– Zu Richard Pietraß Gedicht „Apolda! Apolda!“ aus Richard Pietraß: Spielball. –
RICHARD PIETRASS
Apolda! Apolda!
Kohorten des Winters, in schneegestrählter
Tafellandschaft, proben Entsorgung.
Kopflose Reisende, das Gepäck im Griff
Hasten zwischen widerrufenen Bahnsteigen.
Welcher Zug auch einkeucht, zwischen den Gleisen
der maustote Bussard zeigt die Richtung.
Apolda! Apolda! Der Lautsprecher ruft die Ortsangabe und befördert das Gedicht so in diese Thüringer Anthologie. Aber es hat, den Namen beiseite, wenig zu tun mit Thüringen, nicht mehr wenigstens als mit anderen Landschaften des deutschen Ostens. Denn dieser Ort meint nicht Geografie und Landschaft, er meint Klima und Atmosphäre. Dieses Gedicht erschien 1987 in dem Band Spielball.
Es ist kalt an diesem lyrischen Ort, und wer hier ankommt – „Apolda! Apolda!“ wird empfangen mit einem grußlosen Imperativ. Als wolle sich hier ein Trotz bekunden und eine Illusion: Die trotzige Illusion, jemand habe noch das Sagen und Rufen. Dabei, scheint es, sie haben schön verloren, kopflos, planlos. Die Kohorten des Winters, der Schnee und die Kälte, sie sind dabei, sich dem Menschenwerk und dem Werkeln der Menschen erfolgreich in den Weg zu stellen.
Kopflos hastend die Reisenden, das Gepäck ihr einziger Halt, da niemand der Zuständigen einen Plan hat, eine Richtung weist. Sie hasten von dem einen Bahnsteig, der ihnen eben gewiesen wurde zu dem nächsten, der in der nächsten Minute oder in der nächsten Stunde widerrufen werden wird.
Aber es scheint gleich, welcher Zug sich mühsam durch die Kälte kämpft, woher er kam, wohin, und wann, er, vielleicht, fährt: Die Richtung ist bestimmt durch den toten Vogel, dessen Lebensraum im Eigentlichen nicht der Bahnhof ist; der hier nicht findet, wovon er lebt, der „maustot“ ist, wenn selbst die Mäuse nicht mehr überleben. Und wie der Ort, handelt auch die Richtung nicht von Geografie, sie handelt von Entwicklung: Die Vögel sterben und die Wege der Menschen werden von keinem beherrschbaren, sinnvollen Plan mehr geleitet. Ein beladenes, kopfloses Hasten in der Kälte, in der Hoffnung, den einen oder anderen Zug zu erreichen, wohin er fährt, man wird sehen. Oder bleiben an einem Ort, der die Kälte mit einem hilflosen Imperativ bekämpft.
Man muss das nicht so lesen, aber man kann es. Und dass dies kein Gedicht über Apolda ist, das wollen wir Thüringer dem Dichter nachsehen.
Henryk Goldberg, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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