter-sich-selbst-Hergehen, das nur dadurch möglich wird, daß der Dichter aus früherer Zeit, der glücklichere Heine – nicht umsonst hat er sich ja einmal mit jenem anderen, weimarischen Jupiter verglichen –, hier endgültig vergangen erscheint, jener andere, beständig fragende hingegen noch gegenwärtig: dem heiteren Heine vor 1848 folgt der leidende, der auf seine Fragen keine oder doch nur eine letzte, nicht mehr widerlegbare Antwort bekommt. Auf ähnliche Weise läßt sich die Erkenntnis auf die zweite Lebenssituation hin, die hier beschrieben wird, verbalisieren. Heine, der „mit letzten Amüsements“ dem Verhängnis, dem Tod also, zuvorzukommen suchte, erfuhr „Last und Überlast“. Das letzte Amüsement schlägt um in Beschwernis; der Wunschtraum, dem Tod zu entfliehen, endet in der bitteren und wahrhaft bedrückenden Erkenntnis, daß es nur Lasten gibt und mehr, eben eine „Überlast“: auch das eine eigentümliche Verdoppelung dessen, was hier erfahren wird. In eben diese Richtung geht auch die verständlichste Antwort, nämlich jene Aussage auf die dritte Situation, die das Lähmungsleiden Heines beschreibt. Was jener Halbgelähmte sieht, ist nichts Realistisch-Konkretes. Er hat eine Ein-Sicht im ursprünglichen Sinne: Heine sieht, daß nichts mehr ist, da jenes bereits vergangen ist, was er noch wahrzunehmen meinte, als er das gelähmte Augenlid mit dem Finger hob. Wiederum also eine paradoxe Situation, Erkenntnis der Unzulänglichkeit seiner Erfahrung, wobei diese Erkenntnis auch noch zu spät kommt, irreparabel und unaufhebbar ist wie jene anderen Einsichten. Schließlich die vierte Situation, der mit dem Opernglas die Menschen auf der Straße beobachtende Dichter: er stellt sich die nicht unverständliche, aber überraschende Frage, „ob alles unabänderlich sei“. Sie ist deswegen überraschend, weil jenes Hin und Her auf der Straße an sich alles andere als eine Herausforderung zur Ewigkeitserkenntnis ist, da nichts veränderlicher zu sein scheint als eben eine Straßenszene; aber wie schon auf die vorangegangenen Situationen Einsichten antworteten, die auf den ersten Blick hin rätselhaft waren, bei einigem Nachdenken dann aber ihre Paradoxie verloren, so folgt auch hier die vierte Erkenntnis auf zunächst überraschende, dann aber akzeptable Weise: überraschend, weil eben die Diskrepanz zwischen dem Veränderlichen und dem Unabänderlichen so ungeheuerlich ist, verständnisvoll und einsichtig, weil dann, wenn alles unabänderlich sein muß, das auch für die beliebige Straßenszene gilt, die Heine durch das Opernglas beobachtet.
Alle diese „Einsichten“, so paradox sie zunächst auch formuliert sein mögen, entsprechen damit zugleich jener Erkenntnis, von der Heines Gedicht schon berichtet. Die Schlußzeile nimmt alles vorher Gesagte dann noch einmal auf und gibt eine, kommentierende Antwort auf Heines und des Autors beständiges Fragen: „ach diese Vogelscheuche Vergänglichkeit“. Es ist das Gemeinsame in den Spukbildern, von denen hier die Rede ist, Vergänglichkeit die dem Bewußtsein drohende Gefahr, die Heine so deutlich spürte. Auch darin ist das Gedicht historisch gesehen „richtig“: die Berichte über Heines Vergänglichkeitsangst sind ebenso zahlreich wie seine lyrischen Äußerungen zum Tod; der ist ihm nicht als Erlösung, sondern in seiner Schrecklichkeit erschienen, wenn er ihn in Gedanken vorwegnahm, ohne ihn bewältigen zu können. Daß die Vergänglichkeit hier als Vogelscheuche erscheint, ist dabei weder ein lächerliches noch ein pejoratives Attribut: Vergänglichkeit ist für Heine wie für Fritz nur vergleichsweise zu erfahren, nicht an sich, da das wirkliche Erlebnis der Vergänglichkeit, also die Erfahrung des Todes, ja gleichzeitig das Ende des Bewußtseins wäre. So sind die Schreckbilder des Todes eben nur als Schreckbilder zu erkennen, erscheint Vergänglichkeit nur als Vogelscheuche. Heine in seinem Gedicht und der Autor in dem Gedicht über das beständige Fragen nehmen vorweg, was nicht realiter, sondern nur imaginativ antizipiert werden kann. Es sind Vorerfahrungen des Todes, und am Beispiel Heines, der sie aufs deutlichste kennengelernt hatte, werden sie hier noch einmal dargestellt: vierfach ist von der Vergänglichkeit die Rede, vierfache Ängste gibt es, vierfache Antwort, und sie alle sind Todesannäherungen; sie stehen am Ende im Widerspruch zu den „letzten Amüsements“, dem letzten Schreiben der Gedichte, den Gesprächen und dem Beobachten der Menschen auf der Straße. Aus noch vergleichsweise alltäglichen Situationen heraus kommen Feststellungen, die verständlich, wenn auch nicht mehr klar analysierbar sind, aber in jedem Fall endgültig, das Unwiderrufliche des Todes antizipierend. Das Schlußbild ist alles andere als tröstlich, die Vogelscheuche Vergänglichkeit Bild und übersinnliches Zeichen zugleich. Hier ist noch einmal das Abstraktum mit dem Konkretum zusammengebunden, so wie es durch das ganze Gedicht hindurch der Fall war, wenn auf die Situationen, die jedermann vorstellbar und einsichtig waren, etwas antwortete, was den Bereich des Sichtbaren zum Visionären hin ausweitete, etwas Abstraktes nur intellektuell Erfahrbares. So ist die „Vogelscheuche Vergänglichkeit“ denn die letzte Antwort auf das beständige Fragen, zugleich ein Schlüssel zum Verständnis des Heineschen Gedichtes, wie es uns von dem Autor Walter Helmut Fritz nahegelegt wird.
Das Heine-Gedicht stammt aus dem Zyklus „Zum Lazarus“, wie er erstmals im ersten Band der Vermischten Schriften von Heinrich Heine (Hamburg 1854) veröffentlicht wurde. Die von Fritz zitierten Verse sind die Schlußstrophe des Eingangsgedichtes des „Lazarus“-Zyklus, der im ganzen sechzehn Gedichte enthält. Sie alle handeln von der Vergänglichkeit und antizipieren gedanklich den Tod, beschreiben häufig aber auch noch etwas vom früheren Leben. Heine hat sich im Bilde des Lazarus zweifellos selbst erkannt; er neigte gerade in seiner Spätzeit zu derartigen Identifikationen. Fritz hat als er die letzte Strophe des Eingangsgedichtes zitierte und diese dann durch die überlieferten, hier im Kontext seines eigenen Gedichtes jedoch nur erdachten Situationen anreicherte, eine Dimension des Heine-Gedichtes freilich ausgeschlossen: denn die beständigen Fragen, die Heine stellt, sind nicht Fragen an den Sinn des Lebens an sich, sondern solche, die sich auf das scheinbar Ungereimte des Daseins beziehen. Die beiden vorangegangenen Strophen handeln nur von diesen „verdammten Fragen“, wie es in der ersten Heine-Strophe heißt; sie sind gegen die „heil’gen Parabolen“ und die „frommen Hypothesen“ gerichtet, die zwar eine Welterklärung liefern, mit der der Dichter Heine jedoch nicht zufrieden ist, zumal sie seine Fragen nicht sofort und direkt beantworten – während er darauf aus ist, sie „ohne Umschweife“ zu lösen. Die von Heine gestellten Fragen beziehen sich auf die Disparatheit der Verhältnisse, die unglaubwürdige Ungerechtigkeit auf dieser Welt, auf die Diskongruenz von Sein und Schein. Sie lauten:
Warum schleppt sich blutend, elend,
Unter Kreuzlast der Gerechte,
Während glücklich als ein Sieger
Trabt auf hohem Roß der Schlechte?
Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig. (Heinrich Heines Sämtliche Werke; S. 92)
Danach folgt die von Fritz zitierte Strophe. Die beiden vorangegangenen Strophen lassen nun deutlich erkennen daß die Fragen Heines nicht Fragen an einen allgemeinen Lebenssinn sind, sondern solche an die Gerechtigkeit auf dieser Welt: Heine sieht den Widerspruch zwischen dem vermeintlichen Sieger und dem wirklichen Verlierer. Der Gerechte ans Kreuz geschlagen, der Schlechte mit Ehren überhäuft: das ist ein altes Thema, das Heine schon mehrfach abgehandelt hat, am deutlichsten in seinem Romanzero. Dort ist in den „Historien“ von ähnlichem die Rede: der Dieb hat in dem Gedicht „Rhampsenit“ ungeheures Glück, im „Schelm von Bergen“ wird beschrieben, wie ein Schelm zum Edelmann wird, in den „Walküren“ siegt der schlechtere Mann, in „Schlachtfeld bei Hastings“ geht der Bessere zugrunde, in „Karl I.“ ist vom Tode eines Königs durch den Henker die Rede, in „Marie Antoinette“ vom Untergang der höfischen Welt, in „Pomare“ vom armseligen Tod der schönen Tänzerin, in „Der Apollogott“ von der ärmlichen Wirklichkeit des vertriebenen Apoll. Betrug siegt also über das Recht, Verrat über die Treue, das Schlechtere über das Bessere, Gaunerei über Adel, die Wirklichkeit über den schönen Mythos – es ist im Grunde Heines Geschichtsbild, wie er es in seinen späten Gedichten, vor allem eben im Romanzero beschrieben hat, und es versteht sich, daß Heine in seinem „Lazarus“-Zyklus nicht sehr viel anderes aussprach als das, was er 1850 in den Romanzero-Gedichten dargestellt hatte. Sie präludieren das hier Thematisierte, oder vielmehr: Heine nimmt hier noch einmal auf, was er schon in den „Historien“ des Romanzero erfragt und beschrieben hatte, und die Antwort, die er hier zu geben hat, ist so vorläufig wie das, was in den Historien dazu zu finden war, oder vielmehr: sie ist auch hier nicht möglich. Eben dieses beständige Fragen nach der offenbaren Ungerechtigkeit auf dieser Welt steht auch hinter der von Fritz zitierten Strophe. Fritz hat das freilich nicht mehr in sein Gedicht hineingenommen, aber dennoch sind seine Zeilen nicht Heine-fremd; nur daß er die Disproportionalität von scheinhafter Welt und unsichtbarem, aber wirklichem Dasein transponiert hat in eine solche von äußerer Situation und eigentlicher Erkenntnis. In einem freilich treffen sich beide Gedichte, das Heines und das von Fritz: in der ängstlichen Beschwörung der „Vogelscheuche Vergänglichkeit“.
Die tiefere Gemeinsamkeit zwischen diesem Gedicht von Fritz und Heines späten Gedichten ergibt sich jedoch aus der Todesthematik, wie sie sich bei Heine im Grunde genommen nicht nur in den späten Texten findet, auch wenn sie dort vorrangiger ist, sondern bereits ganz früh, schon im Buch der Lieder. Bei Walter Helmut Fritz zieht sie sich zumindest durch den Gedichtband, in dem dieses Gedicht steht, das, zitathaft, die erste Rubrik der in Schwierige Überfahrt versammelten Gedichte bestimmt. Es sind neunzehn Gedichte unterschiedlichster Inhalte, Länge und Motivik. Untergründig zentrales Thema ist dennoch überall die Vergänglichkeit, und von dorther ist Heines Strophe und das dieser zugeordnete eigene Gedicht zu Recht das Schlußgedicht dieses Zyklus, ohne daß engere stoffliche oder motivliche Bindungen innerhalb der Gedichte bestünden. Zeit und Vergänglichkeit sind Leitthemen auch der folgenden in diesem Band versammelten Zyklen: in „Was auch du nicht hast“ gibt es mythische Vertiefungen, Absenkungen ins „Uralte“, in die Zeit „vor Jahrtausend“. Die Situation des kranken Heine, der nur noch in der Wohnung warten kann, wiederholt sich andeutungsweise im zwölften Gedicht dieses Zyklus. Das Thema der Vergänglichkeit bestimmt auch den Zyklus „Den Blick auf Zifferblätter gerichtet“ – die Zeit als Gegenthema zur Vergänglichkeit, das Heute als Kontrast zum Gewesenen. Todesthemen finden sich schließlich auch im „Täglichen Anfang“, dem vierten Zyklus dieses Bandes: der Tod wartet! wie es in „Nach der Überschwemmung“ heißt, „man sieht ihn draußen“. Auch hier ist das Titelgedicht ein Todesgedicht, und was für diesen Band gilt, gilt in etwa auch für andere Lyriksammlungen: so für Achtsam sein (1956) Bild und Zeichen (1958), Veränderte Jahre (1963), Zuverlässigkeit der Unruhe (1966), Aus der Nähe (1972), Auch Jetzt und Morgen (1979). „So viele Fragen“ heißt hier ein Gedicht und mit diesem fragenden Dichten ist eine Grundbefindlichkeit des Schreibens von Fritz genannt, das sich in seinen Gedichten immer wieder findet, das aber, in gleichsam epischer Mutation, auch in Romanen von Fritz begegnet, etwa in Bevor uns Hören und Sehen vergeht (1975). Dort ist der lyrische Stil ins Epische übersetzt, in die punktuelle Skizze, die Beschränkung auf die einzelne Situation, in das eigentümlich Unverbundene der Erfahrungen, in abrupte Erlebnisse und kontinuitätsloses Dasein, in die Schilderung konkreter Wirklichkeit bei gleichzeitigem Öffnen der existentiellen oder auch intellektuellen Hintergründe. Für die Lyrik gilt ähnliches. Auch die Zyklen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die kleinste Einheit die oft überraschend gesehene Situation ist; sie sind Summierungen solcher Situationen, oft eine Balance aus Gegensätzen herstellend. Selbst innerhalb der Gedichte schreibt Fritz nicht kontinuierlich, sondern eher pointillistisch: Unverbundenes ist nebeneinandergestellt, intellektuelle Erfahrungen sind mit Bildern gemischt, wobei oft gar nicht immer klar auszumachen ist, ob diesen eine Verdeutlichungsfunktion für jenes zukommt oder umgekehrt. Zu den Lehrmeistern von Fritz gehört offensichtlich Benn, sicherlich auch Robert Walser, dem mit dem Motto „Keine Beredsamkeit“ der Roman Bevor uns Hören und Sehen vergeht gewidmet ist. Manches mutet eigentümlich aphoristisch an, ohne freilich die zugeschliffene Form des pointierten Sprechens zu haben, und am Ende ist es die Existenz isolierter, vereinzelter, eigentümlich kommunikationsunfähiger Figuren, die im Roman ebenso begegnet wie in seiner Lyrik. Seine Lyrik ist freilich erinnerungsträchtiger, in seinen späteren Gedichtbänden schiebt sich der Süden, die Antike, Griechenland immer wieder vor die Gegenwart, aber auch das ist intellektuell erlebt, Erfahrung und Exegese zugleich, und hier eben sind Möglichkeiten wie auch die Grenzen der Lyrik von Fritz sichtbar: die außergewöhnliche Verfügbarkeit der Welt, das Schreiben-Können über fast alles, gleichzeitig aber auch das Aufladen des Erlebten oder Gesehenen mit Bedeutung und existentieller Exegese. Sinnbefrachtungen, ja Sinnüberfrachtungen intellektualisieren das Beschriebene, bis in metaphysische Dimensionen hinein. So sind die Einzelerlebnisse gewissermaßen Sprungbretter zu allgemeinen Erfahrungen hin, das Erlebnis kommt ohne die Reflexion nicht aus, diese aber auch nicht ohne das Erlebnis: und darin mögen sich tiefere Gemeinsamkeiten zwischen Walter Helmut Fritz und Heinrich Heine andeuten, als es das kurze Gedicht über Heinrich Heine, „Also fragen wir beständig“, verrät.
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Helmut Koopmann, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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