Henri Michaux: Dichtungen, Schriften I

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Henri Michaux: Dichtungen, Schriften I

Michaux-Dichtungen, Schriften I

AMOUREN

Du, die ich nirgendwo zu erreichen weiß und die du
aaaaadieses Buch
aaaaahier nicht lesen wirst,
die du stets ins Gericht gegangen bist mit den
aaaaaSchriftstellern,
den kleinen, kleinlichen, unwahren, eitlen Gesellen,
du, der Henri Michaux zu einem Eigennamen
aaaaageworden ist,
aaaaain allem vielleicht wie die, die man in den Vermischten Notizen
aaaaaliest, mit Alters- und Berufsangabe daneben,
du, die du in andrer Gesellschaft lebst, auf andern Flächen und
aaaaaFeldern, anders umhaucht und umweht,
aaaaaderenthalben ich mich jedoch überworfen hatte mit einer ganzen
aaaaaStadt, der Hauptstadt eines dichtbesiedelten Landes.
Und die du mir auch nicht ein einziges Haar zurückgelassen hast
aaaaabeim Weggehn, sondern bloß die Empfehlung, deine Briefe
aaaaaauch ja zu verbrennen –: bist nicht auch du jetzt zwischen vier
aaaaaWänden und ganz in Gedanken?
Sag, machts dir noch immer soviel Spaß, dir die schüchternen
aaaaajungen Männer zu angeln mit deinem samtenen Krankenhausblick?

Ich, ich habe noch immer denselben starren, verrückten Blick,
der irgend etwas Persönliches sucht,
irgendwas mir inmitten dieser unendlichen unsichtbar-
aaaaakompakten Materie Hinzuzufügendes,
das den Zwischenraum bildet zwischen den Körpern der als solcher
aaaaabezeichneten Materie.
Unterdessen habe ich mich aber einem neuen „Wir“ überantwortet.
Sie hat Lampenlicht-Augen wie du, sehr sanft, nur größer als die
aaaaadeinen; eine dichtere, tiefere Stimme; und ein Schicksal, so
aaaaaziemlich dem deinen ähnlich in seinem Beginn und seinem Verlauf.
Sie hat… Sie hat-te!
Hab sie morgen nicht mehr, meine Freundin Banjo;
Banjo,
Banjo,
Bibolabange du so bang,
Bilabonne du so süß, Banjo,
Banjo,
Banjo so allein-allein, Banjelein,
Banjeby,
so lauter Liebe, Lie-,
hab deine kleinen Brüste verloren,
-loren,
und deine unsägliche Nähe.

Sie haben alle gelogen, meine Briefe, Banjo … und jetzt, jetzt geh
aaaaaich.
Hab eine Fahrkarte in der Hand: 17.084.
Königlich-Niederländische Schiffahrtsgesellschaft.
Man braucht nur der Fahrkarte zu folgen und kommt nach
aaaaaEcuador.
Fahrkarte und ich, morgen machen wir zwei uns auf den Weg,
den Weg nach Quito – der Stadt mit dem Reim auf „couteau“.
Mir wird ganz eng, sobald ich daran denk.
Und doch wird man mir sagen:
aaaaa„Schön, dann soll sie eben mitfahren mit Ihnen.“
Ja gewiß doch, wir wollten ja nur ein kleines Wunder von euch da
aaaaada droben: ihr Haufen Müßiggänger, Götter, Erzengel, Erwählte,
aaaaaFeen, Philosophen, und ihr, meine genialen Kumpane, die ich
aaaaaso geliebt habe:
du, Ruysbroek, und du, Lautréamont,
der du dich nicht für dreimal Null hieltst; ein ganz kleines
aaaaaWunder, ja das wars, was wir von euch haben wollten, für Banjo
aaaaaund für mich.

Übertragen von Paul Celan

 

 

 

Die Last des Bewusstseins – Das Werk Henri Michaux’

Henri Michaux (der eine Jesuitenschule besuchte, der ein kurzes Medizinstudium begann und der – als sein Vater ihm untersagte, in den Benediktinerorden einzutreten – Matrose wurde) ist eine kontemplative Natur. Sein erstes Buch erschien 1927. Trotzdem war er, der nach Frankreich übergesiedelte Belgier, noch 1941 so unbekannt, dass André Gide in einem – vom Vichy-Regime übrigens verbotenen – Vortrag für ihn eintrat.
Zwar hatte Michaux schon lange für führende Zeitschriften gearbeitet; doch sein Werk, wenn es auch gewisse (von Rimbaud herrührende) Gemeinsamkeiten mit dem surrealistischen Zeitstil hatte, war so wenig modisch und temporär, dass man es ignorierte. Michaux war weder bereit, das Unterbewusste als Gottheit anzuerkennen und die aus psychischen Tiefen heraufdrängenden Automatismen und Assoziationen kritiklos und unreflektiert ins Werk eintreten zu lassen, noch war er willens, die spätere Wendung Bretons vom Introvertierten zum Extravertierten mitzumachen und sich dem Marxismus zu unterwerfen. Ein Mystiker im Grunde seines Wesens, weigerte sich Michaux, dem Utilitarismus zu dienen. Schreiben – das war für ihn ein Akt der Selbstsuche, eine Methode, in die Schächte des Ego Licht einströmen zu lassen – nicht aber, die Dunkelheiten ans Helle zu zerren, um mit ihnen dann den Geist zu verfinstern.
Wie sehr Michaux sich auch in der Unwissenheit und im Unbebausten weiss, die Intention seiner Arbeit richtet sich doch aufs Ergründen; nicht aufs Verfertigen künstlicher Geheimnisse:

Er suchte die Jugend, je mehr er selbst altert. Er hoffte auf sie. Noch immer wartet er auf sie. Aber er wird bald sterben.

Oder:

Die andern haben unrecht. Das steht fest. Aber er selbst, wie soll er leben? Immerzu handeln, ehe man weiss…

Man hat Michaux mit Kafka verglichen, und es gibt da auch Zusammenhänge. Dennoch lässt sich aus einer Gegenüberstellung nicht allzuviel Verständnis gewinnen. Beiden Dichtern eignet vielmehr eine gemeinsame Modernität des Erlebens, ein Weltempfinden, das nicht mehr von der Gewissheit eines heilen Ganzen beherrscht wird, sondern von der Einsicht in Dualismus, Fragmentarismus. Kafka erlebte diese Problematik allerdings noch theologisch, fühlte er sich als ein aus der Gemeinschaft herausgetretener, ja verstossener Einzelner, dem, wie er es formulierte, der jüdische Gebetsmantel davongeflattert war und der es nun zum Kreuz des Christentums zu weit hatte. Michaux sieht sich weniger besonders. Seine Vorstellung vom Ausgesetztsein ist nicht durch religiöse, rassische oder nationale Imponderabilien determiniert. Was er empfindet, ist das unromantische, aber rätselhafte Dasein in einer Welt, die bei allem anzutreffenden Materialismus doch etwas anderes zu sein scheint als eine kausale Maschinerie:

Er ging langsam, so langsam als möglich, damit seine Seele gegebenenfalls seinen Körper einholen konnte. Es beunruhigte ihn, und zwar sehr, dass er sich bloss mit zwei Dritteln seiner Seele auf den Weg gemacht hat, denn angesichts der Wechselfälle des Lebens ist man nie vollzählig genug.

Eine Eigenart Michaux’ (durch die er sich übrigens ganz wesentlich von dem eher masochistischen Kafka unterscheidet) ist seine sadistische Aggressivität, die sein verbales Um-sich-Hauen, das von fern an den – allerdings sprachlich und metaphorisch ausschweifenderen – Lautréamont erinnert. Die Gewalttaten, die Michaux in der Phantasie begeht (oder erleidet), sind sein Reagieren auf die nivellierende Vielzahl der Erscheinungen und auf das Unsicherheit, Angst und Müdigkeit stiftende Element der Zeit:

Der Mensch erträgt die Zeit nicht.

Zum Glück, so meint Michaux, werden wir uns jedoch der belastenden und deformierenden Zeitabläufe nicht unentwegt bewusst: einfach deshalb, weil unser Leben immer wieder zerscherbt; weil es in Stücke springt, die wir gedankenlos hinter uns lassen. Damit wir es aber überhaupt zuwegebringen, kontinuierlich Teile unserer Substanz und unseres Bewusteins abzuwerfen, bedürfen wir – mehr als der Stärke – einer uns auflösenden Schwäche; denn der Mensch:

Eigentlich träumt er von nichts anderem als davon, völlig herunterzukommen,… um sich dadurch… seiner selbst zu entäussern; so stark spürt er, dass, wenn ihm ein Rest von Persönlichkeit übrigbleibt, dies noch immer Kraft ist, deren Last ihm abgenommen werden muss.

Das beste Mittel zur Herabminderung der Ich-Kräfte sieht Michaux in der Liebe und vor allem in deren physischer Form, in der Sexualität. Denn Enthaltsamkeit hindert nur daran, sich von jenen Energien zu befreien, die Unruhe bringen. Der Enthaltsame „fühlt sich überfordert und nimmt Zuflucht zum Aether. Symbol und abgekürzte Form des Aufbruchs und der Nihilisierung, die er herbeisehnt. Doch trügerisch, wie alles übrige, schenkt der Aether Landschaften.“ Der Mensch wird also seine Vitalität und sein Bewusstsein nicht los. Alle Ausbrüche – seien es nun Grausamkeiten, Ausschweifungen, Heiligkeiten – führen stets nur vorübergehend aus der Wirklichkeit heraus. Sogar noch das Schaffen hektischer Ersatzwelten (das Eintauchen in die Irrealität; das Sich-Stimulieren durch Rauschgifte: Michaux nennt es „Reise durch die Medikamente“) entbindet auf die Dauer nicht der Notwendigkeit, die Realität bewältigen und durchstehen zu müssen:

DER SEE

So nahe die Menschen auch an den See herankommen, sie werden deshalb weder Frösche noch Hechte.
Sie bauen ihre Villen ringsherum, begeben sich fortwährend ins Wasser, werden Nudisten…
Gleichviel. Das unzuverlässige Wasser, für den Menschen nicht atembar, den Fischen treu und nahrhaft, fährt fort, die Menschen als Menschen und die Fische als Fische zu behandeln. Und bis zum heutigen Tage kann kein Sportler sich rühmen, anders behandelt worden zu sein.

Das hier angezeigte Buch ist das erste einer dreibändigen Ausgabe, die der S. Fischer Verlag in der Uebersetzung von Kurt Leonhard und Paul Celan nach Weisungen von Henri Michaux zweisprachig herausbringt. Allein dieser Band enthält Extrakte von 18 meist sehr schmalen – Publikationen aus den Jahren 1927 bis 1942 Die meisten Texte sind Mischprodukte aus Tagebuchnotiz, Meditation und („Un Certain Plume“) absurder oder brutaler Anekdote. Am schwächsten (am phantasie- und formlosesten) ist Michaux in seinen – ohnehin nicht zahlreichen – Poemen. Mit Band II und III soll das Werk komplettiert werden; so wird unter anderem Michaux Rechenschaftsbericht über seine Versuche mit Meskalin vorgelegt. Der letzte Band enthält ein Nachwort des Autors und einen bibliographischen Anhang.

Hans-Jürgen Heise, Die Tat, 24.3.1967

Die Erfindungen der Literatur

1899 geborene Belgier Henri Michaux begann in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zu publizieren. Man könnte ihn von seinen ersten Schriften her vage in den Umkreis der surrealistischen Bewegung einordnen. Wie die Surrealisten scheint der frühe Michaux seine Literatur als Reise nach Innen, ins Unterbewußte und in den Untergrund des Weltzusammenhangs zu verstehen. Allerdings fehlt der Nimbus des Eingeweihtseins, der die überzeugten Anhänger des Surrealismus sofort erkennbar macht. Stattdessen finden sich Schilderungen der Destruktion; die personale Sphäre wird vermindert und aufgelöst. Als Ziel der Darstellung erscheint die Rückbesinnung auf die Rudimente des in sich zurückgedrängten Subjekts, der inzwischen sprichwörtlich gewordenen Position des Solipsismus.
Eins der frühen Stücke lautet:

Wenn ich wenig esse, spüre ich Stürze in mir. Die Flasche vorhin, die umfiel; zuerst dachte ich, das sei ich. Nicht ich wars. Ich nämlich zerbreche nie. Mit der Geschwindigkeit eines Steins, ohne auf Widerstand zu stoßen, durchquere ich den Fußboden. Darauf stoße ich auf eine Gneisschicht oder auf irgendeine Pleistozän-Böschung, und wenn diese fest genug ist, so bleibe ich da. Oh, ich habe nichts von einem Forscher, ich gehe bloß spazieren, ich hole Murmeln aus der Tasche hervor und spiele. Immerhin sind es jetzt zehn Jahre, daß ich keine Murmeln mehr bei mir habe. Vielleicht lutsche ich an meinem Bleistift…

Solche Sätze nehmen, nicht nur im Äußerlichen, den „Molloy“ von Samuel Beckett vorweg, der ein gutes Dutzend Jahre später geschrieben wird. Wie Beckett, aber mit radikalerer Entschiedenheit läßt Michaux bereits im Ansatz die surrealistische Weltanschauung hinter sich – zugunsten einer literarischen Eroberung, die in ganz anderes Neuland führt.
Daß dieser instruktive und lehrreiche Vorgang nun endlich auch in Deutschland zu verfolgen ist (und daß darüber hinaus natürlich am Werk von Michaux erfahrbar wird, was im 20. Jahrhundert Literatur, Dichtung sein kann), haben wir einem Unternehmen zu verdanken, das nach einigen Fehlmeldungen nun endlich mit dem ersten Band im S. Fischer Verlag zu erscheinen beginnt. Es ist eine dreibändige zweisprachige Gesamtausgabe, die Paul Celan herausgibt und deren Auswahl bereits vor Jahren von Christoph Schwerin in Zusammenarbeit mit Michaux vorbereitet wurde. Der größere Teil der Übersetzungen stammt von Kurt Leonhard, der seit Beginn der fünfziger Jahre für Michaux in Deutschland geworben hat und seit 1954 mehrere Auswahlbände veröffentlichte. Ein Teil der Übersetzungen stammt vom Herausgeber Paul Celan.
Der jetzt erschienene erste Band der Sammelausgabe umfaßt Schriften und Dichtungen aus dem Zeitraum von 1927 bis 1942. Er endet mit den „Idées de Traverse“ (Quergedanken) aus dem Originalband Passages. Er geht also bis an die Grenze, hinter der dann das „Portrait des Meidosems“ und die „Epreuves, Exorcismes“ und die „Mouvements“ entstehen. Diese werden vermutlich das Schwergewicht des zweiten Bandes ausmachen, während dem dritten die drei Mescalinbücher und das in diesen Bereich gehörende große Gedicht „Paix dans les Brisements“ vorbehalten sein dürften. Schwerpunkte im ersten Band sind die Stücke „ Un certain Plume“ und „Au Pays de la Magie“. Die Auswahl ist umfassend; was fehlt, ändert das Bild nicht. Schon die Originalausgaben der Schriften Michaux’ hatten Sammelcharakter mit wechselnder Zusammenstellung. In dieser Ausgabe sind alle früheren Koppelungen aufgelöst zugunsten eines übersichtlichen Gesamtplans, dem man durchaus die Authentizität des Originals zugestehen kann. Die deutsche Ausgabe ist also zugleich der erste authentische Versuch einer Gesamtausgabe, deren inneres und äußeres Erscheinungsbild eine bewundernswerte Leistung darstellt.
Sichtbar wird nun (nicht zum erstenmal, aber in dieser Ausgabe doch wohl unübersehbar) der Weg eines schriftstellerischen Unternehmens, das nur wenig Vergleichbares in der Gegenwartsliteratur hat. Michaux setzt ein mit der Schilderung der anfangs skizzierten solipsistischen Situation. Er zerstört die Fiktion des Ich, auf das die Romantik und die idealistische Philosophie alles gesetzt hatten. Er dringt durch. Wohin? Nicht, wie der gleichaltrige Francis Ponge, in ein Wunder- und Fabelreich der Namen, der Wörter, die sich nun als die wahren Dinge und die letzte Dinglichkeit erweisen. Michaux dringt durch in neue Bereiche der Vorstellung, schreibend löst er Schichten des Bewußtseins und Halbbewußtseins auf, setzt das Gelöste spielend oder spekulativ neu zusammen und findet und erfindet sozusagen hypothetische Realitäten. Er imaginiert nicht im Sinne der Romantik. Nicht jene Phantasie, die etwa das Werk E.T.A. Hoffmanns oder Edgar Allan Poes bestimmte, führt ihn. Er denkt sich nichts aus. Er erfindet eher wie ein Wissenschaftler, jedoch nicht, wie dieser, um eines positiven Effekts oder gar einer Nutzanwendung willen, sondern um zu irritieren, bis in die innerste Schicht menschlicher Welterfahrung und Weltorientierung.
Wenn man generell Literatur als spezifisch menschliche Orientierungsversuche in einer zugleich beherrschbarer und befremdender werdenden Umwelt bezeichnen kann, so haben die Orientierungsversuche Michaux’ den Charakter von radikalen Desorientierungen. Das Material dieser Desorientierungen liegt nicht im reinen Vorstellungsbereich (wie er psychologisch zu erfassen wäre), sondern in jenen Bedeutungshöfen, die sich mit mehr oder weniger fest bestimmten Grenzen um die sprachlichen Fixierungen herum ausbreiten. Das Material stammt aus dem Zwischenbereich zwischen Bildvorstellungen, wie sie am gelöstesten der Traum zeigt, und der Assoziationsverlockung normaler Redesprache. Die Erzählungen von „Meinen Besitzungen“, von Plume, von der „Reise in Großgarabannien“, „Im Lande der Magie“ sind in formaler Hinsicht eher simple Berichte, hingeredet ohne kunstvolle Bemühungen. Wie später bei Beckett dient das Abbrechen und Neuansetzen der Rede als Stilmittel. Es wird versuchsweise gesprochen, manchmal wahllos, wie es scheint. Aber in dieser, wenn man das sagen kann, Unmittelbarkeit der Mitteilung wird nun alles aufgelöst, was noch gewohnt oder gewöhnlich sein könnte. In der Schilderung der erfundenen Länder spielen Namen die Rolle von Kennmarken, geschildert werden Verhaltensweisen des einzelnen, der Gemeinschaften. Manchmal blitzt etwas auf wie die schaurige Parodie auf bestimmte zeitgenössische Parallelen. Die Projektionen des Bürokratischen, wie sie sich bei Kafka finden, werden, so könnte man dann sagen, weitergetrieben in der gleichsam eingeborenen Bestialität. Aber das ist nur ein Aspekt, ein eher irreführender Aspekt. Der unvermittelte Zeitbezug ist beiläufig. Der historische Punkt, an dem die Arbeiten Michaux’ zu lokalisieren sind, ist nicht durch bloße Reaktion, Kritik oder „Wahrung der Menschenwürde“ gekennzeichnet. Michaux hat entdeckt, daß das Verhängnis der Epoche in der restaurativen Verhärtung begründet ist, im Anschein der Ordnung und der Wahrheit. Er zersetzt diesen eingewurzelten Anschein und setzt ihn zu Gegenbildern zusammen, deren Erfahrung, wenn überhaupt, erst wieder eine Orientierung möglich macht.
Das Verhängnis beginnt immer da, wo wir glauben, allzugenau Bescheid zu wissen. Eine der Aufgaben, die die Literatur übernehmen kann, ist die Lähmung dieses Bescheidwissens. Die sogenannte Unmenschlichkeit ihrer Inhalte ist nicht sadistischer Lust entsprungen, bedeutet nicht Flucht ins negativ-romantische Reich des (bürgerlich-dekadenten) Bösen (dem eine bieder realistische Literatur kritisch zu Leibe gehn könnte), sie zeigt die Wahrheit von dem, was der Humanitätsideologie des 20. Jahrhunderts als Grundlage dient. Die Erfahrungen, die sich in der ersten Phase des Werks von Henri Michaux niedergeschlagen haben, gehen weit über die der auf sich zurückgeworfenen Subjektivität hinaus. Es sind Erfahrungen mit den Verhaltensweisen der Öffentlichkeit, der sozialen Realität. Die Erfindungen der Literatur, wie Michaux sie versteht, präsentieren das Revers dieser Erfahrung. Nur so besteht Aussicht, ihrer Herr zu werden.

In unserer Zeit nimmt alles so leicht eine extremistische und gewalttätige Form an, daß ich, erführe ich von einem gemäßigten Bund gemäßigter Leute, die gemäßigte Ansichten über eine gemäßigte Verbesserung der Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Völkern austauschen möchten, auch da auf der Hutbleiben und sie – verstohlen – aus einem Winkel meines Auges und noch verstohlener – aus einem Winkel meiner Seele, beobachten würde. Und besonders die Entwicklung ihrer Bewegung zum Besseren hin würde ich mit mißtrauischen Blicken überwachen, so sehr scheinen mir die Menschen dieser Jahre auf die gleiche unwiderstehliche Weise darauf aus zu sein, alle andern Individuen unseres kleinen Planeten am Sich-fort-und-mit-Bewegen zu hindern.

Helmut Heißenbüttel, Süddeutsche Zeitung, 24./25.9.1966

Hommage à Henri Michaux Klappentext Nr. 34

1
für mich in der Reihe der Lehrmeister für mich persönlich einer der ausdauerndsten Henri Michaux bis heute uneingeschränkt unermüdlich gelernt von ihm die Verdoppelung durch Sprache gelernt von ihm Einsicht in und Herstellung von Referenzebenen in Sprache gelernt von ihm die Multiplizierbarkeit des Menschen durch Sprache sehen gelernt gelernt die Schreibweise des Bildes sehen gelernt wie Bilder geschrieben werden die Provokation der leeren Fläche wie Fläche provoziert Bildschrift freigibt gelernt die Unverrückbarkeit gelernt den Blick fest auf das gerichtet was am Ende gelernt stillzuhalten mitten in der vollkommenen Verzweiflung nichts zu erwarten gelernt wenn überhaupt etwas dann durch nichts zu erwarten zu bekommen

2
wer schon die Sprache die so heißt es alle sprechen verläßt aber verstehen denn die die sie sprechen einander besser wer schon die Sprache die alle sprechen verläßt wer schon die Sprache die alle sprechen dazu benutzt das von allen Besprochene zu verlassen wer schon die Sprache die alle sprechen benutzt um dahinter zu gelangen die Sprache benutzt zu sagen was alle nicht verstehn obwohl es aller Verständnis betrifft wer von den Fremden spricht die in die Sprache die alle sprechen eingezeichnet von Emanglonen Ekarassinen Meidosemen Umenen Dohomeden Odobommeden Orodommeden Dovoboddemoneden von Bommada Nippos von Pommede Nibbonis von Bomaris Bitulen von Rotrark Rijebetten von Biliget Kolniten von Bölet Proschuten von Ostebul spricht doch nur aus was in der Sprache was in den möglichen Abzweigungen und Zusammensetzungen der Sprache was in der Überschreitung der Grenzen was außerhalb der schmalen Lichtung des Normalen Sprache erst sollte nicht der auch die erste beste Gelegenheit denn die erste Gelegenheit das hat sich gezeigt ist die beste ergreifen um in anderer Sprache um in anderer Schrift um aus der Leere um aus dem Schweigen zu sagen zu zeigen auf eine direktere Weise und immer dasselbe in Sprache gesprochen wie im Bild gezeigt hier ist was Semantik heißt identifizierbar mit der Struktur des Zeigens gesagtgezeigt ausgesprochenvorgewiesen diskursivdemonstrativ

3
24.5.1899 Namur Geburt in eine bürgerliche Familie 1900 bis 1906 Indifferenz Unbegier Widerstand Desinteresse Anemie Träumer ohne Bild ohne Wörter unbeweglich 1906 bis 1910 fünf Jahre Internat 1911 bis 1919 Brüssel 1920 Einschiffung als Matrose auf einem Fünfmastschoner in Boulogne-sur-Mer 1921 Abwrackung von Schiffen in aller Welt das große Fenster schließt sich wieder Ekel Verzweiflung 1922 Lektüre des Maldoror Belgien endgültig verlassen 1924 Paris er schreibt 1925 Klee darauf Max Ernst Giordio de Chirico äußerste Überraschung 1927 einjährige Reise am Äquator 1929 Tod des Vaters 1930 bis 1931 endlich seine Reise in Asien 1932 Lissabon Paris 1935 Montevideo Buenos Aires 1937 erste Ausstellung in der Galerie Pierre in Paris 1938 bis 1939 mit Beschlag belegt durch die Zeitschrift Hermes 1939 Brasilien 1940 Rückkehr nach Paris Exodus der Heilige Antonius 1944 Tod des Bruders 1945 durch Einschränkungen geschwächt bekommt seine Frau Tuberkulose Besserung 1947 fast Heilung 1948 Tod seiner Frau infolge schrecklicher Verbrennungen 1951 bis 1953 schreibt er weniger und weniger und malt mehr 1956 erste Meskalinversuche 1957 Ausstellungen in den USA Rom London und jetzt ungeachtet der Anstrengungen in jedem Sinne hält sein Leben an sich zu verändern seine Gebeine ohne sich um ihn zu kümmern folgen blindlings ihrer familiären rassischen nordischen Evolution

4
da die Einbildungskraft in die Sinneswahrnehmungen selbst hineinspielt und an den Operationen des Sicherinnerns teilhat den Horizont des Möglichen öffnet Entwurf Hoffnung Furcht Vermutungen begleitet ist sie mehr als die Fähigkeit Bilder hervorzurufen die die Welt unmittelbarer Wahrnehmung verdoppeln die Einbildungskraft ist ein Distanzierungsvermögen durch das wir uns entfernte Dinge vorstellen und uns von gegenwärtigen Realitäten entfernen daher diese Zweideutigkeit die wir überall wiederfinden indem nämlich die Einbildungskraft vorauswirft und voraussieht dient sie dem Handeln zeichnet sie uns die Gestalt des Realisierbaren vor noch bevor es realisiert ist aber indem auch das imaginierende Bewußtsein der vorhandenen Welt die die Gegenwart um uns aufbaut den Rücken kehrt kann es Abstand nehmen und seine Fabeln in eine Richtung projizieren in der es keiner möglichen Übereinstimmung mit den Tatsachen Rechnung zu tragen braucht

5
andererseits ist mit alledem nicht gesagt daß es überhaupt eine Welt irgendein Ding geben muß Existenz ist das Korrelat gewisser durch gewisse Wesensgestaltungen ausgezeichneter Erfahrungsmannigfaltigkeiten es ist aber nicht einzusehen daß aktuelle Erfahrungen nur in solchen Zusammenhangsformen verlaufen können rein aus dem Wesen der Wahrnehmung überhaupt und der anderen mitbeteiligten Arten erfahrener Anschauungen ist dergleichen nicht zu entnehmen vielmehr ist es sehr wohl denkbar daß nicht nur im einzelnen sich Erfahrung durch Widerstreit in Schein auflöst und daß nicht jeder Schein eine tiefere Wahrheit bekundet es ist denkbar daß es im Erfahren von unausgleichbaren und nicht nur für uns sondern an sich unausgleichbaren Widerstreiten wimmelt daß die Erfahrung mit einem Mal konsequent sich gegen die Zumutung ihre Dingsetzungen jemals einstimmig durchzusetzen widerspenstig zeigt daß ihr Zusammenhang die festen Regelordnungen der Abschattungen Auffassungen Erscheinungen einbüßt daß es keine einstimmig setzbare also seiende Welt mehr gibt es mag dabei sein daß doch in einigem Umfange rohe Einheitsbildungen zur Konstitution kämen vorübergehende Haltepunkte für die Anschauungen die bloße Analoga von Dinganschauungen wären weil gänzlich unfähig konservative Realitäten Dauereinheiten zu konstituieren

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heißer trockener Wind über den durch und durch erzitternden Pappeln Querbewegungen deren Anfang und Ende nicht zu erkennen ist hochaufstehende weißblaue flache Scheibe des Bilderbuchhimmels Eggen versunken in rötlich vom Wind überwellte Wiesen Wiesenschaumkraut die Schriftzeichen der Lupinen am Bahndamm die Schriftzeichen aufeinandergestapelter Autowracks am Bahndamm die Schriftzeichen der Armierungseisen auf einer Baustelle Wolkenschatten auf weithin einzusehenden Schrägen Junisonne die Höhe des Jahres rötliche Schonungen und Kahlschläge am Abend russische Wälder Wiesenschaumkraut dänische Wälder die Schriftzeichen der Backsteine in einer alten Mauer die Schriftzeichen der Tannenäste die herabhängen die Schriftzeichen der Fensterreihen in einem Hochhaus die Schriftzeichen der Apfelbäume an Chausseerändern dennoch gern hier gewesen zu sein dennoch über alles gern hier gewesen zu sein dennoch gern hier gewesen zu sein und nichts sonst und nichts sonst weil es sonst nichts gibt ein Lichtundschattenmuster aus rasch vorüberstreifenden Eichenwipfeln das sich verwandelt die Schriftzeichen der Wäschestücke auf einer Leine die Schriftzeichen des Ginsters am Bahndamm die Schriftzeichen des Schattens auf einem Waldweg die Schriftzeichen der Zaunlatten vor einer Juniwiese Wiesenschaumkraut die Schriftzeichen der Hochspannungsmasten quer über ein weiträumiges Tal gespannt Schriftzeichen von Schreberlaubenkolonien Schriftzeichen von Heuzeilen unmittelbar nach dem Wenden Schriftzeichen von Güterwagenkolonnen auf einem Rangierbahnhof die sehr langsamen Schriftzeichen einer weithin ausschwingenden Pappelallee Haieshausen

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vorher ehe man zu durchschauen vermag ist es wie die eisenharte Wand des silbernen Berges hat man es dagegen plötzlich erreicht zu durchschauen ist man selber schon immer die eisenharte Wand des silbernen Berges gewesen nun kann man natürlich fragen wie so etwas geschehen kann in einem solchen Falle wende man sich dem Fragenden zu und antworte wenn es einmal gelingt des innersten Triebwerks ansichtig zu werden oder wenn auch nur irgendein Teil davon ins Auge fällt dann sind Furt und Fährte augenblicklich abzutun und nicht zu gehen sind die Wege gemein und heilig nichts ist zu tun das außerhalb von dem liegt was dem einzelnen der fragt jeweils gegeben ist die verborgene Wahrheit aber kann sich an jedem Gegenstand erweisen denn die Wahrheit geht auf dem Fließenden und läßt Dinge sich im Kreise drehn und nimmt sie freiwillig an hat man aber nur ein klein wenig Ja-und-Nein so gerät man in Verwirrung und verliert sein Herz selbst wenn einer sich ganz aufgibt und alles von sich abstreift kann es doch geschehn daß die Grenze zur Heimat immer noch tausend Kilometer entfernt bleibt

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im Traum hat er noch immer nicht begriffen daß er älter wird Aufenthalt in Korridoren Hände die er auf sich zukommen sieht er fühlt sich im Unbestimmten mitten in der Stille der Ton des Sitars unabweislicher Eindruck daß jemand über die Schulter gebeugt ihm aufs Papier starrt er möchte das Normale enthüllen das verkannte unglaubliche ungeheuerliche Normale er kehrt ins Denken zurück er übt Wirkung aus aufs Denken er fühlt sich im Unbestimmten wer nicht von Grund auf durcheinandergerüttelt worden ist wird nicht dahin gelangen stärker als alles andere ist sein Mangel an Übereinstimmung er bewegt sich zu heftig es passiert zuviel Tiere haben im Traum zu ihm geredet obwohl er im Traum eher kraftlos erscheint ist er einmal im Traum ein Löwe gewesen in seinem persönlichen Vokabular bedeuten zum Beispiel Insekten Unannehmlichkeiten die ihm zu schaffen machen einige Tage meines Lebens bei den Insekten es gibt noch keine Regeln selbst wenn es wahr ist ist es falsch in einen Sack gequetscht hat er selbst seine Feinde verloren die Person die er gern spielen möchte soll schaudern machen er ist ein entfalteter Mensch er möchte das Unerkennbare packen und das Unbegrenzte suchend findet er die Fesseln die er sich selbst fabriziert hat sich daran zu hindern einzutreten sich daran zu hindern herauszutreten sich daran zu hindern zu leben Verbote rundum schon ist er steif die Flügel verklebt schon ist er aus Holz jetzt kann er Jahrhunderte überdauern

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so weit sein Blick reicht bilden sich schwarze Flecken nähern sich und je länger er in eine bestimmte Richtung blickt desto mehr Schwarz ruft er dorthin zusammen nähern sich verschmelzen miteinander eine unermeßliche fast lückenlose Schicht fast kompakt im kritischen Moment verschwindet der Raum in dem sich das alles abspielt ein anderer steigt herauf wiederum schwarze Flecken eine Art von Laufkäfern ungeheuer zapplig setzen sich in Marsch setzen sich in Lauf aus allen Richtungen als wollten sie einander durchdringen sich zusammenballen und ballen sich schon zusammen zu einer einzigen kompakten Masse wieder verschwindet der Raum ein anderer steigt herauf freischwebend ein phantastisches Flockentreiben Millionen schwarzer Körner fallen ein stören alles Helle in methodischer Unterbrechung aus der Tiefe des Auges selbst beginnen Millionen schwarzer Tropfen aufzutauchen abzuspringen hochzuschießen Geysire aus seinem Auge aus seiner Vision schlimmes Zeichen die Kadenz der schwarzen Wellen verbreitet Schrecken die schwarzen Flecken sind die Welt seine schwarzen Räume sind die Welt der Exzeß der Farben und Töne verliert den Geschmack er kehrt in die schwarze Vision zurück reduziert gewiß aber nicht zerstreut von der Operette der Farben endlich

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merkwürdige Entlastung Ruhestellung eines Teiles des Kopfes Ruhestellung des sprechenden schreibenden Teiles des Kopfes genauer des sprechenden schreibenden Kommunikationssystems man stellt die Weichen zur Auswahl anders wenn man sich ans Malen begibt die Wortfabrik verschwindet die Wortgedanken Wortgefühle Wortaktivitäten verschwinden ertrinken ganz einfach schwindlig sind nicht mehr da Knospen werden in Knospen angehalten wenn man sich ans Malen begibt Nacht des Sprechens partikulärer Tod Sprechunlust Sprechunverlangen der Teil des Kopfes der an all dem interessiert war kühlt aus erstaunliche Erfahrung welche Ruhe die Welt durch ein unbekanntes Fenster wiedergefunden Gehenlernen wie ein Kind Unwissenheit Fragen schwirren im Kopf herum Versuch zu erraten zu erahnen neue Schwierigkeiten neue Versuchungen jede Kunst hat ihre eigenen Versuchungen und Überraschungen wenn man sich ans Malen begibt man muß es kommen lassen gewähren lassen wenn man sich ans Malen begibt die weiße Seite wenn ich die weiße Seite betrachte sehe ich weit weg einen entsetzten Menschen laufen wovor entsetzt ich weiß es nicht bald kommen andere am äußersten Rand des Papiers unzählige Mengen Gedränge nicht für ein Blatt Papier sondern für eine Epoche verschont wenn es mir gelänge sie auf einem einzigen Blatt Papier zu vereinigen aber ich kann sie nicht festhalten auch nicht aufteilen die Beine des Vorderen streichen den Schatten des Folgenden aus dennoch jeder ein Sammelplatz für sich in der Wut sie nicht zurückhalten zu können werfe ich mich rasend aufs Papier auf das Massaker des Ausstreichens bis sich eine schrecklich isolierte Figur herausschält auf hundert Blättern in zehn Jahren von mir durch Malen erkennbar gemacht aber ich bin nicht leichtgläubig in den Tränen der Wut schleudere ich die Besessenheit weit von mir weg und die Kunst die sich mir entzieht gibt mir ihr trügerisches bittres Geschenk jetzt male ich schwarz auf schwarz hermetisch schwarz schwarz ist meine Kristallkugel aus Schwarz sehe ich alles was da ist hervorgehn

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er zeichnet ohne besondere Absicht er kritzelt mechanisch es erscheinen Gesichter auf dem Papier sobald er einen Bleistift oder Pinsel in die Hand nimmt zehn fünfzehn zwanzig Gesichter schlecht und recht fließen sie aus dem Pinsel heraus sie befreien sich geopferte Personen Ichs die der Wille die Energie die Vorliebe erstickt haben wiedergekommene Kinderängste deren Muster man verloren hatte nicht daran glaubend daß im Übergang zum Erwachsensein wirklich alles geregelt worden ist eine Art Nebenprodukt des Denkens wie die sinnlosen Gesten am Telefon es ist gewiß etwas Witziges was er malt etwas Lebendiges und wenn es ihm auch im Moment nicht besonders nahegeht es entspricht der Situation und je länger er es betrachtet um so sympathischer vertraut Zeugen Zeugnisse er malt auch in den Farben des Doubles er fragt sich ob Haß nicht eine solidere Architektur besitzt als Liebe er malt auf dem Bett ausgestreckt Fotos um sich herum er wälzt sich darin seine Raserei nimmt zu schüttelt ihn in dieser Raserei triumphiert er über die Widerwärtigkeiten seines Lebens die Woge die in ihm aufbrandet ist so riesenhaft daß das Herz der Scheintote wie im Kellergewölbe mit starken Schlägen an die Brust klopft er wird verrückt darüber Echo von tausend anderen Verrücktheiten seine verrückt gewordene Seele erkennt sich plötzlich im befleckten Papier er würde gern den Menschen außer sich malen er ist der Meinung daß es nicht wichtig ist zu wissen was man macht wenn man betrachtet er spricht von seinen ersten und größten Eindrücken

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ausgeschweift über die weiten Flächen der Imagination die Science-fictions der Innendimension sind die Möglichkeiten der anderen Zusammensetzung umhergeirrt auf den ausgedehnten Ebenen der Imagination mitten unter den Schattenfiguren die verschwinden wenn der Blick sie trifft jedes Bild ist die Möglichkeit der anderen Zusammensetzung plan nach Praxis leben bedeutet die Möglichkeiten der anderen Zusammensetzung annullieren ausgeschwärmt in die lichtlosen leeren Flächen der Imagination die sich plötzlich füllen mit Licht und Bewegung mit einem Schwung der sich verlangsamt mit dem Quadrat der Entfernung von seinem Impuls weggeschnellt allein auf den Ebenen des unabsehbar multiplizierten Selbst das was vorhanden ist Material für die Entwürfe der anderen Zusammensetzung nachkommend dem immer in der Zeit was anders zusammengesetzt im Entwurf voraufgeworfen ist Entwürfe anderer Zusammensetzung voraufzuwerfen schattenüberfüllte Spiegelgänge durch die man hindurchtritt wie durch Dampf ausdampfendes Selbst ausgeschwitztes Selbst ausgedünstetes Selbst ausgedünstete Imagination Wolkenfelder von oben gesehen Wolkentürme durch die hindurchschneiden die abendsonnenbeglänzten Wolkenfelder auf denen sich die Monstren bewegen die es nicht gibt da steht es ein flüchtiger Augenblick die Figur der anderen Zusammensetzung kein Traum keine Phantasie keine Einbildung sondern der konkrete Entwurf vorauf geworfen aus dem Material dessen was vorhanden ist

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dies ist ein Bekenntnis nein dies wäre ein Bekenntnis wenn ich bekennen könnte aber ich versuche nur den Zeigefinger auszustrecken und hinzuweisen dies ist ein Hinweis nein dies ist ein Hinzeigen bei dem ich selbst mich ganz Zeigefinger zu werden bemühe und wenn Francis Bacon gesagt hat er findet die Bildschrift von Henri Michaux besser als die von Jackson Pollack so geht es nicht um Wertmaßstäbe sondern um die Deutlichkeit in der Henri Michaux ganz und gar ohne Rest ist in seinen Bildern restlos vollkommenes Vorhandensein auf der anderen Seite

Helmut Heißenbüttel, 1974, Schreibheft, Nr. 67, September 2006

Henri Michaux 

Lyrik der inneren und der transrealen Welt

Als André Gide im Jahre 1941 seinen Aufsatz „Découvrons Henri Michaux“1 veröffentlichte, war Michaux nur wenigen Lesern bekannt. Während der folgenden drei Jahrzehnte jedoch fand seine Dichtung einen stets zunehmenden Widerhall. Im Jahre 1967 erschienen nach einer neuen, erweiterten Ausgabe seiner Anthologie L’Espace du dedans2 in kurzer Folge Neuauflagen der Werke La Nuit remue,3 das außerdem „Mes Propriétès“ enthält, Plume précédé de Lointain intérieur,4 Ailleurs,5 das die Erzählungen der drei ,voyages imaginaires‘ – „Voyage en Grande Garabagne“, „Au Pays de la magie“, „Ici, Poddema“ – umfaßt, Un Barbare en Asie,6 Epřeuves, exorcismes,7 eine Sammlung von Texten, die während des zweiten Weltkrieges verfaßt worden sind, Passages,8 Face aux verrous9 sowie Neuauflagen der jüngsten Werke Connaissance par les gouffres10 und Les Grandes Epreuves de l’esprit11

1. Mißklang zwischen gebieterischem Ich und angerufener Welt
Eines der ersten bedeutenderen Werke Michaux’ ist das 1927 veröffentlichte Buch Qui je fus12 eine Sammlung von Aphorismen, Erzählungen und Gedichten, deren Titel mit dem Namen der Hauptperson einer der Erzählungen, ,Qui-je-fus‘, identisch ist und das Thema der Vielheit der Ichs widerspiegelt. Unter der Heimsuchung der verschiedenen ,Qui-je-fus‘ offenbart sich dem Dichter die schmerzliche Erfahrung der Pluralität seines eigenen Wesens, währenddessen das Denken, von einer Vielzahl einander widersprechender Stimmen bewegt, unermüdlich seine Bahn modifiziert. Obwohl Qui je fus in dem um die Mitte der zwanziger Jahre vorherrschenden literarischen Klima hervorgebracht wurde, als nach Beruhigung der dadaistischen Stürme die ersten surrealistischen Schriften soeben entstanden, verharrt Michaux mit diesem wie mit seinen späteren Werken außerhalb aller zeitgenössischen Strömungen, wenn auch zuweilen Spuren von automatischem Schreiben und Traumschilderung sowie ein gewisser Ton inneren Monologs bei ihm anzutreffen sind.13 Die Themen, die das Gesamtwerk des Dichters bestimmen sollen, sind in den frühen Texten schon skizziert. Sie finden ihre gemeinsamen Wurzeln in dem Empfinden einer Schwierigkeit, die sich beim Kontakt des Ich mit den Dingen, den menschlichen Wesen und dem eigenen Selbst einstellt, sowie in dem Gefühl sowohl des Mangels und der Leere im Hinblick auf die gegenständliche Welt als auch der eigenen Unzulänglichkeit, was wiederum zu der Tendenz führt – und hierin steht Michaux in einer gewissen Parallele zu Ponge –, unter die Oberfläche der Dinge, hinter ihre Fassaden und äußeren Aspekte zu dringen, um ihren geheimen Mechanismus zu erspähen und ihre Wesenszüge zu erfassen.
In ähnlicher Weise wie Ponge erhebt Michaux fundamentale Zweifel hinsichtlich der Ausdruckskraft des herkömmlichen Sprachmaterials. Schon die „Poèmes“ am Ende der Textsammlung Qui je fus zeugen von dem Dilemma des Dichters, dessen Begierde nach Ausdruck keine Befriedigung in den literarischen Wortformen findet und der hier wie später vor allem in mehreren ,Poèmes‘ der in La Nuit remue aufgenommenen Sammlung „Mes Propriétés“ zuweilen sich einer erfundenen Sprache bedient, durch die Michaux wie auch schon Max Jacob, Leon-Paul Fargue und Desnos unmittelbarer als durch die an literarische Konventionen gebundenen Ausdrucksmittel die innersten Regungen des Gefühls sowie die verzweigtesten Wege des Denkens und der Phantasie zu zeichnen glaubt und wie der Dadaismus oder Queneau in Les Ziaux14 und in seinen Exercices de style sogar die traditionelle Sprache und damit die in ihr dargestellte Realität zu zerstören beabsichtigt. Dennoch ist, abgesehen von jenen Augenblicken erfundenen Sprache, Michaux’ Dichtung von einer Klarheit des Ausdrucks bestimmt, wobei der einzelne Satz zur Definition drängt und die Wortwiederholungen, die in ihrer ekstatischen Fortführung einen aufgegriffenen Gedanken in ständig neue Beziehungen rücken, sowohl die Gegenständlichkeit der Welt als auch deren verborgenen Sinn zu erfassen streben. Michaux sucht eine stets präzisere Darstellung des Objekts seiner Dichtung zu erreichen, weshalb eine Vielzahl der Details in jenen Wortwiederholungen verankert ist. An Stelle von Metaphern erscheinen in Michaux’ Dichtung zumeist Analogien, Vergleiche, ungewöhnliche Wortverbindungen von oftmals abstrakten Begriffen und Bildzusammenhänge synästhetischen Charakters. Es ist Michaux’ Ziel, seine Worte möglichst eng mit der zu erfassenden Substanz zu verbinden, um sie bei ihrem ersten Kontakt mit derselben plötzlich und abrupt innehalten zu lassen. Die Schockwirkung ist um so stärker, weil die ergründete Welt ein Reich der Vereitelung, Enttäuschung und des Schreckens ist.

Endlich sind in Qui je fus auch die mit der Thematik des Mangels und der Leere verbundenen Motive der Angst und der aus ihr entspringenden Anstrengung zum Ausbruch und zur Suche nach Erfüllung enthalten. Jenes Empfinden des Mangels erweckt eine grenzenlose Sehnsucht nach allem, was fähig wäre, die Leere zu erfüllen:

Depuis toujours je cherche à remplir ma journée et aussi ma nuque à laquelle il manque tant de matière.
Je l’avoue, je suis un creux fermé et quand je vois un précipice, attraction,… hop!…
(„Comme je mourrai“, Qui je fus)

In diesem Sinne unternimmt Michaux die Reise nach Ecuador, und sein Reisetagebuch Ecuador,15 eine Mischung von Reflexion, Anekdotischem und Lyrik in Prosa und Versform, wobei das Gedicht eng mit tagebuchartigen Aufzeichnungen verwoben ist, skizziert die mannigfaltigen Reaktionen des Reisenden, wird zum ,journal intime‘. Hier wie auch im späteren Werk erscheinen die meisten Texte in einer Form, die auf der Grenze zwischen Erzählung und Gedicht liegt. Die Reise, von der die Erfüllung der ursprünglichen Leere erhofft wurde, läßt indessen die vielfältigen Aspekte dieser Leere hervortreten:

Il souffle un vent terrible.
Ce n’est qu’un petit trou dans ma poitrine,
Mais il y souffle un vent terrible.
Petit village de Quito, tu n’es pas pour moi.

J’ai besoin de regarder par le carreau de la fenêtre,
Qui est vide comme moi, qui ne prend rien du tout.


Ni deux cuisses, ni un grand cœur ne peuvent remplir mon vide.

Mon vide est un grand mangeur, grand broyeur, grand annihileur.
Mon vide est ouate et silence.
(„Je suis ne troué“, Ecuador) 

Bald stellt sich bei ihm ein Mißbehagen ein, das zurückzuführen ist auf die Unvereinbarkeit dessen, was ein Wort in der Phantasie erweckt, mit dem, was es in der Realität bezeichnet. ,Quito‘, ein Wort, das ihn zu faszinieren scheint, läßt ihn bald erkennen, wie sehr ihm die an den zweisilbigen Klangkörper künstlich gebundene Realität in jedem Augenblick entflieht:16

„Quito est derrière cette montagne.“
Mais qu’y a-t-il derrière cette montagne?

Quito est derrière cette montagne.
Jenes Reisetagebuch, das eine Satire auf den Exotismus darstellt, wenn Michaux bemerkt, daß man sich bis an das Ende der Welt begibt und nichts Neues über den Menschen und sich selbst erfährt, weil es nicht mehr Wahrheit auf einer Kordillere der Anden als in irgendeiner Straße von Paris gibt – „on trouve aussi bien sa vérité en regardant quarante-huit heures une quelconque tapisserie de mur“ –, ist gleichzeitig auch ein Erfahrungsbericht über die immerwährende Spannung zwischen der Welt ,du dedans‘ und der ,du dehors‘.17 Die Wirklichkeit wird als eine den Bedürfnissen des Geistes und des Herzens zu wenig entsprechende erkannt, eine Erfahrung, die bald den Grundton des Michauxschen Werkes bestimmt; es zeigt sich forthin ein fundamentaler Mißklang zwischen den Ansprüchen eines gebieterischen Ich – man liest in Ecuador den hochmütigen Ausspruch: „Les hommes qui n’aident pas à mon perfectionnement: zéro“ und der angerufenen und befragten Welt. Dieser Grundton, der das Gefühl der Leere stets aufs neue erwachen läßt, ruft bald auch jene imaginären Welten der Michauxschen Poesie hervor, in denen der Dichter Ersatz oder Erfüllung der Leere sucht. Die Reise bedeutet Michaux zunächst ein Mittel, mit dessen Hilfe er alles das, was von außen her in sein Inneres eingedrungen ist, austreiben kann; sodann erhofft er sich durch sie die Erfüllung seiner inneren Leere und die Auffindung des ,plus grand‘, zu dem er sich emporheben möchte. Aber diese Hoffnung ist zugleich mit einem Aufgeben der Hoffnung verbunden, weshalb schon zu Beginn der Reise dieselbe verdammt wird. Der zweite Reisebericht, Un Barbare en Asie, zeigt den Autor erstmalig in innerem Einverständnis mit der ihn umgebenden Welt. Im Hinduismus findet er die Offenbarung einer tiefen Wahrheit über das Leben, denn der Hindu ist von dem einzigen Wunsch besessen, mit dem All, dem Göttlichen, in einer unauflöslichen Einheit verbunden zu bleiben:

L’Hindou est religieux, il se sent relié à tout. (Un Barbare en Asie)

Mit Un Barbare en Asie ändert sich Michaux’ Blickrichtung: ohne irgendeine Bezugnahme zum eigenen Ich wendet der Dichter sich nun dem Gegenüber zu in dem Versuch, eine Bilanz der Erkenntnisse über Welt und Menschen zu ziehen, wenn er in seiner von Humor und Erstaunen erfüllten Intelligenz zum Wesentlichen vorzudringen bestrebt ist, wo er in kurzen Szenen den Menschen den Hindu, den Chinesen „à l’âme concave“, den Japaner oder den Malayen – und seine Eigenarten entlarvt. Nach. dieser Hinwendung an Welt und Menschen flüchtet er, auf der Suche nach seiner eigenen Wahrheit, in imaginäre Bereiche, die in den Texten der Sammlung Ailleurs – „Voyage en Grande Garabagne“, „Au Pays de la magie“, „Ici, Poddema“ – beschrieben sind und deren Wesen Michaux wie folgt definiert:

Mes pays imaginaires: pour moi des sortes d’Etats-tampons, afin de ne pas souffrir de la réalité. (Passages, S. 153f.)

Die Realität hinnehmen hieße leiden, seine Freiheit aufgeben. Daher wird dem Dichter die Phantasie zu einer vom Leid befreienden Kraft, wobei sie Freiheit des Schaffens und Gestaltens bedeutet. Durch die Übertragung des Leidens auf die von ihm geschaffenen Wesen wie ,Emanglons‘, ,Orbus‘, ,Hivinizikis‘, ,Gaurs‘ in „Voyage en Grande Garabagne“ zeichnet er das Bild der prekären Situation des Menschen und erlangt gleichzeitig eine Loslösung von dem Übel, das er nun in einer objektiven Betrachtung in Hinblick auf dessen Übergriff auf den anderen Menschen studiert und zuweilen genießt, was zu einem Sadismus der Phantasie führt. In Ecuador bedrängten Michaux noch die Wesen, Aspekte und Inhalte der feindlichen Realität, so der Mensch, „animal gâché“, die Frau, „on peut l’aimer: difficile de l’admirer“, die Städte, „grandes surfaces de coffres-forts cimentés dans la terre… tout n’est qu’images acharnées d’égoïsme, de méfiance, de sottise, de rigidité“, die Kulturen, „Paul Valéry a bien défini la civilisation moderne, l’européenne; je n’avais pas attendu les precisions qu’il fournit sur ses bornes pour en être degoute“. (Ecuador, S. 81ff.) Angesichts dieser feindlichen Gegenwelt gibt es einerseits die Möglichkeit der Flucht in sich selbst, was Schweigen, Verneinung, Resignation bedeutet, andererseits aber die des Sprunges über die Realität hinaus in das absolute Anderswo, ,ailleurs‘ – was der Titel jener Sammlung der ,voyages imaginaires‘ andeutet –, wo kraft der Phantasie der Dichter imstande ist, über die feindlichen Mächte der Gegenwelt zu triumphieren und sich die volle Ausübung der schöpferischen Freiheit zunutze zu machen.
Wie bei Ponge so weist auch bei Michaux die dichterische Hinwendung an die gegenständliche Welt den Charakter eines Schocks auf, den die Objekte auf die Sinne des Dichters ausüben, nachdem dieser einen Stoß an einem materiellen oder geistigen Widerstand erfahren hat.

Dans cet univers, il y a peu de sourires. Celui qui s’y meut fait une infinité de rencontres qui le blessent. (Plume, S. 118)

Die Welt Michaux’ ist durchsetzt von bedrohender und verletzender Dinglichkeit, in ihr ist das Ich bedrängt und behaftet von der Sphäre des Stofflichen. Insofern sind Michaux’ Gedichte das Ergebnis jenes Schocks, der dem Dichter angesichts seiner Gegenwelt widerfährt, und sie stellen in ihrer elementaren Form einen Aufschrei dar, der die Syntax erschüttert und den Ausdruck trübt, so daß die Subjektivität in ihrem eigenen Wesen gefangen bleibt. In der Wortwiederholung, die sich sehr häufig in Michaux’ Lyrik im Rahmen einer Aufzählung zeigt und die eher zu einer Traumtiefe des Sinnes führt, als daß sie in loser Verknüpfung mit verschiedenartigen Bildern eine logische Kohärenz erzielen könnte, offenbart sich die Raserei dieser Sprache, die Intensität des Aufschreis.

Comme un fou, qui pèle une huître, rit
je crie
je crie
je crie stupide vers toi
si quelque chose tu as appris
à ton tour, maintenant
à ton tour, Lazare!
(„Lazare, tu dors?“ Expreuves, exorcismes) 

Diese Sprache erlangt um so mehr den Charakter eines Aufschreis, desto tiefer die Kluft zwischen den inneren Bedürfnissen des Dichters und den Notwendigkeiten der äußeren Welt wird, wobei sich der Gedanke als unfähig erweist, die Dinge von innen her zu erfassen, was eigentliches Ziel Michauxschen Dichtens ist. Demzufolge ist auch das Wort, das einen derartigen Gedanken ausdrückt, unzureichend, wenn es sich darum handelt, den Bezug des Ich zu der Umwelt und deren innere Struktur zu kennzeichnen.

Pensées à la nage merveilleuse,
qui glissez en nous, entre nous, loin de nous,
loin de nous éclairer, loin de rien pénétrer.
(Plume, S. 88)

In dieser Ausnahmesituation gefangen, ist es Michaux’ Ziel, dieselbe verständlich werden zu lassen, indem er stets weiter in die inneren Schichten seines Ich sowie in die äußeren Bezirke der Gegenwelt vorzudringen versucht. Bei dem Zusammenprall seines Ich mit dem Gegenüber der Lebewesen und Dinge bieten sich dem Dichter die Aspekte der inneren und äußeren Welt als ein Material dar, dessen Komplexität der Geradlinigkeit des Denkens verborgen bleibt. Daher entstehen Assoziationen, die jene gedanklich nicht erfaßbare Erfahrung des Dichters angesichts der ihn umgebenden Welt in lautliche Momente einfangen. Durch eine derartige Rückkehr zur Onomatopoesie und zu Urelementen der Sprache beabsichtigt Michaux, den Gemütszustand des Ich im Augenblick der Begegnung mit der äußeren Welt darzustellen, denn jeder Versuch, Aspekte der Außenwelt gedanklich zu fixieren bzw. konkret zu gestalten, treibt ihn nur weiter in die Erfahrung der Sinnlosigkeit und Leere. Bald verschließt sich Michaux gänzlich jener Sprache, die sowohl durch das vielgestaltige ihn umgebende Universum als auch durch die Rhetorik der Phantasie ihm auferlegt werden könnte. Er nimmt die Dürftigkeit seiner Eigenschaften und seines Wesens, die er zu Anfang seiner Dichtung noch in einem Gefühl des Mangels und der Leere beklagte, als gegeben, und mehr noch, als gewollt hin, indem er sich zurückzieht auf den Stand elementarer Äußerung, die in dem Lallen des Kindes oder in der Trägheit animalischer Existenz offenbar wird. Hiermit sind die leichterlangten Formeln der vorgefundenen, literarischen Sprache zurückgewiesen, so daß allein die eigene Natur in ihrer animalischen und vegetativen Dürftigkeit vernehmbar wird. Ein onomatopoetisches Gedicht wie „Glu et gli“ (Qui je fus bzw. L’Espace du dedans), wo an einigen Stellen der Dichter u.a. glucksende Geräusche, etwa die des Fisches, anzudeuten scheint, stellt zugleich einen Protest gegenüber der Gesellschaft dar, die sich entrüstet zeigt, weil der Mensch – der Dichter – sich darin versucht, auf die Stufe elementarer Animalität hinabzusinken; jedoch entspringt jene Ausmalung von Lauten elementarer Äußerung vor allem Michaux’ Tendenz, in seine eigene, innerste Intimität einzudringen, um, abgeschirmt gegen den Ruf oder die Sinngebung der äußeren Welt, den – wenn auch äußerst dürftigen – Sinn seiner eigenen Natur sprachlich zu fixieren.

2. Dichtung der Eingeweide
Das Gedicht „Glu et gli“, dessen Titel als eine Variation des onomatopoetischen „glou glou“ oder als eine der Kindersprache entstammende Umschreibung für das Hinunterschlucken einer klebrigen Masse („glu“: ,Leim‘) aufgefaßt werden kann, stellt in wenigen Andeutungen den Weg einer verschlungenen Speise bis zu ihrer Ausscheidung dar.18

et glo
et glu
et déglutit sa bru
gli et glo
et déglutit son pied
glu et gli
et s’englugliglolera. 

Das Subjekt der Verbform „déglutit“ wird nicht genannt; selbst durch das Personalpronomen „il“ wäre das von dem Dichter mit Absicht im Gestaltlosen gelassene Ungeheuer, das dessenungeachtet in eine verwandtschaftliche Beziehung gestellt wird – „et déglutit sa bru“ –, zu sehr gekennzeichnet worden.19 Das Wort „bru“, das einen Ton der Trivialität anschlägt, indem es die der familiären Sphäre innewohnenden geheimen Konflikte andeutet, ist gleichzeitig als konsonantische Variante von „glu“ zu verstehen, das neben seiner onomatopoetischen Funktion als Abwandlung von „glou“ seinerseits ein authentisches Substantiv mit der Bedeutung ,Leim‘ darstellt.
Der Prozeß der Verschlingung erfährt eine Steigerung oder, vielmehr, erreicht seinen Grenzfall in der Selbstverschlingung. Mit dieser Thematik gewinnt das Gedicht den Charakter eines ,art poétique‘. Die Einbildungskraft des Dichters unterzieht sich dem Prozeß der Verdinglichung, wobei sie sich mit den Digestionsorganen identifiziert, die nach der Verschlingung und Auflösung der äußeren Welt zu einer Verzehrung der eigenen Substanz übergehen. Das Thema der Verschlingung ist neben dem des Kampfes – beide als Varianten Michauxscher Poetik aufgefaßt – in dem ganzen Werk des Dichters gegenwärtig, während es zuweilen zwei Sonderformen als Grenzfälle bildet: Selbstverschlingung und Rückkehr zum pränatalen Zustand (,envaginement‘):

Un illuminé se mange lui-même la moelle, et la satisfaction n’est pas votre affaire. Vous verrez d’ailleurs comment cela finira. Les sons rentreront dans l’orgue et l’avenir s’envaginera dans le passé comme il a toujours fait. (L’Espace du dedans, S. 21) 

In einer totalen Verneinung und Ablehnung dessen, was außerhalb seines Ich existiert, mißt Michaux dem fötalen Zustand den Charakter einer inneren Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit bei, der dem von seiner eigenen Sphäre begrenzten Wesen eine Teilnahme an der Einheit der Schöpfung gewährt, indem dessen Beziehung zum vielgestaltigen äußeren Leben stets von einheitlicher und synthetischer Natur bleibt.

J’etais un fœtus.
Ma mère me réveillait quand il lui arrivait de penser à Monsieur de Riez.
En même temps, parfois se trouvaient éveillés d’autres fœtus, soit de mères battues ou qui buvaient de l’alcool ou occupées au confessionnal.
Nous étions ainsi, un soir, soixante-dix fœtus qui causions de ventre à ventre, je ne sais trop par quel mode, et à distance.
Plus tard, nous ne nous sommes jamais retrouvés.
(Qui je fus, S. 20f.)

Geburt bedeutet Zerstörung der ursprünglichen Einheit, Unterbrechung der Verbindung mit der im Schöpfungsakt befindlichen Allnatur („soixante-dix fœtus qui causions de ventre à ventre“):

Souvenir de fœtus: Je me décidai, un jour à porter bouche. Foutu! Dans l’heure, je m’acheminai, irrésistiblement, vers le type bébé d’homme. (Face aux verrous, S. 44)

Der Zustand innerer Geschlossenheit ist der unbeweglicher Selbstgenügsamkeit: 

Il voudrait agir. Mais la boule veut la perfection, le cercle, le repos… Il est le fœtus dans un ventre. Le fœtus ne marchera jamais, jamais. Il faut le sortir, et ça c’est autre chose. Mais il s’entête, car c’est un être qui vit. (Plume, S . 116f.)

Gott erscheint als Kugel, ,boule‘, die, als Inbegriff des Statischen gesehen, synonym mit Vollendung wird: 

Ses premières pensées furent sur la personne de Dieu. Dieu est boule. Dieu est. Il est naturel. Il doit être. La perfection est. C’est lui. (Plume, S. 110)

In diesem Sinne ist Michaux’ Tendenz zu verstehen, die ihn umgebende Welt von einem Innen her, aus einem in sich geschlossenen Raum, zu begreifen. Dieses Innen erscheint in seiner Dichtung in verschiedenen Formen: als Sphäre, Kugel oder Kreis, aber auch als Zimmer oder Turm. Ein derartiger Blickpunkt, in dem ein Maximum an Schweigen und Konzentration erreicht wird, ist Michaux der einzig genehme:

La vue qu’on dit la plus juste du Cosmos, celle d’un point dans une sphère, je l’ai assez naturellement. (Passages, S. 26)

Diese Beschränkung auf eine begrenzende Sphäre als Standort des erkennenden und deutenden Ich besagt zugleich, daß Michaux als einzige Realität nur die durch den Geist geformte oder die aus ihm hervorgehende gelten läßt. Gleich zu Beginn seiner Reisen, schon in Ecuador (S. 126), gelangt der Dichter zu der Feststellung, daß man seine Wahrheit finde „en regardant quarante-huit heures une quelconque tapisserie de mur“, d.h., daß man sie in seinen geheimsten Gedanken entdecke. Häufig mag der Geist die von ihm geschaute Realität mit Hilfe der Phantasie umgestalten, was ihm sodann zu einer gewissen Katharsis gereicht, wenn er in äußerster Betätigung und Erprobung seiner Kräfte eine souveräne Handlungsfreiheit gewinnt. Das mit Hilfe der Phantasie erfahrene Abenteuer bedeutet dem Geiste Gesundung, Training. „Ce cinéma est pour sa santé“ heißt es an einer Stelle des Nachworts zu La Nuit remue, welche die gesundende Kraft der Phantasie feiert. Das in seiner Sphäre eingeschlossene Ich unternimmt bei der geistigen Erfassung des umgebenden alltäglichen, vielgestaltigen, physischen Lebens mittels der Phantasie den Sprung über dasselbe hinaus. Somit wäre neben dem Leben im Innern, das als präexistentieller Zustand oder fötale Existenz auch den Charakter einer magischen Vision, einer Erfahrung des Zukünftigen besitzt, ein zweiter Idealraum gegeben, in dem sich die Michauxschen Träume unmittelbarer Wahrheitserfahrung ansiedeln können. Diese durch die Phantasie belebte Sphäre wird immer erreicht, wenn der Sprung über die umgebende alltägliche und physische Welt gelungen ist.
Während der in seiner inneren Abgeschlossenheit selbstgenügsam ruhende Fötus dem Dichter als eine Idealsituation statischen Seins gilt, treibt das Gefühl des Mangels und der Unzulänglichkeit, das jedes Wesen nach Verlassen des fötalen Bereichs befällt, zu ständiger Aktivität. So verliert auch die in sich geschlossene innere Welt des Dichters ihre Vollendung unter dem Druck der äußeren, ihn umgebenden Wirklichkeit. Das Ich befindet sich in dem Konflikt zwischen seinem Willen zur Handlung, der einem Streben nach Selbstbehauptung inmitten einer bedrängenden Umwelt entspringt, und der eingeborenen Neigung, sich in die Tiefen der eigenen Natur zu versenken, „l’œil sur le bassin intérieur“ (Plume, S. 110). Es ist indessen Michaux’ ständiges Ziel, das Wesen des Seins, ,le Grand Secret‘, zu erfassen. Er glaubt, es in dem Innersten seiner Natur, in den Eingeweiden seines eigenen Körpers zu finden. Indem der Dichter auf der Suche nach Erkenntnis seine eigene innerste Natur zum Schauplatz der Erforschung werden läßt, bedeutet dies Kampf gegen sich selbst. Im Verlauf des Gedichtes „Glu et gli“ werden die Tiefenschichten der menschlichen Natur zur Region dichterischen Schauens. In das Innere eindringen heißt „blindlings drauflosschlagen“ („tape dans le tas!“), um sich der Scheusale zu erwehren, die in den niederen Regionen menschlichtierischen Daseins ihr Unwesen treiben. Das Bild der Kloake oder des Abflußkanals verdichtet sich und offenbart Bereiche, wo selbst das dichterische Wort die Tönung des Exkrementes erfährt, wenn der Dichter, von seinem Innersten verschlungen, nichts anderes mehr ist als „un homme qui n’aurait que son pet pour s’exprimer“. Das Geheimnis des Menschlichen wird auf der Ebene der Digestionsorgane und des Exkrementes entdeckt. Die Michauxsche Sprache, die zugleich ein Aufbegehren gegen die Rhetorik der „Boileau, Boiteux, Boignetière, Boiloux, Boigermain, Boirops, Boitel, Boivéry, Boicamille“ ist, wird zu Worten im Zustand des Werdens, pränatal oder vielmehr prälingual; es ist eine Sprache, die unmittelbar aus dem Bereich der inneren menschlichen Organe hervorgeht und damit die Niedrigkeit der menschlichen Natur erkennbar werden läßt. Diese Sprache vor der Gestaltung im Wort – „glo“, „glu“, „gli“ oder auch „pet“ – stellt eine Verhöhnung jeglichen dichterischen Anspruchs auf Alchimie der Worte, Vision und Prophetie oder auf rationale und handwerkliche Kunst dar. Michaux’ Akt des Schreibens stützt sich auf keine logische Gewißheit, weil nicht ein diesem Akt vorausgehender Sinn besteht; daher kann der Sinn gewisser Sätze geradezu auf ihrer Unvollständigkeit beruhen:

le rire est dans ma…
un pleur est dans mon…

Die Sprache auf der Ebene niedrigster Natur, gebunden an das Dasein organischer Tiefenschichten, kann nicht mehr schamloses Lachen, Schmutz, ,turlururu‘ hervorbringen, denn sie steigt aus den Zonen des Unsagbaren auf. Wenn Michaux davon ausgeht, daß der Mensch nicht das im biblischen Sinne sogenannte ,Salz der Erde‘ darstellt, sondern vielmehr „l’ordure de la terre“ ist, erleidet dieser nicht eine qualitative Minderung seiner Natur, „si l’ordure vient à se salir“, denn hierbei handelt es sich nur um einen Daseinsprozeß, der keine Veränderung des Wesens herbeiführt. Ein Wertverlust widerfährt hingegen dem dünkelhaften Menschen, der sich von seiner Natürlichkeit entfernt hat und von sich als dem ,Salz der Erde‘ spricht. Für Micnaux bedeutet die Aussage, daß der Mensch Unrat, ,ordure‘, ist, soviel wie daß er existiert und Sprache verkörpert, wenn auch diese wiederum nur der Ausdruck der ,ordure‘, des ,pet‘ ist. Über Unrat eingehend zu sprechen wäre demzufolge ohne jeden Sinn:

l’ordure n’est pas faite pour la démonstration.

Neben ihrer doppelten Funktion, eine Poetik darzustellen und die Wahrheit über die menschliche Existenz aufzufinden, weist jene Dichtung der Eingeweide noch eine therapeutische Wirkung auf. Die sprachliche Schöpfung auf dieser Stufe menschlicher Natur ist zugleich innere Reinigung, Hygiene, „ce cinéma est pour sa santé“. Michaux entdeckt auf dieser Ebene der Existenz jene Ungeheuer, die als Ausgeburt seiner in steter Auseinandersetzung mit der bedrängenden Umwelt sich befindenden Phantasie sein Inneres bevölkern. So erfolgt nach dem Kampf mit der Außenwelt und nach dem Eindringen in die Tiefen der eigenen Natur der innere Streit, wobei die Gegenwelt eine Gestalt annimmt, die häßlicher und grauenvoller als die der realen, feindlichen Außenwelt ist. Durch die Überwindung dieser Scheusale, die hier das Innere des Dichters heimsuchen und die in späterer Dichtung einen Bereich jenseits der Wirklichkeit, ,ailleurs‘, beanspruchen, wird das Gefühl des Sieges um so eindringlicher, desto abscheulicher und grausamer die feindliche Gegenwelt gezeichnet ist. Der Ausruf „il n’y a que le premier pas!“ warnt vor einem verfrühten Aufgeben der Kampfstellung. Das Gefühl der ständigen Bereitschaft zum Angriff, der sich bald gegen die feindlichen Kräfte der realen Umwelt, bald gegen die Scheusale der eigenen inneren Natur oder die Ungeheuer aus den durch die Phantasie belebten Bereichen jenseits der Realität richtet, ist in allen Schriften Michaux’ gegenwärtig.
In Michaux artikuliert sich gleichzeitig die Kampfansage gegenüber der ornamentalen, literarischen Sprache. Sich selbst als „caillou courant qui va sur la route concassant concassé jusqu’au concassage au delà duquel il n’y a plus que matière à micrométrie“ (Qui je fus bzw. L’escape du dedans) bezeichnend, erstrebt er die Zermalmung und Zerkleinerung der Worte. Dieser Prozeß der Desintegrierung ist mit dem Michauxschen Akt des Schaffens identisch, der sich in einer Vielzahl von Gedichten metaphorisch als Kampf aufweist. Durch die Onomatopoesie der hybriden Neologismen, die in dem ersten Teil des Gedichtes „Le grand combat“ (Qui je fus bzw. L’Espace du dedans) vorherrschen, wird die Natur der dargestellten Handlung verdeutlicht. Der Kampf findet in der magischen Beschwörungsformel „Abrah! Abrah! Abrah!“ einen rituellen Charakter, der in den folgenden Versen noch verstärkt wird:

Le pied a failli!
Le bras a cassé!
Le sang a coulé!
Fouille, fouille, fouille,
Dans la marmite de son ventre est un grand secret,
Mégères alentour qui pleurez dans vos mouchoirs;
On s’étonne, on s’étonne, on s’étonne
Eton vous regarde.
On cherche aussi, nous autres, le Grand Secret.

Die Inkantation, die aus der Alchimie der Sprache emporsteigt, erfaßt auch den anonymen Vertreter der Menge („on s’étonne“). Im Verzicht auf jegliche Überlegenheit läßt der Dichter jeden aus der Anonymität des Publikums, selbst die Megären – moderne Verfechterinnen Boileauscher Tradition, die als kreischende Gevatterinnen den Sturz des einen der beiden Kämpfer beklagen –, teilhaben an der Suche nach dem ,Grand Secret‘, das in den Eingeweiden des Besiegten lokalisiert wird:

Dans la marmite de son ventre est un grand secret.

Diese burleske Verzerrung des Bildes Michauxscher Suche nach Erkenntnis entspricht dem Wesen des in diesem Gedichte gezeichneten Kampfes, dessen Zuschauer der Dichter am Ende geworden ist, denn er ist auch doppelter Partner und Walstatt dieses Kampfes. Der Dichter ist sowohl Sieger als auch Besiegter auf seiner Suche nach dem ,Grand Secret‘, dessen Räume die eigenen Eingeweide sind und die bald, im Verlauf seines Werkes, Kontinente wie Südamerika und Asien, imaginäre Bezirke wie ,la Grande Garabagne‘ oder die halluzinatorische Dimension des Narkotikums darstellen werden. Der Dichter ist zugleich Sieger und Besiegter, weil er eine schimärische, ursprüngliche Sprache schafft, in der er den Kampf gegen die nichtursprüngliche Rhetorik antritt, währenddessen schon die Megären nahe sind, denn versteckt entstehen innerhalb seiner eigenen, von ihm selbst geschaffenen Sprache bald die Ungeheuer neuer unechter Sprachgebilde.

3. Magische Intervention und exorzisierende Dichtung
Das Phänomen des Kampfes, das als Motiv immer wieder in Michaux’ Werk auftritt, ist als Mittel der Phantasie zu verstehen, mit deren Hilfe der Dichter bemüht ist, sich einer bedrängenden Umwelt zu erwehren und einen durch letztere herbeigeführten Zustand der Demütigung und inneren Leere zu beenden. Die Phantasie und die von ihr jenseits der Realität hervorgerufene Welt ermöglichen dem dichtenden Ich die unbegrenzte Ausübung seiner schöpferischen Kräfte. Die Situation des Dichters gegenüber seiner Außenwelt ist die der Abwehr, für die er die Mittel aus den durch die Phantasie erweckten Bereichen erlangt. Im Zustand des inneren Mangels und der von außen her sich verdichtenden Bedrängung bedarf der Dichter eines ungeheuren Aktes („le presque-désespoir seul y arrive“, Expreuves, exorcismes, préface), der die natürlichen Dimensionen ins Maßlose steigert und die Möglichkeiten des Ich in grenzenloser Vielfalt erscheinen läßt, denn von innen her ist er nicht imstande, die ihn umgebende Gegenwelt zu überwinden, weil diese in allen Wesen und Teilen zum Widerstand ansetzt. Ein solcher Akt schöpferischer Freiheit ist eine magische Intervention, die sich gegenüber den Phasen des Unerträglichen vollzieht – sei es angesichts der alltäglichen Langeweile, der Eintönigkeit einer Landschaft, der Verbitterung im Leid oder gar gegenüber einem Zwang, den die feindliche Umwelt ausübt.

Autrefois, j’avais trop le respect de la nature. Je me mettais devant les choses et les paysages et je les laissais faire. Fini, maintenant j’interviendrai. (La Nuit remue, S. 149)

Das Ich, das unter dem Druck der es umgebenden Wirklichkeit sich zu entladen drängt, wird „tourelle de bombardement qui se forme à ces moments où l’objet à refouler, rendu comme électriquement présent, est magiquement combattu“ (Expreuves, exorcismes, ib.)
Die im Innern des bedrängten Ich gespeicherte emotionale Energie bahnt sich ihren Weg nach außen mittels der Sprache, die durch ständige Wiederholungen von Worten und Satzteilen den Charakter von Beschwörungsformeln erhält. Hierbei ist der einzelne Satz von der explosiven Dichte eines Schreis, der aus der Tiefe des Ich empordringt. Somit möchte Michaux seiner Poesie exorzisierende Kraft verleihen, wobei durch ein stetes Hämmern („pour la magie de malédiction, elle est, avant tout, martèlement, martèlement, martèlement“, Passages, S. 164), durch das sich die Wortwiederholungen bezeugen, die Oberfläche der Dinge zerschlagen werden soll, damit unter ihr der Wesenskern zutage trete, d.h., daß auf seiten der Worte, deren Bilder der konkretesten und unmittelbarsten Erfahrung des Realen entnommen sind, durch Wiederholung und Einhämmern alles versucht wird, um jedes Moment ihres rationalen und emotionalen Gehaltes auszuschöpfen. Später, besonders in dem erstmals 1950 erschienenen Werk Passages, schreibt Michaux jeder Art künstlerischen Schaffens die Funktion der Wesenserkenntnis zu:

Peindre, composer, écrire: me parcourir. (Passages, S. 142)

In dem Vorwort zu seinem Buch Epreuves, exorcismes, das die dichterische Produktion der Jahre 1940 bis 1944 umfaßt, definiert Michaux die Funktion und Bedeutung seiner exorzisierenden Dichtung:

L’exorcisme, réaction en force, en attaque de bélier, est le véritable poème du prisonnier.
Dans le lieu même de la souffrance et de l’idée fixe, on introduit une exaltation telle, une si magnifique violence, unies au martèlement des mots, que le mal progressivement dissous est remplacé par une boule aérienne et démoniaque – état merveilleux!

Damit glaubt Michaux sich im Besitz einer außergewöhnlichen, okkulten Kraft, durch die er Ereignisse und Umstände in eine „boule aérienne et démoniaque“ verwandelt. Der Exorzismus ist eine plötzliche Intervention:

Cette montée verticale et explosive est un des grands moments de l’existence. (ib.)

Die Sprache, bestimmt von jenem „élan en flèche, fougueux et comme supra-humain de l’exorcisme“ (ib.), muß von magischer Wirkung sein, denn Michaux bedient sich ihrer, um seine Lage des Gefangenseins, des ,presque-désespoir‘, in die ihn eine feindliche Umwelt gedrängt hat weshalb nach Michaux’ Definition das Ziel des Exorzismus auch ist: „tenir en échec les puissances environnantes du monde hostile“ (ib.) –, in einen Zustand der Befreiung zu verwandeln, der schließlich gleichbedeutend wird mit der Möglichkeit der Wesenserkenntnis. Die erlebten Momente der Realität werden durch die exorzisierende Kraft der Sprache völlig verändert, währenddessen andere, geschaffene Momente sich mit den ersteren verbinden.
Durch das magische Überschreiten der Grenzen des eigenen Selbst ist gleichzeitig das Gelingen des Sprunges über das Reale hinaus garantiert. Die Intervention ist ein Prozeß der Rettung und des Heils, „par hygiène, par santé“, sie ist nach Michaux’ Meinung ein universales Heilmittel zu Diensten aller und für alle:

une opération à la portée de tout le monde et qui semble devoir être si profitable aux faibles, aux malades et maladifs, aux enfants, aux opprimés et inadaptés de toute sorte. (Mes Propriétés, postface)

Hiermit schreibt Michaux seiner Kunst eine therapeutische Wirkung zu. Dank der exorzisierenden Kräfte gelingt es dem Dichter, „durch List“ („la plupart des textes qui suivent sont en quelque sorte des exorcismes par ruse“, Expreuves, exorcismes, préface) eine intermediäre und imaginäre Welt an die Stelle der äußeren, realen zu setzen, wodurch das unterdrückte und bedrängte Ich seine Freiheit des Handelns und Schaffens wiedererlangt. In dieser Freiheit vollzieht sich gegenüber der feindlichen Umwelt eine Intervention, die in jeder Hinsicht – sowohl in der Wahl der Mittel als auch in der des Zeitpunktes und der Situation – ein Akt der Willkür ist. Der Handlungsprozeß bezieht sich auf die vorgestellte Welt, weil dem Ich eine Einwirkung auf die reale versagt geblieben ist. Dabei erscheint die Intervention vor allem in Form des Angriffs:

Je peux rarement voir quelqu’un sans le battre…
y a des gens qui s’assoient en face de moi au restaurant
et ne disent rien, ils restent un certain temps, car ils ont
décidé de manger.
En voilà un.
Je te l’agrippe, toc.
Je te le ragrippe, toc.
Je le pends au porte-manteau.
Je le décroche.
Je le repends.
Je le redécroche.
Je le mets sur la table, je le tasse et l’étouffe.
Je le salis, je l’inonde.
(„Mes occupations“, Mes Propriétés)

Wie der Wortexorzismus erfordert aufseiten des Ausführenden jede Intervention, um wirksam zu sein, geballte Energie, sei es Haß oder Zorn. Wenn die Intervention gegenüber einem Zustand der Langeweile, Trägheit, Erschlaffung oder des Leidens erfolgt, so setzt sie plötzlich ein, unter dem Antrieb des Zorns, mit dem das zu ersticken drohende Ich sich gegen die bedrängende Umwelt aufbäumt:

C’est peu de chose, que de tordre un cou, d’en tordre dix… Pour cela, la moindre colère, pourvu qu’elle soit vraie, suffit, mais attraper une montagne devant soi dans les Alpes, oser l’attraper avec force pour la secouer, ne fût-ce qu’un instant, la grandiose ennuyeuse qu’on avait depuis un mois devant soi. Voilà qui mesure ou plutôt demesure l’homme.
Mais pour cela il faut une colère-colère. Une qui ne laisse pas une cellule inoccupée…
(„L’attaque de la montagne“, „La Vie dans les plis“)20

Der destruktive Aspekt gewisser Interventionen zeugt von Michaux’ Tendenz, hinter die Fassade der Dinge, in ihre Tiefenschichten zu gelangen, um den Wesenskern der Dinge zu erfassen. Außerdem aber verleiht das Motiv der Zerstörung dem Befreiungsprozeß des Ich eine gesteigerte Note. Im Sinne eines spontanen und explosiven Aktes der Befreiung des Ich aus seiner gehemmten Lage eröffnet sich diesem die Möglichkeit, die Ordnung der Dinge umzustürzen und ihnen seine eigene aufzuzwingen. Es ist das Ziel einer derartigen Intervention, ein Übel durch ein größeres zu beseitigen oder einen Vorgang ins Wanken zu bringen, um ihn dem eigenen Willen zu unterwerfen, so daß das Ich zum Lenker des Geschicks jener neugeschaffenen Situation wird. Schon in Ecuador (S. 88) skizziert Michaux die Linien eines solchen Prozesses, dessen Momente als Angriff, Umgestaltung, Zerstörung, Erneuerung und Veränderung der Dingwelt deutlich werden:

Attaquer des objets, les modifier, les détruire, les refaire, les déplacer. Manier des murs, du style mauresque et espagnol, des fontaines, du noyer américain, du cèdre, des azalejos, des mosaïques et des os de vache…

Eine gewisse Ordnung verändern, eine vorgefundene Situation umwandeln, um die objektive Welt den eigenen Vorstellungen und Wunschbildern anzupassen, dies besagt auch gerade der Versuch jenes Mädchens, von dem Michaux im Nachwort zu La Nuit remue spricht:

Une petite fille, en sa vie si morne, veut absolument avoir été violée dans un bois; pour sa santé. Et le lendemain, oublieuse de la veille, suivant ses besoins du moment, elle rapporte avoir vu une girafe verte boire au lac voisin, dans cette région déserte, sans lac, sans girafe, sans verdure. Ce cinéma est pour sa santé. Et il change à chaque instant suivant ses besoins…

Das Wort „cinéma“ bezeichnet hier die Möglichkeiten einer Aktivität des Geistes, die sich nicht aus der Notwendigkeit des Alltags ergeben. Es bedeutet Hervorbringung eines magischen Klimas, das die Kräfte des Geistes erprobt und sie zu einer souveränen Freiheit des Handelns führt. In der durch die Vorstellungskraft stets erneuerten Welt ist alles Bewegung, Metamorphose, während die vorausgehende Situation des Dichters, die ständiger Ausgangspunkt seiner Interventionen ist, im wesentlichen statischen Charakter besitzt. Das Ich des Dichters, unaufhörlich intervenierend, wirkt auf das Geschick der anderen – Menschen und Dinge – ein, verändert die vorgefundene Situation und verwandelt die soeben erlebte Landschaft, um ihrer Monotonie zu entfliehen, kurz, es drückt der Realität immer wieder die Note seines Wunsches auf. Der Nichtanpassungsfähige schafft sich, um nicht scheitern zu müssen, eine eigene Welt, wobei er vom Realen ausgeht. Dieses Bestreben Michaux’ ist schon früh vorhanden, denn in Ecuador (S. 49) heißt es:

Alors je me comble. Je me donne en esprit taut ce qu’il me plaît d’obtenir. Partant de faits personnels toujours réels et d’une ligne si plausible, j’arrive doucement à me faire sacrer roi de plusieurs pays, ou quelque chose de ce genre.

Wie der Wortexorzismus dient Michaux auch der Humor als magisches Mittel, durch das Bereiche des Realen der umgestaltenden Phantasie unterworfen werden.21 Der Humor erweist sich als wirkungsvollste Kraft, wenn es darum geht, eine unerträgliche Realität zu erschüttern, indem deren Ordnung durch das plötzliche und unerwartete Eindringen eines heterogenen Elementes gestört oder völlig zerstört wird:

J’étais à Honfleur et je m’y ennuyais. Alors, résolument, j’y mis du chameau. (La Nuit remue, S. 149)

Ein Höchstmaß an Lächerlichkeit, in die der Humor das Wirkliche einfängt, wird durch das Mißverhältnis zwischen Mittel und Zweck, die Nichtigkeit einer Ursache oder die Einbeziehung des Außergewöhnlichen in den Rahmen des Alltäglichen erzielt.

4. Frustrierte Intervention und endgültige Befreiung
Wenn in Mes Proprietes oder in La Nuit remue die erhebenden Augenblicke der Intervention und der Schöpfung einer Phantasiewelt verkündet werden, zeugen dennoch viele Texte von Mißerfolg und Vereitelung, von einer dem Zugriff der Phantasie sich entziehenden Realität, die eine Welt der Leere und des Mangels ist. Phantasiegebilde werden plötzlich in ihren Dimensionen verringert und unterziehen sich einer Verwandlung, deren Endprodukt die Gestalt des Lächerlichen annimmt: so verliert die in das Zimmer des Dichters eindringende Frau ihre Größe und Gestalt, bis ihre Erscheinungsformen sich so sehr verändert haben, daß sie nichts anderes mehr darstellt als ein Rebhuhn. Die Bilder, durch die eine unbegrenzte Freiheit des Handelns gekennzeichnet wird, beziehen sich nur auf den kurzen Augenblick, in dem der Dichter durch ein Übermaß an Energie und durch List sich aus seiner ursprünglichen, im wesentlichen statischen Situation erhebt. Auf den Augenblick des Aufschwungs folgt oftmals wiederum ein Zustand der Erstarrung oder Bedrückung, Bisweilen geschieht es, daß der Dichter sich selbst von den Kräften, die ihm zu Interventionen und Mutationen im Phantasiebereich und damit zu Mitteln der schöpferischen Freiheit gereichten, heimgesucht verspürt. Nach hartnäckigem Kampf stellt sich die Ermattung ein, wenn die heraufbeschworenen Kräfte der Intervention, die eine Verwandlung oder Desintegrierung der Umwelt erstrebten, sich nun gegen das Ich selbst richten, weil sie einer Gesetzmäßigkeit gehorchen, die der Notwendigkeit seiner eigenen Natur zugrunde liegt.22 Was dem Dichter verbleibt, ist eine Ergebung in die Ausweglosigkeit seiner Lage zwischen Momenten, in denen er die Kräfte des Ausbruchs und der Umgestaltung intervenierend auf die ihn bedrängende Umwelt anzuwenden vermag, und jenen, wenn dieselben Kräfte die Natur seines eigenen Wesens heimsuchen. Der Augenblick der Resignation und des Wunsches nach absoluter Ruhe, währenddessen eine Ergebung in die Möglichkeit der eigenen Auflösung in das Nichts als Befreiung zu gelten scheint, wird manchmal in elegischem Ton festgehalten: 

Rends-toi, mon cœur.
Nous avons assez lutté.
Et que ma vie s’arrête
. („Nausée ou c’est la mort qui vient?“ Ecuador)

Le Malheur, mon grand laboureur,
Le Malheur, assois-toi,
Repose-toi,
Reposons-nous un peu toi et moi…
Dans ta lumière, dans ton ampleur, dans ton horreur,
Je m ’abandonne.
(„Repos dans le malheur“, Plume)

Das in unerträglichem Leiden und zunehmender Bedrängnis gefangene Wesen sucht als Möglichkeit des Entkommens und der Erlösung das völlige Eintauchen in eine Sphäre der Dichte, die als Zeit oder Nacht gesehen wird. Diese Zeit ist nicht die erlebte und aufeinanderfolgende Augenblicke verbindende, es ist eine Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig umschließt:

Quand rien ne vient, il vient toujours du temps,
du temps,
sans haut ni bas,
du temps,
sur moi,
avec moi,
en moi,
par moi,
passant ses arches en moi qui me ronge et attends.
(Passages, S. 119f.)

In gleicher Weise gilt die Nacht, in die das gescheiterte Wesen eintaucht, als eine unbegrenzte Sphäre von zeitloser Dauer:

Dans la nuit
Dans la nuit
Je me suis uni à la nuit
A la nuit sans limites
A la nuit.
(„Dans la nuit“, Plume)

Der Sprung in ein Darüberhinaus oder ein Anderswo als Erlösung aus der erdrückenden Realität, den eine Tendenz zur Aktivität beschwingt, wird in einer Phase äußerster Passivität vereitelt. Als Evasion bietet sich nun dem in sein Schicksal widerstandslos Ergebenen das gänzliche Verschlungenwerden in einem Darinnen oder das völlige Versinken in ein Darunter an.23

Emportez-moi

Emportez-moi dans une caravelle,
Dans une vieille et douce caravelle,
Dans l’étrave, ou si l’on veut, dans l’écume,
Et perdez-moi, au loin, au loin.

Dans l’attelage d’un autre âge,
Dans le velours trompeur de la neige,
Dans l’haleine de quelques chiens réunis,
Dans la troupe exténuée des feuilles mortes.

Emportez-moi sans me briser, dans les baisers,
Dans les poitrines qui se soulèvent et respirent,
Sur les tapis des paumes et leur sourire,
Dans les corridors des os longs, et des articulations.

Emportez-moi, ou plutôt enfouissez-moi. (Mes Propriétés)

Das Gedicht erzielt in jeder seiner drei Strophen eine innere Geschlossenheit der Bilder, deren Ausmalung extreme Evasionsmomente kennzeichnet und von literarischer Reminiszenz erfüllt ist. Die erste Strophe entfaltet in Michauxscher Variante die bei Baudelaire24Les Fleurs du Mal) findet hier einen direkten Widerhall: Emporte-moi, wagon! enlève-moi, frégate!
Loin! loin!…
und Rimbaud bekannte Szenerie des Entrinnens. Die Karavelle, die als Segelschiff des 15. und 16. Jahrhunderts das Fahrzeug des großen Entdeckers war, soll hier auch noch einmal den Dichter auf die Suche nach dem ,Grand Secret‘ fortführen, Der Sprung in ein anderes Zeitalter, durch „caravelle“ thematisch schon vorbereitet, entspricht dem Wunschdenken der zweiten Strophe, deren Zentralwörter („attelage“, „velours“, „haleine“, „quelques chiens réunis“, „troupe“, „feuilles mortes“) auf das Motiv einer herbstlichen Treibjagd hindeuten, was das Thema der Suche noch verstärkt. Anklänge an die Vergänglichkeit („le velours trompeur de la neige“ – „La troupe exténuée des feuilles mortes“) rufen vertraute Bildzusammenhänge aus Villon und Apollinaire wach. Die dritte Strophe läßt die Liebe, die Erfüllung der Suche, als Sphäre der Evasion gelten, in der jener Punkt erreicht zu sein scheint, wo in Berührung mit den elementaren Kräften der Natur im Innersten der Liebenden, „dans les corridors des os longs, et des articulations“, der Drang zum Fortgetragenwerden in ein Anderswo und Darüberhinaus endgültig schwindet, weshalb das Gedicht in dem Ausruf des letzten, abgerückten Verses enden kann:

ou plutôt enfouissez-moi.

Nach allen erwogenen Möglichkeiten der Evasion und der Auflösung in eine Sphäre ungreifbarer, schnell vergehender („l’écume“, „le velours trompeur de la neige“, „l’haleine de quelques chiens réunis“, „les baisers“, „les poitrines qui se soulèvent et respirent“) oder schon vergangener („une vieille et douce caravelle“, „l’attelage d’un autre âge“) bzw. der Vergänglichkeit anheimgefallener („la troupe extenuée des feuilles mortes“) und daher allesamt zur Wirkungslosigkeit verurteilter Dinge und Elemente ist das Begraben- und Verschlungenwerden die sicherste Befreiung von dem Jetzt der umgebenden Welt. Durch die Auffindung eines derartigen Auswegs hat Michaux dem traditionellen Motiv der Evasion abgeschworen, hat er ihre Richtung verkehrt und sie auf ein Innen oder Darunter hingelenkt.
Die das Ich absorbierende Sphäre kann auch das eigene Innere sein, wo das Ich vollends eintaucht, um an dem elementaren, anonymen Leben teilzunehmen, das die Urkraft des Universums ist. Dieses Eintauchen in die eigene innere Tiefe ist eine sublimierte Variante der in „Glu et gli“ verkündeten Selbstverschlingung und wird zum Thema des Gedichtes „Clown“ (L’Espace du dedans) aus der vom Autor selbst illustrierten Sammlung Peintures25 Die Worte des Gedichtanfangs kennzeichnen den Willen zu wiederholtem Aufbruch aus einer Phase der Ermattung. Mehrmals setzt der Gedanke mit demselben Worte ein, das den Zeitpunkt des Aufbruchs noch in eine unbestimmte Zukunft verweist:

Un jour.
Un jour, bientôt peut-être.
Un jour, j’arracherai l’ancre…

Der Ausdruck „j’arracherai l’ancre“ verdeutlicht das Ausmaß der Anstrengung, die erforderlich wäre, den entscheidenden Akt der Befreiung durchzuführen. Der Gedanke des Aufbruchs aus dem Zustand der Ermattung verbindet sich mit der Erinnerung an die Seereise. Das Bild des Meeres, das eine Reminiszenz an Rimbauds „Bateau ivre“ wachruft, erscheint als ein Element der Befreiung im Baudelaireschen Sinne:

Homme libre, toujours tu chériras la mer! („L’Homme et la mer“, Les Fleurs du Mal)

Der Akt des Ausbruchs aus der Lethargie ist wie so oft eine Intervention des Kampfes und des Angriffs:

Je le trancherai, je le renverserai, je le romprai,…

Es erfolgt eine Befreiung von dem, was dem Ich von außen her am nächsten anhaftet und es zum Nicht-Ich werden ließ:

ce qui paraissait m’être indissolublement proche.

Der Ausdruck „je le ferai dégringoler“ verleiht dem Kampf die Note des Komischen, Clownischen.26 Nach dieser Befreiung von dem Äußeren beginnt die Reinigung des Inneren, wodurch das Ich aufhört, im Hinblick auf die Gesellschaft ein Jemand zu sein, weshalb zuerst jenes Gefühl der Achtbarkeit, „ma misérable pudeur“, beseitigt werden muß, das auf einer Verkettung von Berechnungen und Erwartungen beruht. Das in Beziehung zur Gesellschaft sich befindende Ich, das als solches ein Jemand ist, wirkt hinsichtlich des eigentlichen Lebens parasitär, wird zum Abszeß, zur bösartigen Wucherung auf dem Gewebe des wahren Lebens.27 „Vidé de l’abcès d’être quelqu’un“ – d.h. von der sozialen Schein-Persönlichkeit befreit –, wird es dem Ich möglich, alle Restbestände jener Hülle, welche die Fassade des Nicht-Ich war, abzustreifen, so daß vor dem Wesen des Seins die Welt des Scheins erlischt. Die Heftigkeit jenes Aktes der inneren Loslösung von den Bestandteilen des Nicht-Ich kennzeichnet der Dichter durch Anhäufung und Zusammensetzung von Bezeichnungen, die Aspekte ein und desselben Vorganges beleuchten:

par éclatement, par vide, par une totale dissipation-dérision-purgation.

Wie in dem Vers „vous êtes l’ordure de la terre“ des Gedichtes „Glu et gli“ ist auch hier eine totale Nivellierung menschlicher Existenz erreicht. Aber wie dort erleidet auch hier das Ich keine qualitative Minderung seiner Natur. Dieser Akt der Selbsterniedrigung rückt das menschliche Wesen auf die ihm gebührende Stufe, und er gilt nur in dem Urteil der von ihrer eigenen Würde überzeugten Umwelt als Katastrophe. Namenlos, ohne Identität ist dieses Wesen in sozialer Hinsicht vernichtet. Bedeutet Verlust der Identität in administrativem Sinne hier auch Verlust der psychischen Identität? Es folgt in Majuskeln das Zentralwort des Gedichtes: „CWWN“. In dieser Verwandlung erscheint der Dichter als jenes Ich, das den der Scheinwelt angehörenden Dünkel von Bedeutsamkeit ins Lächerliche zieht. Was nun geschieht, ist ein Sturz ohne Netz, „sans bourse“; es ist ein Eintauchen in eine Region, die als „l’infini-esprit sous-jacent ouvert à tous“ bezeichnet wird und die in der Tat den Bereich des Unterbewußtseins, der regenerierenden Instinktwelt darstellt. Wenn sich das Ich selbst dieser Region öffnet, erlangt es „une nouvelle et incroyable rosée“. Der Tau wird zum Symbol eines neuen Lebens, das dem Ich in der Berührung mit den elementaren Kräften der Natur zuteil wird, vorausgesetzt daß es von allen Restbeständen der gesellschaftlichen Formen und Wertungen befreit ist – „à force d’être nul“ – und, mehr noch, daß es die geistige Kraft besitzt, die im Urteil der äußeren und bürgerlichen Welt verankerten Mentalität zu belächeln und zu verspotten („à force d’être nul et ras… et risible…“; „ras“ – ,kahl geschoren‘ – und „risible“ sind auf „CLOWN“ bezogene Epitheta). So bedeutet der Sturz in die Tiefe der von Äußerem befreiten und im Inneren gereinigten menschlichen Natur eine Regeneration des Ich.

Ein weiterer Ausweg aus einer Situation zwischen Augenblicken des Ausbruchs und solchen erneuter Bedrängung, wobei die intervenierenden Kräfte in einem ambivalenten Verhältnis sowohl zur Umwelt als auch zur inneren Welt des Dichters stehen, findet sich letztlich in jener Objektivierung des alternierenden Kräftespiels, die auf der Ebene der künstlerischen Schöpfung, d.h. in der Kunst, sei es Dichtung oder Malerei, stattfindet. In diesem Falle wird die Ausweglosigkeit inmitten einer Welt der Vereitelung zum eigentlichen Thema Michauxscher Dichtung. Der künstlerische Vollzug selbst, dessen Objektivierung die Themen der frustrierten inneren Welt des Dichters darbietet, zeigt sich nun als wesentlicher Akt der Befreiung, in dem zeitweilig Wortexorzismus oder Spielarten des Humors, als Mittel der Magie erachtet, von Wirkung bleiben. Aber ist jener in Augenblicken der Resignation aufkommende Wunsch nach unbegrenzter Ruhe, der oftmals in Michaux’ Gedichten seinen Niederschlag findet, nicht auch mit der Sehnsucht nach dem Absoluten gleichzusetzen, wo der Geist von dem, was ihn begrenzt und verdüstert, befreit ist? Viele Gedichte lassen innerhalb des Wechselspiels der Kräfte zwischen Erhebung und Niedergang des nach Befreiung und Erlösung strebenden Ich Spuren dieser Sehnsucht erkennbar werden.
So erlangt das Ich einmal durch den Sturz in die Tiefe der von Äußerem befreiten und im Inneren gereinigten menschlichen Natur Regeneration und Leben in ursprünglicherer Form bei seiner Berührung mit den elementaren Kräften der im Unterbewußten regen Instinktwelt. Ein andermal vollzieht sich seine Befreiung auf einer Ebene, wo die Situation der Vereitelung eine künstlerische Ausprägung erfährt und das Ich zum Beschauer der Vergegenständlichung des eigenen Leidens geworden ist. Letztlich lassen jene Gedichte, in denen eine Sehnsucht nach Erlösung vernehmbar wird, einen erreichbaren Zustand der Befreiung und des Heils erahnen.

5. Meskalinrausch – Experiment und Verifizierung
Während des Jahres 1955 begann Michaux’ Versuche mit sinnestäuschenden Mitteln, insbesondere mit Meskalin, dem aus einer mexikanischen Kaktee, Peyotl, gewonnenen Alkaloid, aber auch mit Haschisch und anderen Rauschgiften. Aus der Erfahrung mit den Narkotika gehen in den folgenden zwölf Jahren Werke hervor, die tieferen Einblick in die Struktur des innermenschlichen Bereichs gewähren und der künstlerischen Darstellung einen neuen Ausdruck und Rhythmus verleihen. Es erscheinen vier größere Werke, und zwar 1956 Misérable Miracle,28 1957 L’Infini turbulent,29 1961 Connaissance par les gouffres, 1966 Les Grandes Epreuves de l’esprit, und außerdem zwei ,meskalinische‘ Gedichte, 1959 Paix dans les brisements,30 1967 Vers la complétude.31 Diese Schriften sowie die ihnen beigefügten Zeichnungen wurden teils unter unmittelbarer Einwirkung des Meskalins, teils auf Grund von Notizen, welche die während eines solchen Zustandes gewonnenen Erfahrungen simultan festgehalten haben, hervorgebracht. Die Einnahme von 10 Gramm Meskalin verursacht eine Erschütterung des Nervensystems, die den Dichter in einen synästhetischen Zustand von außergewöhnlicher Heftigkeit versetzt. Es war Michaux’ Hoffnung, daß in den durch das Rauschgift hervorgerufenen Halluzinationen der Mensch eine bessere Kenntnis seiner selbst gewinne.
Das erste Buch, das im Zeitraum des Abenteuers mit dem Meskalin geschrieben wurde, verrät schon durch seinen Titel Misérable Miracle die Enttäuschung des Autors, welche durch die das Werk Connaissance par les gouffres einleitenden und diesem gleichsam als Motto vorangestellten Sätze ebenfalls erkennbar wird:

Les drogues nous ennuient avec leur paradis. Qu’elles nous donnent plutôt un peu de savoir. Nous ne sommes pas un siècle à paradis.

Die durch das Narkotikum erweckten Halluzinationen verraten dem Dichter nichts, was ihm nicht schon bekannt gewesen wäre. Aber es bestand neben Michaux’ Wunsch nach Erkenntnis auch sein unaufhörliches Bestreben, den eigenen Erfahrungsbereich zu transzendieren, das ihn jenen Weg beschreiten ließ, auf dem ihm schon Thomas de Quincey, Baudelaire und andere vorangegangen sind. Während jenen der Giftrausch Evasion bedeutete, der sie in den Zustand des Vergessens und der Verzückung versetzte, führt er Michaux zu einem strengen Experimentieren, das eher mit Askese als mit Wollust verbunden ist. Wenn es Momente der Ekstase gibt, in denen der Autor beschleunigte Rhythmen und eine engere Verkettung der Bilder hervorbringt, hält er dennoch plötzlich inne, um zu untersuchen, was den ihn überwältigenden Bildern zugrunde liegt. Insofern befindet er sich in einer unaufhörlichen Intervention gegenüber dem Meskalin, dessen Wirkungskraft er dazu benutzt, die Geheimnisse seines eigenen Innern zu erforschen. Das Narkotikum dient Michaux als Mittel der Verifizierung und des Experiments; es soll gewisse vorher erlebte Eindrücke und Empfindungen stärken oder abschwächen. Das Ergebnis des Experiments liegt schon in der Beschleunigung und Erweiterung der sprachlichen Bilder, deren Untersuchung bald zu einer Offenbarung des inneren Selbst führt. Die Poesie erfährt indessen keinen größeren Gewinn durch das Experimentieren mit Rauschgiften, unter deren Einwirkung dem Dichter die schon bekannten Ideen und Bilder wieder zuteil werden, wenn diese auch in ihrer Schraffur vertieft und in ihrem Rhythmus beschleunigt erscheinen, was auf die physische Erschütterung als Folge der Narkotisierung zurückzuführen ist. 

In den durch die Wirkung des Narkotikums hervorgebrachten Schriften findet Michaux seine Identität. Es vollzieht sich eine Verschmelzung der beiden Ichs: das eine, das als Autor der unter narkotischem Einfluß durchgeführten automatischen Niederschrift wirksam ist, verbindet sich mit jenem, das durch Analyse des in der Ekstase Konzipierten sich selbst erkennt und sich vollends damit identifiziert. In diesem Sinne bedeutet Michaux die Erfahrung des Meskalinrausches die wiedergewonnene Intimität mit sich selbst, und mehr noch, diese neue Erfahrung versetzt den Dichter in jenen Zustand, den er schon ständig zu erreichen suchte und wo das Ich seine künstliche Einheit durchbricht, um in eine Unbegrenztheit einzugehen. Das Erstreben dieses Ziels findet schon in „L’Infini turbulent“ seine Formel:

Je ne suis dans la mescaline que pour la surnature.

Während unter der Steigerung des Meskalinrausches die wachen Momente des Bewußtseins gänzlich schwinden, steigt ein vitaler Strom aus den Regionen des Unterbewußtseins empor, das nach Michaux’ Deutung32 unaufhörlich rege ist, obschon es durch die Geschehnisse des Alltags von der Oberfläche der Erfahrung zurückgedrängt und von der Dichte des Bewußtseins überlagert wird. Aus diesem Grunde ist dem Dichter die zeitweilige Ausschaltung des Bewußtseins ein höchstes Anliegen, wenn er in Connaissance par les gauffres (S. 276) die Aufforderung ausspricht:

Donner des vacances à la conscience.

Es gilt, den Weg zum Unterbewußtsein freizulegen – was in der Tat eine Reise „au bout de l’homme“ (Expreuves, exorcismes, S. 32) darstellt –, um den menschlichen Geist wieder in den Besitz des wesentlichen Teils seiner selbst gelangen zu lassen, indem er den Strom des unterbewußten Lebens in seiner Fülle und Vielfalt verspürt:

Le fleuve d’instants, le fleuve d’émotions avec ses altérations, ses micro-altérations… ce fleuve qui vire sans arrêt, qui charge affectivement toutes les secondes, que vous ne savez pas voir en vous, vous le voyez en ces instants paradisiaques… ( Connaissance par les gouffres)

Somit gewährt das Abenteuer mit dem Meskalin, das anfänglich sich als Mißerfolg zu erweisen schien, letztlich dennoch Erfüllung.

6. Das Imaginäre und Transreale als deformierte Realität
Michaux’ Dichtung ist Kritik und Anklage der Wirklichkeit. Bei seinem Bemühen, das Reale zu verurteilen oder es dem Lächerlichen preiszugeben, bedient er sich verschiedenartiger Mittel, deren Spannweite von halluzinatorischer Ausmalung bis zu nüchternem Feststellen reicht. Letztes Ziel dieser Dichtung ist ein Durchmessen des menschlichen Wesens in allen seinen Dimensionen und Möglichkeiten, um somit sein Werden zu erfassen. Nichts Menschliches soll dem unentwegten Ansturm der Analysen, die von einer präzisen Sprache vorangetrieben werden, fremd bleiben. Das Gespinst von Schein und Lüge wird durch die Phantasie unaufhörlich in die exzessive Makroskopie aller Linien und Fäden gezerrt. Wenn Michaux der Phantasie auf diese Weise eine Vorrangstellung einräumt, so nur deshalb, um mit ihrer Hilfe dem Menschen einen wahrheitsgetreuen Anblick seiner Welt zu vermitteln, einer Welt, die sich in dem eigenen Körper und Geiste bloßlegt das eigentliche Experimentierfeld Michauxscher Analysen. Die imaginären Bezirke haben in Michaux’ Dichtung keine Eigenständigkeit, in ihnen siedeln sich keine dem Traum entstiegenen Gebilde an; es sind objektive Schöpfungen, Projektionen der eigenen Gegenständlichkeit, deren phantastische Zerrbilder dem Ich zur Spiegelung dienen, teils mit dem Ziel des Belehrens und Heilens, teils mit dem der Selbstverteidigung gegenüber der feindlichen, bedrängenden Umwelt. Möge in Michaux’ Dichtung noch so sehr ein Ausmalen phantastischer Bereiche und Formen bestimmend sein, der Ausgangspunkt zu jeder Metamorphose ist stets das Reale, was Michaux schon in seinem Frühwerk gesteht:

Partant de faits personnels toujours réels et d’une ligne si plausible, j’arrive doucement à me faire sacrer roi de plusieurs pays, ou quelque chose de ce genre. (Ecuador, S. 49)

Im Gegensatz zu den Experimenten der Surrealisten, die eine intensive Befreiung des Bewußtseins aus seiner Bindung an die Wirklichkeit anstreben, nähern sich Michaux’ Versuche wissenschaftlichem Vorgehen, genauer gesagt, der klinischen Analyse von vielfältigen Spannungen, denen das Bewußtsein unterworfen ist. Aus diesem Grunde ist seine Sprache auch nie dem Wortrausch anheimgefallen, haben die Worte nicht eine Schöpfung in sich selbst, jenseits des Bewußtseins, gesucht. Vielmehr ist es Michaux’ ständiges Bestreben geblieben, eine Formel seiner menschlichen Existenz oder eine Definition seines Werdens zu finden. Die fiktive Welt in Michaux’ Lyrik erführe eine Fehldeutung, wollte man sie lediglich als ein Reich der Evasion aus dem Stumpfsinn des Alltäglichen betrachten. Das Imaginäre ist hier vielmehr eine Anklage und Offenbarung des Realen, weil es die reale Welt demaskiert, indem es deren Absurdität und Grausamkeit in exzessiven Formen und Formeln hervortreten läßt. Wenn Michaux seine Dichtung als Hygiene auffaßt, erhält die Phantasie eine befreiende Funktion. Das Reale wird in seinen Aspekten des Leids und Unbehagens bis zum Äußersten vergröbert oder vertieft und erreicht in dieser Sicht seiner gesteigerten Besessenheit schließlich den Grad der Erschöpfung. Eine soeben noch feindliche Welt hat nunmehr, in die Höhen von Phantasmen gesteigert und in dieser Form als Stoff der Dichtung gegenwärtig, ihre Wirkungskraft eingebüßt. Der Zustand der Befreiung ist freilich meistenteils nicht in die Bilder des Gedichtes eingezeichnet, sondern er ergibt sich schließlich aus der Wirkung des Gedichtes auf den Dichter.
Michaux’ Dichtung bietet eine transreale oder imaginäre Welt also nur als Metamorphose des in persönlichstem Bereich erlebten Realen dar. Diese durch ein Überschreiten und Deformieren der Realität des Ich hervorgerufene Welt umfaßt ein aus dem von seiner Umwelt bedrängten Innern projiziertes Konglomerat von Empfindungen, ist ein aus den Zerrbildern des seine Umwelt erlebenden und erleidenden Ich sich entfaltendes Panorama von Phantasmen:

ce cinéma est pour sa santé.

Gegenüber diesem Überschreiten der gegenständlichen Welt des Ich in ein Darüberhinaus in das Transreale – als Möglichkeit der Hygiene und des Heils erweist sich indessen als noch heilsamere Variante zuweilen das völlige Versinken in ein Darunter – in das Infrareale –, das Verschlungenwerden in einem Darinnen als dessen Extremfälle Selbstverschlingung und Rückkehr zum pränatalen Zustand gelten mögen –, wo in Berührung mit den elementaren Kräften der im Unterbewußten regen Instinktwelt das Ich Reinigung und Regeneration erfährt. Zudem ist es Michaux’ ursprüngliche Tendenz, die ihn umgebende Welt von einem Innern her, aus einem in sich geschlossenen Raum, zu erfassen und zu begreifen, was gleichzeitig seiner angeborenen Neigung entspricht, sich in die Tiefen der eigenen Natur zu versenken, „l’œil sur le bassin intérieur. Dem von seiner eigenen Sphäre umschlossenen und begrenzten Wesen wird hierbei eine Beziehung zu dem vielgestaltigen äußeren Leben zuteil, die von einheitlicher und synthetischer Natur ist, und somit eine Teilnahme an der Einheit der Schöpfung gewährt.
Als Idealzustand erscheint Michaux das pränatale Sein, das als eine Verbindung mit der im Schöpfungsakt befindlichen Allnatur gesehen wird. Das Motiv der Rückkehr zum pränatalen Zustand ,envaginement‘ – ist letztlich nur der individualisierende Aspekt jener Tendenz des Versinkens in ein Darunter oder des Verschlungenwerdens in einem Darinnen. Aber wie das Erleben einer transrealen Welt in Michaux’ Dichtung die Funktion des Belehrens und Heilens oder der Selbsterkenntnis erhält, bedeutet dort ein Versinken in infrareale Bereiche in gleicher Weise ein eingehendes, tieferes Erkennen der menschlichen Natur und der sie umgebenden Wirklichkeit.
Beim Zurückweichen des Dichters vor der Gestalt und Form des ihn umgebenden Realen, bei der Flucht vor dem, was für immer schon festgesetzt erscheint, öffnet sich der seiner Poesie eigene, wesensgemäße Raum. An der Schwelle des Realen ruft Michaux andere, unermeßliche, eher erschreckende Welten hervor, die er in gleichem Maße erforscht, wie er sie aus den Trümmern der zusammenstürzenden alltäglichen Wirklichkeit erschafft. So ist beispielsweise ,Grande Garabagne‘ kein von Michaux in seinem Unterbewußtsein entdecktes Land, sondern in allen seinen Teilen ein der Poesie einverleibtes Reich, das, als Labyrinth ungeheurer Einmaligkeit, der Dichter mit der Objektivität eines Gelehrten und der Neugierde eines Reisenden beschreibt. Weit davon entfernt, sich in Ekstase zu versetzen, läßt Michaux fortwährend die Kräfte des Bewußtseins auf die Deutung der Phantasmen einwirken, die sowohl seiner Poesie als auch den durch Drogen verursachten vorübergehenden Veränderungen seiner Psyche entspringen.
Michaux sucht auch im Umgang mit Drogen nicht Evasion, sondern Erkenntnis, eine andere Art des Zugangs zum Geheimnis, denn die Droge gestattet, nach Michaux’ Erfahrung, ein Erforschen des Denkvorgangs. Durch eine Einsicht in den Fluß der Gedanken im Zustand der Entfremdung erfährt der Dichter schließlich auch ein tieferes Verstehen des normalen Vorgangs des Denkens. Mit diesen Versuchen steht Michaux keineswegs außerhalb seines bisherigen Schaffens, weil wie zuvor auch hier eine jenseits der Grenzen des Gewohnten erfahrene Welt offenbarend und deutend auf die als normal bekannte einwirkt. Dennoch ist in jenen Texten, die als Rechenschaftsberichte über Experimente dienen und sich mit Hinweisen auf Vorbereitungen, Umstände, Ablauf, Ergebnisse oder Folgerungen begnügen, nur selten die Ebene künstlerischer Transposition erreicht. Ob Michaux indessen die Form der Dichtung oder die des wissenschaftlichen Textes wählt, jede Art der Niederschrift bedeutet ihm immer ein Mittel des Experiments. In diesem Sinne ist auch eines der jüngsten Werke Michaux’, Façons d’endormi. Façons d’éveillé,33 zu verstehen, mit dem er das durch den Umgang mit Drogen begrenzte und ihm länger als ein Jahrzehnt vertraute Versuchsfeld verläßt, um nunmehr das Reich seiner Träume zu erforschen. Es handelt sich hierbei um Träume des Dichters und deren Deutung, um ein Erforschen, das über die nüchternste Sprache an die äußersten Grenzen des Traumlabyrinths führt, wo dieses den Reminiszenzen des Wachens am meisten geöffnet ist und wo es sich in seinem Geheimsten enthüllt, als Bestiarium blutrünstiger Gewalt. Aus dem Kontrast zwischen der Gelassenheit des Wortes und der bedrohlichen Gestik der Traumwelt erwächst eine neue poetische Triebkraft, die den Grundton dieser Art von Reise in das eigene Innere bestimmt. Der Dichter spricht hier vom Unbewußten, indem er das Bewußtsein am engsten umfaßt – eine neue Art, das Unbekannte zu erforschen und das Phantastische auf der Skala des Alltäglichen abzulesen.

* *

Michaux läßt die ihn umgebende Welt von einem Innern her, das die Tiefe des eigenen Ich sein mag, begreifen, weshalb die Realität sich als eine durch den Geist geformte oder verzerrte versteht oder sie der Phantasie gar Anlaß dazu gibt, einen Sprung über das Wirkliche hinaus zu wagen, um sich in einem zweiten Idealraum anzusiedeln. Ein Versinken in das eigene Innere vollzieht sich als Suche nach einer völlig entschleierten Realität, wo das Dasein organischer Tiefenschichten auf der Stufe elementarer Animalität sich als Zone des Unsagbaren kundtut und die Sprache selbst als ein vor der Gestaltung im Wort bestehendes Lallen („glo“, „glu“, „gli“) vernehmbar wird, wenn die Einbildungskraft des Dichters sich dem Prozeß der Verdinglichung unterzogen hat und mit den Digestionsorganen identisch ist. Gegenüber der Realität, deren Scheusale das Innere des Dichters oder den Phantasiebereich jenseits der Wirklichkeit bevölkern, nimmt Michaux die Haltung eines Streitenden ein. Es ist stets ein Kampf mit einer ins Ungeheuerliche oder Abscheuliche verzerrten Wirklichkeit. Trotz der Zerrbilder und des deformierenden Umgestaltens der Realität läßt Michaux unaufhörlich den Anspruch geltend werden, zu einem vertieften Verstehen der realen Welt zu gelangen und sich und dem anderen einen wahrheitsgetreueren, unbeschönigten Anblick des Wirklichen zu vermitteln. Das dichterische Ich, fortwährend dazu gedrängt, unter dem Druck der es umgebenden Wirklichkeit sich in ein Darüberhinaus zu entladen oder sich in seine Tiefen zu begeben, legt in jeder Art intervenierender oder exorzisierender Tendenz die Linien der Kontinuität fest, die wie Fäden zwischen Wirklichkeit und Wechselbezirken der Phantasie gezogen sind. Die Wirklichkeit ist ständiger Bezugsort, weil ihre Wesenserfassung das Grundmotiv dieser Dichtung darstellt. 

Ferdinand Simonis, aus Ferdinand Simonis: Nachsurrealistische Lyrik im zeitgenössischen Frankreich, Carl Winter Universitätsverlag, 1974

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Wäre Henri Michaux, der in der Nacht zum 19. Oktober 1984 – fünfundachtzigjährig – gestorben ist, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden (was vielerorts als beinah sicher galt), er hätte die Ehrung wohl ebenso souverän zurückgewiesen, wie er sich schon vor Jahren weigerte, den Grand Prix National des Lettres anzunehmen. Michaux’ Scheu, wenn nicht gar Abscheu vor den Ritualen des offiziellen Kulturbetriebs war von der Überzeugung diktiert, daß der Autor, als Person, in jedem Fall hinter sein Werk zurückzutreten habe, um es vor einem anonymen Gegenüber – dem Leser – für sich selbst sprechen zu lassen. Denn für ihn bestand die Autorschaft keineswegs darin, durch die Begründung neuer Diskurse und die Verkündung neuer Wahrheiten Autorität zu gewinnen; sondern, ganz einfach, darin, an verborgenem Unort, aus dem dort vorhandenen Material Botschaften zu komponieren, welche, nicht anders als die Flaschenpost eines Schiffbrüchigen, jeweils für den bestimmt sein sollten, der sie findet: Nachlaß zu Lebzeiten.

Wie konsequent Michaux an der Auflösung, ja Auslöschung der „Funktion Autor“ gearbeitet hat, um dem Eigensinn der Sprache und somit der Eigendynamik des Poetischen zum Durchbruch zu verhelfen, ist besonders eindrücklich durch die dichterischen Texte und die bildnerischen „Alphabete“ belegt, die im Anschluß an die écriture automatique der Surrealisten unter der Einwirkung von Halluzinogenen, also ohne das willkürliche Zutun eines auktorialen Ich-Bewußtseins, entstanden sind und mit denen – nach dem programmatischen Motto: La Votonté, Mort de l’Art! – das ästhetische „Jenseits der Wörter“ auf zuvor noch kaum bekannte Distrikte der Sprachkunst ausgedehnt wurde. Die Textbücher Misérable miracle (1956), L’infini turbulent (1957) und Paix dans les brisements (1959) stehen – nebst zahlreichen „Meskalinzeichnungen“ – als Beispiele dafür.
Die Frage nach dem Autor hat Michaux seit den frühen zwanziger Jahren immer wieder – auch noch in seinen letzten großen Wortarbeiten (Poteaux d’angle 1978; Saisir, 1979; Chemins cherchés, 1981) – zum Gegenstand poetischer Reflexionen gemacht. „Ich bin bewohnt.“, heißt es in Qui je fus (1927):

ich spreche zu Denen-ich-war, und Die-ich-war sprechen zu mir. Bisweilen verspüre ich eine Peinlichkeit, als ob ich hier ein Fremder wäre. Sie alle (Die-ich-war) bilden bereits eine Art von Gesellschaft, und eben erst habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich mich selber nicht mehr herauszuhören vermag… Man ist in seiner Haut nicht mehr allein.

So kommt es denn auch, daß die Identität des Ich-Autors aufgefächert wird zu einem vielstimmigen Wir-Autor, der bald als Name oder als Person, bald als Begriff oder als Ding in den Text eingeht: „Ich war ein Wort, das mit der Geschwindigkeit des Gedankens sich fortzubewegen suchte.“ – Auf diesen frühen Vers findet sich beim späten Michaux manch ein aufschlußreiches Echo; etwa dort (im Gedicht „Le limpide“), wo ein – aber wessen? – Ich zu Wort kommt, das nur noch „vergißt“, „verwirft“ und „befreit“, ein Ich, das keinen Namen mehr hat und keinen Namen mehr nennt, ein Ich, für das es keinen Körper mehr gibt, ein Ich, das vom „verheerenden Kehrer“ vollends zum Verschwinden gebracht wird, und dennoch ein Ich, welches spricht: das Ich der Sprache, nicht Nominativ, sondern Germinativ:

… Je m’arrête d’évoquer
tout stable a défailli
sens radiants
dans un étrange qui me fait sans poids je m’abíme
Transgression de ma dimension
Le corps ne m’enveloppe plus
tout s’allège comme enlève de terre…

Michaux’ dichterische Arbeit ist ein Versuch, das entleerte und verheerte Ich dessen, der das Wort ergreift und vom Wort ergriffen wird, unter verschiedensten „Ich“-Masken neu zu besetzen. „Je cherche un être à enhavir“, steht in einem Text aus dem Band Plume von 1938 zu lesen:

Montagne de fluide, paquet divin,
Où es-tu mon autre pôle?…
Présence de soi: outil fou…
Comme pierre dans le puits man salut à vous!
Et d’ailleurs: Zut!

Nicht selten läßt Michaux der Versprachlichung des dichterischen Ich so lange ihren freien Lauf, bis die Wortkunst jenen Grad von Autonomie erreicht, der sonst dem Hintersinn frühkindlichen Sprachverhaltens oder der Glossolalie vorbehalten ist:

Et glo
et glu
et déglutit sa bru
gli et glo
et déglutit son pied
glu et gli
et s’englugliglolera…

Und ein Gleiches gilt – freilich in weit höherem Maß – für Michaux’ bildnerisches Schaffen, das mehr von der Eigengesetzlichkeit der Linie und vom Eigenleben der Hand geprägt ist als· von einem konzeptuellen Kunst-Wollen. Eine Art „Epiphänomen des Denkens“ vermutet Michaux in der selbsttätigen Bewegung seines Zeichengeräts – so, „als ob man aus sich selbst unablässig ein fluktuierendes, ideal-plastisches und beliebig formbares Gesicht erzeugte, welches automatisch, nach Maßgabe der Ideen und Eindrücke, sich gestaltet und sich verunstaltet… Nicht im Spiegel sollte man sich betrachten. Leute, schaut euch an auf dem Papier… Zeichnet ohne besondere Absicht, kritzelt ganz mechanisch und fast immer werden auf dem Papier Gesichter erscheinen … Sobald ich zum Bleistift, zum Pinsel greife, zeigen sie sich, eines nach dem andern … Bin ich das, all diese Gesichter? Sind es andere? und aus welchen Tiefen tauchen sie auf?…“
Die von Mallarmé eingeleitete, von Hofmannsthal und Valéry fortgeführte Suche nach dem verlorenen Autor ist für Henri Michaux zeitlebens Anlaß zu intensivstem Nachfragen geblieben und zum Leitthema eines umfangreichen Werks geworden, welches zweifellos zu den maßgebenden künstlerischen Leistungen dieses Jahrhunderts zu zählen ist.

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Das Buch im Buch, Merve Verlag, 1988

 

Georg Jappe: Der Marco Polo der Metapsyche, Merkur, Heft 293, September 1972

 

Angela Sanmann: „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy

Theo Buck: Exkurs: Celan als Übersetzer

 

NOCH EINE ROSE: FÜR HENRI MICHAUX

aaaaaaaaaaEnsuite elle tut prise dans
aaaaaaaaaaI ’Opaque…
aaaaaaaaaaH. Michaux

„noch eine rose ist – seele eingeborenen geschlechts:
o geschlecht – wie etwas einzig einiges =
unschaubares horn aus Un-stofflichem!
o geschlecht-o-rose-wilder-schlund:
o rose – verblichne posaunend bis hinein in meinen schmerz!“ –

ich widme Ihnen die notiz:

besorgt in Ihren worten redend
von der im Undurchdringlichen
Entschwundnen

Gennadij Ajgi

 

 

 

Fakten und Vermutungen zu Kurt Leonhard

 

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Nachrufe auf Paul Celan: Neue Literatur ✝︎ NZN



Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.

 

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Sendung „Un siècle d’ écrivains“, Nr. 95, ausgestrahlt am 3. Mai 1995 in Frankreich unter der Regie von Alain Jaubert.

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