KARL MARX
Die einzige Demonstration,
bei der Karl Marx je
mitmarschiert ist, war eine
in London, gegen den Plan,
die Pubs am Sonntag früher
zu schließen. Vom Erfolg
jener Kundgebung angespornt,
schrieb er weiter an seinem Werk.
Narr, wer noch Gedichte schreibt,
es nutzt dem Konto selten was,
macht zuviel Arbeit, übrig bleibt
oft Mittelmaß, oft nicht mal das.
Dass Helmut Krausser in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich viele Buchstaben zu Papier bringt, ist a) bekannt und b) nicht weiter schlimm. Doch offenbar kreuzt er jetzt auch die steinigen Wege des nach griffigen Formulierungen fahndenden Kritikers und schreibt, wenn er schon mal dabei ist, gleich seine eigenen Rezensionen. „Oft Mittelmaß, oft nicht mal das“, die Zeile eines Krausser-Gedichtes, das später noch „posthum“ auf „Ruhm“ reimen und neckisch mit „latenten Talenten“ und „Enten“ spielen wird, beschreibt die Quintessenz aus neunundneunzig, zwischen – na klar – 1999 und 2003 entstandenen Texten schließlich einfacher, klarer und präziser als die wortgewaltigste Feuilletonautorität es wohl vermöchte.
Sicher, Krausser beherrscht das formale Handwerkszeug vom Alexandriner über das Sonett bis zur konkreten Poesie und hat immer wieder verblüffende Ideen. Da wirkt eine Haut wie ausgedacht, die Nacht bleibt mit ihrem Fallschirm in einem Baum hängen, und ein Bussard streicht den Himmel glatt. Doch das hilft den Leserinnen und Lesern nicht weiter, wenn Pubertätserlebnisse im Wellenbad mit dem Hinweis auf einen chlorreichen Moment beschlossen oder zum Thema Jack the Ripper Werbesprüche einer Kognakfirma angeboten werden, wenn Nacktputzfrauen das Parkett des lyrischen Ichs schrubben oder sich zwischen Alpen und Karpaten ein metrisch lockerer Hochgebirgsporno entwickelt. Kraussers Strom überschreitet die Peinlichkeitsgrenze, weil sich der Autor einem vermeintlichen Szenepublikum als hipper Verseschmied aufdrängt, ohne ausreichend Witz, Originalität oder doch wenigstens die obligatorische Kaltschnäuzigkeit in die Wagschale zu werfen. Und ohne solche Schlüsselqualifikationen funktioniert das – selbst in kulturell tristen Zeiten wie diesen – nur in Ausnahmefällen.
− Chlorreiche Momente: Helmut Krausser braucht viel Energie zum Dichten. −
Das sind Gedichte, die den schieren Umsatz feiern. In zwei Versionen findet man in Helmut Kraussers neuer Sammlung ein Gedicht auf einen Raubvogel. Und schlimm wird es erst dann, wenn der Tag ohne Opfer vorbeizieht: „beute / heute / keine / meine / beute / heute: / keine. / reine / weiße / scheiße.“ Krausser ist ein Schriftsteller mit starker Produktion und entsprechend hohem Verbrauch. Und es ist das Vergnügen des Lesers, diese literarische Maschinerie in Betrieb zu sehen. Dabei darf man allerdings nicht erwarten, daß der Dichter mit den Kraftstoffen heikel verfährt; alles, was irgendwie einheizt und brennt und Watt gibt, wird genommen – und sei es eine dick geschmierte Stulle.
Und nun die Überraschung, die virtuose Leistung des Künstlers: gerade das Stullen-Gedicht gehört zu denen, die in dieser Sammlung die schöne Form vertreten. Der Mann, der da so heftig nach dem dick belegten Brot giert, „− scheiße, ich hab hunger!“ – und seinem „lateinschwachen kebsweib“ androht, gleich in die Küche zu kommen, erhält die zarteste Antwort:
− das wär so schön, ich glaub,
ich müßte sterben, wäre selig,
säh ich dich denn, aug in aug,
über der so dick belegten
stulle, die da deiner harret.
Nun ist das belegte Brot kein Ding an sich, sondern ein Spielzeug im Liebeskampf zwischen ihm und ihr. Ein anderer Trieb als der nach Nahrung scheint auf: „der feiste glanz im schinkenspeck / am bildrand wirkt obszön“, heißt es in einem anderen Gedicht. Das Stilleben ist, wie Krausser sagt, „kryptische Pornographie“, buchstäbliche Fleischeslust. Sie bleibt nicht unschuldig. Aus der Gier und dem Hunger ergibt sich der elementare Machtkampf:
Haste mal ’ne Kippe?
Hier haste. Sag danke.
Danke.
Lauter.
DANKEE.
Na bitte.
Wer hat, der kann sich in Italien der Phantasiewelt der Spätantike hingeben, wenn er auf den Rosé wartet:
ecco. prego. grazie.
trinkgeld geben. kaiser sein
über rom, im lichten hain.
Weil das Selbstbewußtsein dieses Dichters im Energieverbrauch begründet ist, spielt auch die Rivalität, besser gesagt: die Demütigung der kaum konkurrenzfähigen mittleren Talente, eine wichtige Rolle. Krausser hat einen scharfen Blick für die Akten der Schwarzhändler im „archiv / der tauschgeschäfte mensch“. Ein herrliches „Buchmessenrondo“ des Niedermachens und der Unterwürfigkeit endet in dem folgenden Dialog:
„Ja du hast vollkommen recht
nicht ich du bist der
beste deutsche literat.“
„Ich bin wahnsinnig wichtig
du nicht so aber weißt
du was: ich mag dich.“
Aus den Trieb-Stilleben, den Dichterkämpfen und der Energie-Verausgabung folgt logisch der Gedanke an den Tod, manchmal nur angedeutet: „Wofür sich in Askese üben? / Das lernt sich. Automatisch. Drüben.“ Einmal zitiert Krausser auch das alte Lied vom „Schnitter Tod“.
Witzig bis barsch antwortet Krausser auf die Tradition – sie reicht in diesem Band von der Bibel und Tausendundeine Nacht zu Keats, Spengler und Montherlant −, die er rücksichtlos in die Gegenwart zerrt. Auf Rilkes Zeile aus der Duineser Elegie, der der Engel abhanden gekommen ist – „Wer, wenn ich schriee, hörte mich?“ – kommt die ruppige Antwort: „,Na ich. / Was hast du denn / hier rumzuschrein?‘ / ,Ach, ist nicht / so wichtig, nein.‘“ Oder ein anderer Dialog: „,Unter uns: Ich bin ohne Sünde. / Darf ich den ersten Stein werfen?‘ / ,Nein, du hast neulich schon.‘“ Schöner kann man den Aufprall der großen Sätze auf die Gegenwart nicht ausdrücken.
Helmut Krausser hat sich immer schon die Stoffe und Formen geholt, wo er sie finden konnte: den Roman, das Theaterstück, das Hörspiel, die Musik, auch das Schachspiel. Man kann ihn sich als den Dichter mit dem Baseball-Schläger vorstellen, der hier und da den Ball wunderbar trifft – und man muß nicht verzweifeln, wenn der Schlag auch mal ins Leere geht. Das Schauspiel des Dichters als starker Mann ist an sich schon die Lektüre wert, vor allem, wenn die Gegenwart so genau ins Bild kommt wie hier. Ja Krausser selbst hat in diesem Band aus dem Verfehlen eine eigene Form gemacht, indem er eine „Gedichtbaustelle“ aufnahm. Die Szene ist ein griechischer Urlaub mit Freiluftkino:
deutsche fallschirmjäger, damals,
kreta – (unklar, was genau)
am morgen huschte eine frau
schwarz gekleidet über ein
riff aus (was denn? schiefer? sandstein?)
Dem Gesetz des raschen, intensiven Energieverbrauchs gehorchen allerdings auch die Pointen dieser Gedichte. Krausser scheut das Alberne keineswegs; wenn gar nichts mehr geht, muß der Witz eben irgendwie reingehauen werden. Er wird schon passen. Eine schöne Reminiszenz an die Blicke, die der Knabe im Schwimmbad einer Schönen zuwarf, endet im „chlorreichen Moment“. Das Gedicht „Die Sache mit dem Zwergenchamäleon“ ist ein Gag, der geradewegs aus der Welt des Käpt’n Blaubär stammt: Der Sprecher – Krausser selbst war übrigens zeitweise Radiosprecher – hat „waf fiffen den Fähnen“ – eben das im Titel angesprochene Tierchen, das sich von Essensresten ernährt und den Beischlaf stört.
Ins Alberne gehen auch die „letzen silben berühmter männer“ – viel kommt nicht dabei heraus, aber der Dichter zieht die Schnodderigkeit allemal der Sentimentalität vor. So wird auch die Liebe zwischen zauberhafter Anziehung und härtester Desillusionierung geschildert. Manchmal scheint es fast, als sei das Alberne die Kehrseite von Kraussers Helden-Projekt, etwa in dem Gedicht „Grabkiesel“: „AUF DIESEM KÜHLEN GRUNDE / LIEGT EINE HASELMAUS. / VERSEHENTLICH ERSOFFEN. / IM FELDE UNBESIEGT.“
Und immer wieder wird auf den Heldentod angespielt. Das Gedicht auf den Bussard – „Großer Vogel vor der Sonne“ – gibt erst in der zweiten Fassung dem Gedanken an den Tod Raum:
Oben. Teil von allem sein.
Scheinbar fremd, dazugehören. Beizeiten abgehn können wie ein
großer Vogel vor der Sonne.
Wer diese Gedichte liest, sollte es so tun, wie Krausser sie geschrieben hat: beiläufig und konzentriert zugleich. Dann wird er bemerken, wie die Gegenwart zu sprechen beginnt.
Nach den Romanerfolgen der letzten Jahre legt Helmut Krausser nun mit Strom seinen zweiten Lyrikband vor. 99 Gedichte aus der Zeit von 1999 bis 2003 umfasst er und der Sprachberserker bleibt sich treu. Mal hart bis schmerzlich eindeutig, direkt, indiskret, mal von spröder Poesie wie in den Romanen fallen seine Gedichte wie Glassplitter aus dem Dichterhimmel. Und dennoch, er kann auch überraschend anders, da wird er auf herbe Art verspielt oder fast Ringelnatz-artig böse nett wie in „Die Kanine und der Frett“. Ironisch ist er gern, um gleich wieder umzuschwenken oder in „Leuchtmusik“ mit wenigen Zeilen ein starkes melancholisches Bild zu zeichnen, das nachdenklich macht. Spielereien und Experimentelles sind eingestreut oder so Skurriles wie das wunderbar unanständige Gedicht von der „Nacktputzfrau“.
Die freie Form überwiegt und er erlaubt sich, nicht nur sich selbst sondern überhaupt jeden, der noch Gedichte schreibt, zum Narren zu erklären. Besonders köstlich aber sind seine Elaborate aus der Reihe „Historische Gedichte und alkoholische Zusammenhänge“ von heimtückischer Hintergründigkeit, wenn er da vom Ansporn für das Werk eines Karl Marx oder über den reuigen Jack the Ripper philosophiert. Um schließlich als wahrer Philosoph von der nachttrunkenen Art die grandiose Kain-und-Abel-Frage zu stellen, die dann so herzlos undankbar unbeantwortet bleibt.
Puristen und Germanisten werden vielleicht ihre Mühe mit diesen poetischen Geistessplittern haben, zumal manches einfach nur schräg ist. Eines aber ist der Poet Helmut Krausser immer: herzerfrischend unvorhersehbar! Und für Zweifler an seinen Talenten seine klare Antwort mit dem Gedicht „kritiker“:
und denkst du gar, jetzt bin ich wer
kommt irgendwo ein wichtlein her
und sagt dir, dass du niemand bist.
was letztlich sicher richtig ist,
betrachtet man den stoßverkehr,
dahinter, weit und still, das meer.
Wie gewohnt sprachgewaltig kommt Krausser daher, pointiert und stilsicher, klassisch & modern, schockierend & entführend, überraschend & kurzweilig… Von der ersten Zeile an ist man eingenommen von dem Werk, liest und versinkt, blättert weiter, verschlingt nahezu die Zeilen, ruft sich selbst zur Mäßigung, spürend, dass man sich um den Genuss des ersten „Erlebens“ bringt, bricht ab, um gleich wieder weitereilen. Ein einzigartiges Vergnügen…
Helmut Krausser ist zurück (aus dem Ultrachronos) und nie, nie, nimmer nie, war er besser als in diesen Gedichten. Sie repräsentieren die Quintessenz des Krausserschen Schaffens! Dass es zur Zeit nichts schöneres (ja! diese Gedichte sind schön) nichts formvollendeteres (ja! er kennt die Formen!) nichts spannenderes (ja! auch 4 Zeilen können ein Spannungsbogen sein) in der Lyrik gibt, können Sie ganz einfach feststellen: kaufen & lesen & lesen & lesen…
Thorsten Schulte: Mitgerissen in einem Strom chlorreicher Momente
literaturkritik.de, Dezember 2004
Helmut Krausser rezitiert sein Gedicht „Ich summte in Madrid“. Live-Mitschnitt vom Internationalen Gipfeltreffen der Poesie am 23.10.2012 im Literaturhaus München (20 Jahre DAS GEDICHT).
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