– Zu Günter Kunerts Gedicht „Den Fischen“ aus Günter Kunert: Die Schreie der Fledermäuse. –
GÜNTER KUNERT
Den Fischen
Den Fischen das Fliegen
Beigebracht. Unzufrieden dann
Sie getreten wegen
Des fehlenden Gesanges.
Ein politisches Gedicht? Ganz gewiß. Indessen auch: nichts weniger als das. „Wenn man“, so Günter Kunert 1981 in einem Interview, „eine politische Einstellung aus einem Gedicht herausliest, so frage ich mich immer: Und wo ist das Gedicht?“
Der Vierzeiler dürfte Anfang bis Mitte der sechziger Jahre geschrieben worden sein, gedruckt findet man ihn in dem Band Verkündigung des Wetters. Damals wurde Kunerts poetische Entwicklung von den Verwaltern des sozialistischen Realismus bereits mit Mißtrauen beobachtet. Hatte man anfangs seinen von Brecht beeinflußten, eher optimistischen Gestus (Veränderbarkeit der Welt) beifällig registriert, so verursachten nun seine stärker werdenden skeptisch-ironischen Akzente zunehmend Irritation.
Wer sind die Fische, die dem Meer entrannen und nun zu der schönen Kunst des Fliegens befähigt sind? Wer sind die Unzufriedenen, welche die Fliegenden treten, weil sie nicht singen? Ist das Fliegenkönnen allein schon Befreiung, oder fehlt da noch etwas, damit Gesang ertöne? Meint der fehlende Gesang das Ausbleiben von Jubel? Jubel worüber? Welche Enttäuschung ist da im Spiel? Auf solche Fragen lassen sich unschwer politische Antworten geben; sie aber umstandslos hinzuschreiben, würde sofort ihre Banalität deutlich machen. Kunert ist ein Dichter, kein lyrisierender Protestler in politischer Absicht. „Eine Ahnung von der Verkehrtheit der Welt“, so notierte er 1976 in Ost-Berlin, „lebt in jedem Gedicht, nicht unbedingt als Protest, eher als ein Verwundern über das, was sich Mensch und Menschenwerk nennt; das lyrische Bewußtsein ist stets ein ontologisches, das noch in dem winzigsten Entwurf eine Ahnung des ganzen Seins einbringen möchte.“ Das ist eine andere Antwort. Sie betont anthropologische Skepsis gegenüber jeglichem optimistischen Positivismus, den Erfahrung fortgesetzt Lügen straft.
Aufschwung und Absturz, dieses Thema durchzieht Kunerts gesamte Lyrik. Das Motiv des Fliegens ist bei ihm fast ein Leitmotiv. Immer wieder träumt er davon, die natürliche Gabe des Fliegens zu besitzen.
Gedichte ohne die Botschaft von Hoffnung und Trost, können sie gleichwohl tröstlich sein? Gewiß in dem einen Sinn, daß sie Gedichte sind, Gebilde der Kunst. Ihre äußerste Möglichkeit ist die von Erkenntnis. Kunerts Gedichte sind blitzhafte Erhellung von Finsternissen; erkennbar werden, in subjektiver Brechung, die objektiven Resultate des immerwährenden Scheiterns von Vernunft.
Wohin kehren die Fische zurück, denen man das Fliegen beigebracht hatte und die, weil sie nicht sangen, getreten wurden? Ins Meer, aus dem sie kamen. Die Metapher des Meeres begegnet uns in demselben Band, der diesen Vierzeiler enthält, noch einmal, nämlich in dem Gedicht „Wie ich ein Fisch wurde“. Die sechste Strophe lautet:
Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
war dem neuen Element ich angepaßt.
Der hier, zum Fisch herabgesunken, die Stimme verlor: ist’s der, der dem Meer entkam, in die Lüfte stieg und gleichwohl nicht zu singen vermochte? Ein beklemmendes Motiv, ein Motiv der Angst, der Angst des Dichters vor dem Verstummen. Auch Günter Kunert war von diesem Trauma nicht verschont. Er hat seine Sprache wiedergefunden. Das politische Moment in dem vierzeiligen Gedicht ist nicht zu leugnen, es ist sogar wichtig – auf unaufdringliche Weise.
Helmut Lamprecht, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985
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