REGELPOETIK
Das nächste Gedicht ist ein Phantom. Es spukt so hin
und wieder. Das Phantom weiß, dass wir mit dreißig
aufhören, uns geistig zu entwickeln. Es sucht Leute,
die anpacken können und nicht ihre Wunden lecken.
Wenn das Phantom gewollt hätte, dass das Gedicht
anders ist, hätte es es anders gemacht. Das nächste
Gedicht tritt in den Schatten und wartet ab. Das
aaaaaPhantom
muss eine Wirkung haben, die sich der Alltagssprache
entzieht – es sollte gleichzeitig Vergnügen bereiten
und Nutzen haben. Es kennt Horaz und redet in Rätseln.
Und falls es ausbleibt: nicht persönlich nehmen.
Die Menge an Einsendungen erlaubt es nicht,
auf jede einzugehen. Das Phantom ist okkultes Blut
im nächsten Gedicht. Es schont dich, bis du die Wahrheit
verkraften kannst. Das Gedicht wird automatisch erstellt
und trägt keinen Absender. Du wirst von ihm hören.
ist ein äußerst wacher und genauer Beobachter. Sein Blick fixiert das ganz Kleine, das Familiäre und das Tierische ebenso wie die großen Zusammenhänge: Geschichte, politische Verwerfungen, Klimawandel. Hendrik Rosts Fähigkeit, beides im Text zusammenzubringen, hart aufeinanderprallen zu lassen oder in geradezu zärtliche Balance zu bringen, ist außerordentlich. Kein Lamento sind seine Texte, sondern Konzentration auf die Dinge, wie sie entstehen, bleiben und vergehen. Oder großer Entwurf. Und immer wieder gelingen ihm hinreißende Landschafts- und Liebesgedichte, in denen das Leben über seinen Schatten springt.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2013
– Schwerelose Weltlichkeit: Hendrik Rosts Gedichtband Licht für andere Augen. –
Literatur führt immer Geistergespräche. Sie erhört die Stimmen der Vergangenheit, lauscht dem Kommenden seine Geheimnisse ab und gibt allem im Hier und Jetzt eine Gestalt. Der Lyriker Hendrik Rost versteht unter Schreiben sogar ausdrücklich ein Totengespräch. „Ad plures ire“ – zu den Vielen gehen – hat er einmal ein Gedicht betitelt und die Wendung, mit der die Römer das Sterben umschrieben, zum Prinzip der Poesie schlechthin erklärt. Jeder Vers fügt sich für ihn in „ein Dauermurmeln, das plötzlich an unvermuteter Stelle neu ansetzt“.
Dazu gehört, dass ihm auch die Idee des Zu-den-Vielen-Gehens erst durch Walter Benjamin zugewachsen ist.
Und dazu gehört, dass „Ad plures ire“ ein den Tod beschwörendes Motto des Russen Ossip Mandelstam trägt. Doch Rosts Gedichte waren nie schwer und schwarz, sondern bei allen Melancholien immer licht und transparent. Sie waren überdies stets voraussetzungslos zugänglich. Das gilt auch für seinen sechsten Lyrikband Licht für andere Augen, der in drei Abteilungen 66 Gedichte enthält und ihn auf der Höhe seines über die Jahre erworbenen Könnens zeigt. Wo er früher auf den Schultern literarischer Riesen gelegentlich über Prätentiöses stolperte, da geht er heute staunenswert bildsicher, elegant – und auf Zehenspitzen.
Aufgewachsen zwischen Ems und Ruhr, studierte der 1969 geborene Rost in Kiel Literatur und Philosophie und debütierte 1995 mit dem Band vorläufige gegenwart. Vor zehn Jahren war er Teil der 74-köpfigen Autorenschaft, die mit der Anthologie Lyrik von jetzt so etwas wie das Gründungsmanifest einer neuen Generation deutscher Dichter formulierte. Von den losen Gruppen, die daraus entstanden, hat er sich allerdings stets ferngehalten, und vor den Verschlingungskräften des Gravitationszentrums Berlin bewahrt ihn die Randlage von Lübeck, wo er heute mit seiner Familie lebt.
Aus dem Alltag stammt auch der Stoff seiner Gedichte – wenn das für die Augenblickskonstellationen und die Spannungen, die in ihnen wirken, nicht ein viel zu großes Wort wäre. Die Besichtigung einer Wohnung und ihrer unheimlichen Leere. Ein Spaziergang in der Lübecker Bucht. Ein philosophischer Dialog mit der vierjährigen Tochter. Eine „Notiz an das Neugeborene“. Eine Reise nach Paris. In Rosts überwiegend narrativen oder szenischen Gedichten, allesamt ungereimt in freiem Vers, wohnt ein stets erkennbares Ich, Du und Wir.
Andere Texte entwerfen Stillleben, wägen mit leichter Hand Gedankliches und verwandeln sogar Kierkegaards Begriff Angst oder Hegels Leib-Seele-Verständnis in einleuchtend Anekdotisches. Dabei verneigt sich Rost mit Motti und Variationen unter anderem vor Nicolas Born, Thomas Kling, Inger Christensen und Rolf Dieter Brinkmann, dessen aus der Selbstnegation geborenes „Gedicht“ er in „Inkarnation“ beerbt:
In diesem Gedicht wird kein Fleisch gegessen.
Dieses Gedicht ist nicht animalisch
Ein besonders glückliches Beispiel seiner Kunst ist das eröffnende Liebesgedicht „Und Maus“: „Seit wir eine unsichtbare Katze / haben, ist nichts mehr, wie es war“, beginnt es und erfindet im Herumschleichen des imaginären Tiers – „nur so ein Ball aus Energie“ – ein wunderbares Bild für das, was dieses Wir verbindet und zugleich eine poetologische Metapher.
Das Wort Gott kommt übrigens viermal vor, doch Rost bleibt zutiefst weltlich. Er beherzigt „No Ideas But in Things“, das alte Wort des von ihm verehrten William Carlos Williams: Vergesst die Begriffsluftschlösser der Metaphysik, hier auf Erden richten wir uns ein.
Von Celan ist in diesem Gedichtband die Rede, auch von Brecht. Aber die wahre Autorität hat ein anderer inne. Wir hören lediglich seine Stimme, von ferne sozusagen, durchs Telefon und aus einer schon fast wieder unvordenklichen Vergangenheit. Einmal habe Thomas Kling angerufen, so heisst es in dem Gedicht „Requiem“: „Er war es leibhaftig, ich kannte die Stimme –“ Aber der Angerufene, er wohnt in Berlin, „zweiter Hinterhof, lebendig begraben“, kommt nicht dazu, selber etwas zu sagen oder zu fragen. Thomas Kling soll lediglich mitgeteilt haben: „Ich beobachte, was du so machst. Dann legte er auf.“ Und ausserdem habe er auch noch gesagt: „Nimm deine Zunge und geh.“
Es ist gewiss das bewegendste Gedicht und eines der beeindruckendsten in Hendrik Rosts neuem Lyrikband Licht für andere Augen. Das „Requiem“ auf den 2005 verstorbenen Lyriker Thomas Kling ist eine ebenso erschütternde wie fröhliche Hommage an den „Meister“, was keineswegs ironisch gemeint ist. Kraftvoll schildern die Verse den Überfall des Anrufers und das Erstaunen des Angerufenen, und kaum vernehmbar hört man zwischen den Versen die Einsamkeit beider:
Mensch,
ich muss mit dir reden, dröhnte der Meister. Und redete.
Ich nickte, ein Kind, das magisch denkt.
Die zweite Strophe schildert eine Lesung Klings bei einem Buchhändler, der das erzählende Ich beigewohnt und bei der Kling impulsiv wie stets seine Gedichte vorgetragen hatte:
Immer wieder drehte er die Augen auf Weiss.
Nach einer Stunde fuhr er hoch: Alles Ärsche, zischte er,
die verstehen mich nicht.
Dann mündet das Gedicht in die Schlussstrophe, die das abrupte Ende des Gesprächs wiedergibt und das Verstummen und damit den Tod des Dichters andeutet. Seine letzten Worte müssen bereits aus der Erinnerung zurückgerufen werden, sie hallen nur noch nach: „Was hatte er gesagt? Nimm deine Zunge und geh.“ Könnte ein Vermächtnis fröhlicher, anschaulicher sein? Und gibt es eine schönere, vornehmere Verneigung vor dem Künstler des Mundraums und der Zunge, der Kling war? Hendrik Rost eifert dem „Meister“ nicht nach. Mit etwas Wehmut und vielleicht gar Pathos gedenkt er seiner, seine Verse aber bleiben glasklar, da wird nicht an den Wörtern herumgezerrt, keines wird entstellt, zerkleinert oder gestaucht, auf dass es anders und bestürzend neu oder falsch tönt wie oft bei Thomas Kling.
Gleichwohl behandelt auch Hendrik Rost seine Verse wie komplexe Instrumente der Erkenntnis. Er schärft unseren Blick auf die Welt und zuallererst auch unser Verständnis für das Tun des Dichters. „Tut das Unnütze, singt die Lieder“ heisst ein Gedicht, das Günter Eichs „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“ persifliert. Was man sich unter „Sand im Getriebe“ vorstellen kann, zählt das Gedicht auf, Harmloses und auch weniger Harmloses, dazwischen dann, ganz unvermittelt:
Binnenreim
im Gedicht
Da könnte man glauben, einer mache sich lustig über Gedichte, über Günter Eich, über die Geringfügigkeit eines Binnenreims angesichts all der Schrecken und des Elends. Die letzten zwei Verse nennen dann noch einmal eine andere Vorstellung von Sand im Getriebe: „was keiner erwartet / aus harmlosem Mund“. Nun wird klar: Was den Blick auf die Welt nur um ein weniges verrückt, vermag im Vertrauten das Unbekannte zu entdecken. Und was, wenn nicht das Wort des Dichters, wäre das Unerwartete „aus harmlosem Mund“?
Ist das pathetisch? Hendrik Rost jedenfalls ist kein Zyniker, und trotzdem bleibt er nüchtern genug, um die Kräfte des dichterischen Wortes nicht zu überschätzen. Mehr noch: Er kennt sich aus im sarkastischen Ton, den er gelegentlich auch gegen sich selbst ins Feld führt. In dem Gedicht „Stillleben“ liest man diese Verse:
Die Hand, die ein Schwert tragen
könnte, um Firnis zu zerschneiden,
rührt mit dem Stift in Gedanken.
Das klingt fast so martialisch wie „Schwerter zu Pflugscharen“ und droht als Bild vielleicht ein wenig in Schieflage zu geraten durch die (polemisch oder ironisch?) überspannte Gegenüberstellung von Schwert und Stift. Gleichzeitig aber kommt in aller Schärfe eine fast schon entmutigende Illusionslosigkeit zum Ausdruck. Was bleibt, wenn auf rohe Gewalt oder Kraft verzichtet wird? Ein wenig Aufruhr in Gedanken.
Manche sagen, dies sei wenig. Das Gedicht hält dagegen, nun doch weniger mutlos, als es den Anschein machte:
Warum nicht gut darin werden?
Und Rost assistiert dem keimenden Gedanken mit einem weiteren Gedicht.
Du hast die Seele eines Kriegers,
aber den Körper eines Beamten.
Wieder nimmt auch dieses Gedicht („Lass ab von Eitelkeit“) die etwas überzogene Gegenüberstellung auf, um dem Gedanken eine möglichst wirkungsvolle Bühne zu schaffen, auf der dann eine wundervoll sarkastische Pirouette gedreht werden kann:
Das sind deine Waffen,
die Zunge, zehn Finger,
Papierschiffchen faltend,
und zwei kurzsichtige Augen.
Thomas Kling hätte es anders gesagt, knapper, etwas verdreht, da und dort Buchstaben vertauschend, dass einem beim Lesen die Zunge in den Weg gekommen wäre. Aber an dem „Papierschiffchen faltenden“ Dichter, an dieser in die Harmlosigkeit drapierten Anarchie hätte er gewiss seine helle Freude gehabt.
Nein, Hendrik Rost leidet nicht an der Vergeblichkeit der Verse. Die Klage mag da und dort modisch geworden sein. Nicht jedoch hier. Rost bewahrt sich den spielerischen Gestus, seine Illusionslosigkeit darf man nicht mit Verzagtheit verwechseln, seine Nüchternheit nicht mit schmucklosem Realismus. Denn gerade seine präzisen erzählerischen Gedichte gehören hier zu den schönsten: „Dienst im Hölderlinturm“ heisst ein solches. Es zeigt furchtlos, aber auch umstandslos die Dinge, wie sie sind: „Was heisst schon normal“, werde angesichts von „Verrückten“ immer wieder rhetorisch fragend gesagt. Ihnen hält das Gedicht kein Argument, nur ein Bild entgegen, den verrückten Blick nämlich:
Wenn ihr es nicht wisst –
der Blick derer, denen zu fest
auf den Hinterkopf geschlagen wurde
oder die falsch eingestellt sind,
sagt es schon ganz gut.
Es sollte nicht überraschen, dass Hendrik Rost auch phantastisch gute und genaue Naturgedichte schreiben kann. „Lübecker Bucht“ ist eines davon und eines, das die winterliche Strandpromenade in eine Folge fast schwerelos schwebender Bilder verwandelt. Es ist das Gegenstück zum „Dienst im Hölderlinturm“, ganz spielerisch gestimmt, doch in der emphatischen Genauigkeit treffen sie sich. In dieser Aufmerksamkeit für die Erscheinungen der Welt und des Daseins, für die Nebensächlichkeiten und das Unscheinbare offenbart sich Hendrik Rosts Sprachkraft so sehr wie seine unbedingte Weltzugewandtheit, ja geradezu Weltbejahung. Der Titel seines Gedichtbandes – Licht für andere Augen – erscheint dann wesentlich weniger esoterisch, als man vielleicht glaubte. Gemeint ist das Licht der Sprache, das hier auf die Dinge fällt und sie anders und neu beleuchtet und sie darum sichtbar macht für andere, innere Augen. Dass wir mit den Augen lesen, ist zwar eine Binsenweisheit. Aber verständiges Lesen beginnt hinter der Netzhaut; mit den „anderen Augen“ ist darum hier der poetische Verstand gemeint.
Ein solches „Licht für andere Augen“ und Bilder für den poetischen Verstand schafft Hendrik Rost auch in einem Erinnerungsraum: Dieser findet sich hinter einer Tür, an der „Krieg“ steht: „Leg ich das Ohr ans Holz und lausche, / höre ich Musik, Klavierspiel.“ Es ist der Flügel der Grossmutter, den sie im Krieg auf der Flucht zurücklassen musste:
sie trug ihn einen Winter lang
mit immer ungelenkeren Händen
zu Fuss im Kopf mit sich herum
und spielte nie wieder im Leben
Der Enkel sieht sie leiden und hört sie lautlos spielen und öffnet im Gedicht einen Resonanzraum für die Erinnerung so sehr wie für die Töne. Mit dem Bild des an der Tür horchenden Kindes schafft sich die Erinnerung ihrerseits eine Tür, an der sie nach innen und zurück horchen kann: In dem einzigen Bild schiesst dann alles zusammen, was die Gegenwart von der Vergangenheit trennt und sie gerade darum auf immer bindet: der Nachhall in der Stille. Auch die Grossmutter hätte es sagen können: „Nimm deine Zunge und geh.“ Hendrik Rost hat es in diesen Gedichten aufs Schönste getan.
Sylvia Geist: Auf Fang aus
poetenladen.de, 20.10.2013
Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler untere der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.
Hendrik Rost liest sein Gedicht „Gesellschaftsvertrag“.
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