– Zu Paul Celans Gedicht „Mit wechselndem Schlüssel“ aus Paul Celan: Von Schwelle zu Schwelle. –
PAUL CELAN
Mit wechselndem Schlüssel
Mit wechselndem Schlüssel
schließt du das Haus auf, darin
der Schnee des Verschwiegenen treibt.
Je nach dem Blut, das dir quillt
aus Aug oder Mund oder Ohr,
wechselt dein Schlüssel.
Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort,
das treiben darf mit den Flocken.
Je nach dem Wind, der dich fortstößt,
ballt um das Wort sich der Schnee.1
Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging,
ein Wort nach dem Bilde des Schweigens,
umbuscht von Singrün und Kummer2
Nachdem wir nun Einblick gewonnen haben in den für Paul Celan typischen Gestaltungsprozeß, wollen wir auf Gedichte eingehen, in denen Sprachprobleme inhaltlich zum Ausdruck kommen. Das erste, „Mit wechselndem Schlüssel“, kann gleichsam als Ergänzung der Winzer-Elegie auf poetologischer Ebene gelesen werden. Wir haben gesagt, daß sich im Verhältnis Winzer/Krücke die Beziehung des Dichters zu seiner Sprache spiegle. Im Herbst, der Zeit poetischer Reife und Ernte, ist es dem Stock gelungen, durch das Schweigen des Steins hindurchzusprechen, hinab in den Raum des Gedächtnisses. Es ist geglückt, das Vergessene zu aktivieren und einen Teil des Verschwiegenen heraufzuholen. In sehr differenzierten Chiffren spricht die Elegie von den seelischen Vorgängen, vom Speichern der Erlebnisse, von der Gärung des Schmerzes und von den Mächten, die dem Dichter das Keltern abverlangen. Dagegen beschränkt sie sich, was die Auskunft über ihre sprachliche Entstehung betrifft, auf ein einziges zentrales Motiv, den Krückstock, der auch im „Gespräch im Gebirg“ das verbale Vermögen, respektive Unvermögen der „Geschwisterkinder“ symbolisiert. Im ersten Kapitel war vom Schweigen einer Läuterungsstufe des Wortes die Rede, jedoch sind wir dort nicht über den utopischen Begriff „Ursprache“ hinausgegangen. Wir haben zu zeigen versucht, in welchen Bildern sie sich manifestiert. Nun kann sich Celan mit seinem hochsensiblen Sprachempfinden natürlich der Frage nicht entziehen: Was geschieht mit dem Wort, wenn es in den „Schacht des Erdachten“3 vorstößt, wenn ich es in meinem Innern „bewege“? Wie kommt es, daß ein Zeichen im Augenblick, da es der Dichter aufs Papier setzt, mehr aussagen kann, als sein lexikalischer Inhalt verspricht? Celan interessiert nun nicht mehr bloß die Lagerung und Verwandlung des Erlebnismaterials, er beginnt sich auch um die Transformation der Wörter zu Zeichen, zu Chiffren zu kümmern. Das Gedicht fragt, seiner Natur gemäß verschlüsselt, nach der Herkunft und Beschaffenheit seiner Elemente. Es reflektiert seine Sprachlichkeit. Am auffälligsten signalisiert der Titel des Bandes Sprachgitter diese Thematik. Wir werden auf die Formel zurückkommen. Lesen wir aber die früheren Bücher aufmerksam durch, insbesondere Von Schwelle zu Schwelle, stellen wir überrascht fest, daß bereits hier in einem Drittel aller Gedichte das Zeichen „Wort“ vorkommt, und zwar meistens im Zusammenhang mit Chiffren aus der organischen Welt. Längst nicht alle diese Gedichte befassen sich ausschließlich mit Sprachproblemen, das Wort-Motiv ist meistens mit anderen Hauptmotiven verflochten. Doch „Mit wechselndem Schlüssel“ stellt die Wandlung zum „erschwiegenen Wort“4 in modellhafter Deutlichkeit dar, und deshalb wählen wir es als Beispiel für viele andere Zeugnisse sprachlicher Reflexion.
Bevor wir uns dem Gedicht selber zuwenden, wollen wir dem Motto nachgehen, das wir diesem Kapitel vorangestellt haben. Es soll uns einen ersten Einstieg in die komplexe Welt des Celanschen Wortes ermöglichen. Die Verse stammen aus dem Gedicht „Strähne“, dessen zwei mittlere Strophen lauten:
dies ist ein Wort, das sich regt
Firnen zulieb,
ein Wort, das schneewärts geäugt,
als ich, umsommert von Augen,
der Braue vergaß, die du über mich spanntest,
ein Wort, das mich mied,
als die Lippe mir blutet’ vor Sprache.
Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging,
ein Wort nach dem Bilde des Schweigens,
umbuscht von Singrün und Kummer.5
Die Stelle ist deshalb aufschlußreich, weil sie das poetische Wort definiert als ein Wort nach dem Vorbild des Schweigens und damit das Endprodukt des Prozesses benennt, der im Schlüssel-Gedicht im Gange ist. Zum andern aber auch, weil „Strähne“ an die Jahreszeiten-Metaphorik in „Umsonst…“ und in der Winzer-Elegie anknüpft. Das Wort, das den Sprechenden hier meidet, gehört in den Bereich des Winters. Es regt sich „Firnen zulieb“, hat also eine Beziehung zu Schneegipfeln, was auch in „schneewärts geäugt“ unterstrichen wird. Indessen ist es ein Wort, das sich nur regt, das den „Schnee des Verschwiegenen“ gleichsam nur gewittert hat. Es konnte nicht vollends zum Schneewort werden, weil der von ihm Gemiedene „umsommert“ war von Augen und Sprachblut vergossen hat. Damit rückt er in die Nähe des sommerlichen Dichters in „Umsonst…“, welcher der Zeit gedenkt, als sein Schloß in Flammen stand und er sprach „wie die Menschen“.6 Er ist verstrickt in den Dschungel des Lebens und kennt noch nicht die herbstliche Pflicht der Winzer, das Erlebnis.und das Wort im „Sonnengrab“7 zu bewahren. In der Glut der Liebesblicke vergißt er die groß gespannte „Braue“, das eine dunkle Auge, das ihn an sein Schicksal erinnert und zum Verstummen zwingt. Es ist die Mahnung seines Geschlechtes, der Ruf seiner verlorenen Mutter, die oft im Zeichen der Braue, der Strähne oder des Haares gesehen wird. Das blutende Wort ist zwar ein schmerzbetroffenes, aber kein verwandeltes Wort. Es hat den Raum des Schweigens nicht durchschritten, es hat nicht überwintert. Das Sprachblut des Sommers ist nicht zu verwechseln mit dem Wein der Winzer. Gewiß gilt: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Doch diese Sprache hat, wie Celan weiß, keine bewahrende Kraft. Sie bleibt vorläufig wie das Geschwätz der Juden auf der Gebirgswanderung. Auch ihre Sprache ist betroffene Sprache. Das zeigt sich in der Syntax, in den stammelnden Ansätzen und Wiederholungen. Aber sie versagt vor der Stummheit der Schöpfung, weil sie kein Sprechen, sondern lediglich ein Reden ist. Die gültige Sprache wird durch den grün weißen Gletschersee repräsentiert, also auch in der Prosadichtung dem Winter zugeordnet. An ihrem „Bilde des Schweigens“ versucht sich das Geschwätz der Juden zu orientieren. Über dem Erleben und dem Vergessen, haben wir gesagt, sei das Gedächtnis eingestuft. Was im Gedächtnis bewahrt wird, ist dem Vergessen abgerungen. Seine Zeit ist der Herbst, weil er sowohl dem üppigen Sommer als auch dem toten Winter zugekehrt ist. Diese Dreiheit bewährt sich auch in bezug auf die Sprache. Das erschwiegene Wort, das nur einmal, nämlich im Herbst gefunden werden kann, ist ebenfalls zwiegesichtig. Es vereinigt Tod und Leben in sich, öffnet sich dem Schweigen und gehört doch eindeutig der menschlichen Sprache an. Es bleibt zwar sagbar, sagt indessen nicht, was es meint. Es ist das uneigentliche Wort, die Metapher oder Chiffre. Auf seine Verwandlung spielen die Verse aus dem Gedicht „Die Ewigkeit“ an:
Ein Wort, das schlief, als wirs hörten,
schlüpft unters Laub:
beredt wird der Herbst sein.8
Ein schlafendes Wort – damit kann wohl nur Sprache im „unerweckten Zustand“ gemeint sein, Sprache, die noch nicht vom Geist des Dichters durchdrungen ist, die inhaltsvermittelnde, aber noch nicht inhaltsstiftende Funktion hat. Es ist das Zeichen, wie es in der Alltagssprache gebraucht wird. Indem das Wort unters Laub schlüpft, vermodert es mit dem Blätterabfall im Winter. Wir müssen die Nuance beachten, daß Celan nicht schreibt: Ein Wort… schlüpft unter die Blätter. Es ist bereits in der Nähe des Herbstes angesiedelt, zugedeckt von den Schichten der Erlebnisse, die gleichsam vom sommergrünen Baum des Lebens abgefallen sind und im Vergessen lagern. Das heißt nun für die dichterische Zeitordnung Celans, daß der Winter vor dem Herbst kommt, oder daß der Herbst als Erntezeit die Polarität von Sommer und Winter aufhebt. Das Wort wird im „beredten“ Herbst ein Zeichen sein, das sich mit dem Humus dessen, was von den Erlebnissen im Gedächtnis bewahrt worden ist, vermischt hat. Mit dem ungewohnten Adjektiv, das hier kaum „redegewandt“ im rhetorischen Sinne heißen kann, läßt Celan ganz bewußt die Wendung „ein beredtes Schweigen“ anklingen; die spiegelbildliche Figur zum „erschwiegenen Wort“. Einausdrucksvolles Schweigen hinter dem erschwiegenen Ausdruck – das ist der paradoxe Anspruch, den dieser Lyriker an das dichte, geballte Wort stellt. Seine Affinität zum Winter erweist sich auch im Schlüssel-Gedicht, das nun zur Sprache bringt, was die zitierte Strophe aus „Die Ewigkeit“ nach dem Doppelpunkt der zweiten Zeile offen läßt.
Mit wechselndem Schlüssel
schließt du das Haus auf; darin
der Schnee des Verschwiegenen treibt.
Celan setzt hier nicht eine statische Winterlandschaft ein, wie er es in vielen späteren Gedichten tun wird, sondern ein Schneetreiben. Das heißt, daß das Verschwiegene aktiviert wird, in Bewegung versetzt durch das Wort, das in seinen Raum eindringt. Man könnte sogar ganz konkret an die Zugluft denken, welche nach dem Aufschließen der Türe die Flocken aufwirbelt. Denn, das ist wohl eindeutig: Es handelt sich nicht um ein Schneien im Sinne des meteorologischen Niederschlages, sondern um alte, abgelagerte Schichten. Frisch fallender Schnee müßte „Schnee des Schweigens“ heißen. Das „Haus“ ist, ähnlich wie der Schloßhof in „Umsonst…“, das schimmelgrüne „Haus des Vergessens“9 und der Schacht des Erdachten in der Winzer-Elegie ein sinnbildlicher Ort für die seelische Aktivität des Dichters. Es ist uns aufgefallen, daß Celan den Schauplatz in „Umsonst…“ nach außen verlegt, ein Geschehen, das sich eigentlich im Burgverlies hätte abspielen müssen, in die mittelalterliche Herbstlandschaft transponiert hat. Hier verhält es sich gerade umgekehrt. Die Winterlandschaft wird ins Haus hereingeholt. Die Mauern deuten darauf hin, daß der unbegrenzte Raum des Schweigens faßbar geworden ist. Auch die Verwandtschaft des Flockenwirbels mit dem Wirken des Herzogs der Stille ist unübersehbar, sofern unsere Assoziation, daß das Bild der gesammelten Soldaten von den im Wind treibenden Blättern ausgegangen sein könnte, ihre Berechtigung hat. Und noch eine Parallele fällt auf. Im Schloß-Gedicht gewährt ein Fenster, in dessen Staub die Herzen gemalt werden, den entscheidenden Ausblick und somit Einblick in die geheimnisvollen Vorgänge unten im Hof; hier muß ein „Schlüssel“ gefunden werden, um den Schneeraum für das Wort zu erschließen. Die Gemeinsamkeit der beiden Chiffren besteht darin, daß das Herz die Schlüsselfigur für das Erkennen des Herzogs ist, der bei Celan auch eine lautassoziative Etymologie besitzt. Erst in den transparenten Herzlinien wird für das an die Scheiben gepreßte Gesicht das Geschehen deutlich wahrnehmbar. Die Landschaft des Herzens, aus welcher der Herzog hervorgeht, bedarf ebenso wie der Raum des Verschwiegenen eines aufschließenden Kennzeichens oder Paßwortes. Wir wären nachträglich sogar geneigt, den Schloßhof in einer zusätzlichen Bedeutung als den „erschlossenen Hof“ zu interpretieren.
Das Haus als faßbarer Raum des Schweigens ist angereichert mit all dem, was sich im Dichter im Laufe der Jahre an Unsagbarem niedergeschlagen hat, was er, anstatt vorlaut zu zerreden, stumm in sich hineinschneien ließ. Aus der Bremer Rede wissen wir um die existentiellen Hintergründe für dieses „furchtbare Verstummen“. Der Schnee ist der bittere Bodensatz aus jener Zeit, als Celans Sprache hindurchgehen mußte durch „die tausend Finsternisse todbringender Rede“.10 Die Verbindung der Schlüssel-Chiffre mit dem Wort-Motiv ist nicht einmalig innerhalb des lyrischen Werkes. In der Niemandsrose heißt es:
Schlüsselgeräusche oben, im Atem-
Baum über euch: das letzte
Wort, das euch ansah,
soll jetzt bei sich sein und bleiben.11
Die Schlüsselgeräusche künden an, daß sich eine Verwandlung mit dem Wort vollzogen hat. Es ist zu sich selber gekommen. Es gehört nun einem Bereich an, zu dem der Dichter keinen unmittelbaren Zugang besitzt. Vermutlich ist das hermetisch verschlüsselte Wort gemeint. Ähnlich in „Assisi“, wo die Verse stehen:
Trottendes Tier im Schnee, den die nackteste Hand streut.
Trottendes Tier vor dem Wort, das ins Schloß fiel.12
Von diesen Stellen unterscheidet sich unser Gedicht insofern, als der Schlüssel nicht identisch ist mit dem Wort und überdies von Fall zu Fall wechselt. Die Variabilität des Wortes wird nur abhängig gemacht vom Austauschen der Schlüssel. Die Assoziation an den biblischen „clavis scientiae“, den „Schlüssel der Erkenntnis“, stellt sich ein. So wie der Stock der Juden, den wir mit dem Stab Moses’ verglichen haben, plötzlich zum Stein sprechen kann, so verfügt der Dichter nun über einen Schlüsselbund, der ihm den Zugang zu einem vorher verborgenen Raum öffnet. Das Innere erschließt sich ihm, er gewinnt Aufschluß über sich selbst. Wie kommt es zu dieser Entdeckung? Wir können das Phänomen nicht anders als „Inspiration“ nennen. Das Schlüsselgeräusch ist, ins Akustische übertragen, der zündende Funke, der Reflex einer schöpferischen Idee. Im Augenblick der Inspiration erschließt sich uns eine neue Welt, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussehen wird. Was wir wissen, ist einzig, daß wir in sie eingetreten sind. Wie überraschend man sich das Ereignis von Mal zu Mal denken muß, unterstreicht das Attribut „wechselnd“. Es gibt keinen Passepartout, um dem Verschwiegenen auf die Spur zu kommen. Celan wird sich in der Inspiration eines seelischen Feldes bewußt, das noch nicht mit Worten abgesteckt ist. Das Bild des abgelagerten und von der Zugluft aufgewirbelten Schnees ist deshalb so treffend, weil man immer nur Neuland entdecken kann, das im Unbewußten bereits vorhanden ist. Nun darf man Doppelbedeutungen und Übertragungen bei Celanschen Wörtern nie außer acht lassen. Unter dem Schlüssel versteht man bildlich auch das erklärende Zeichen, den Kode für die Entzifferung oder Herstellung einer Geheimschrift. Damit berührt er sich abermals mit dem Krückstock, der den Winzern erlaubt, im wörtlichsten Sinne „Lese“ ihrer Tränen zu halten, den Schmerz zu entziffern, zu verstehen und zu überwinden. Wer im Besitz des Schlüssels ist – darum die Anspielung auf den „clavis scientiae“ –, vermag die Flocken des Verschwiegenen als Hieroglyphen eines seelischen Urtextes zu erkennen, und er wird versuchen, das Wort, indem er es mit diesem Urtext mischt, unter dasselbe Siegel zu stellen. Damit bahnt sich jener Zusammenhang zwischen der Dechiffrierung des Innern und der Chiffrierung des Wortes an, der für das Verständnis des dichterischen Prozesses so ungemein wichtig ist. Es gibt keinen Bedeutungswandel des Wortes zum Zeichen ohne die intuitive Erkenntnis des verborgenen Urtextes. Dieses Phänomen beschäftigt den Lyriker Günter Eich in seinem kurzen Aufsatz „Trigonometrische Punkte“:
Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit.13
Das wäre bei Celan das Wort im „Atem- / Baum“, das bei sich selber ist und bleibt. Von dieser zugleich vorhandenen und nicht vorhandenen Sprache, einer Sprache „ohne Ich und ohne Du“,14 ist bereits im Kapitel über das „Gespräch im Gebirg“ die Rede gewesen. Mit der Übersetzung ohne Urtext stellt Eich die paradoxe Formel auf für das dichterische Unterfangen, Unsichtbares in seiner Unsichtbarkeit sichtbar zu machen. Celan vergleicht diese Paradoxie im Gedicht „Mit Brief und Uhr“ mit dem Versiegeln eines ungeschriebenen Briefes:
Wachs,
Ungeschriebnes zu siegeln,
das deinen Namen
erriet,
das deinen Namen
verschlüsselt.15
Verschlüsselung und Entschlüsselung des „Namens“ – Kennzeichen des Menschen, gleichsam das lautliche Symbol für sein Wesen – gehen ineinander über in dem Augenblick, da das „Ungeschriebne“, das Verschwiegene unter das Siegel genommen wird. „Siegel“ kommt von lateinisch „sigillum“, das als Diminutiv zu „signum“ (Zeichen, Kennzeichen) entstanden ist. Der Stempel im Wachs verschließt zwar die Mitteilung und erhebt sie damit zur Gültigkeit – man denkt an „besiegeln“, „Rechtskraft verleihen“ –, aber zugleich verrät er den Absender oder die Instanz, sofern man das Siegel entziffern kann. Der Empfänger des Briefes weiß, unter welchem Vorzeichen, in wessen Namen das Mitgeteilte aufzunehmen sein wird. Dies gilt nicht nur für das Gedicht, das für Celan paradoxerweise einem ungeschriebenen Brief gleichkommt – „Geschriebenes“ würde sich auf eine Kommunikation über Worte der unpoetischen Sprache beziehen –, es gilt auch für den Schnee des Verschwiegenen, für den Urtext, der nur so lange ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, als der Dichter die Geheimschrift nicht als solche erkennt. Und diese Entdeckung im Augenblick der Inspiration wird durch den Schlüssel in seiner doppelten Bedeutung versinnbildlicht.
In der zweiten Hälfte der ersten Strophe fragt das Gedicht weiter nach den existentiellen Bedingungen, unter denen diese ständig wechselnde, sich nie schematisch vollziehende Erkenntnis möglich wird:
Je nach dem Blut, das dir quillt
aus Aug oder Mund oder Ohr,
wechselt dein Schlüssel.
Auch hier stoßen wir auf eine Abwandlung eines bereits bekannten Motives: die Abhängigkeit der Kreativität von der Intensität der Schmerzerfahrung. Das Herzenmalen in „Umsonst…“ ist ein wehmütiges, schmerzliches Erinnern, zwar noch nicht ausdrücklich als „Erinnerungswunde“16 bezeichnet, wie es später in Atemwende heißt, doch darauf hinweisend. Die Gebrechlichkeit der Geschwisterkinder im „Gespräch im Gebirg“ und die Invalidität der Winzer haben die Gewißheit bestärkt, daß Celans Dichtung nur als dünne Haut über der stets erneut aufbrechenden Wunde des Daseins verstanden werden kann. Die Verletzung der Sinnesorgane meint wohl nichts anderes als die schmerzliche Betroffenheit des Dichters, welche in „Tenebrae“ in fast blasphemischer Weise zum Martyrium Christi gesteigert wird:
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.17
Die Verse beschwören die schrecklichsten Bilder aus deutschen Konzentrationslagern herauf. Das jüdische Dasein wird als Kreuzweg gesehen; vom Schicksal des Opfertodes bestimmt. Das Bild Jesu steigt aus der blutigen Tränke auf, zu der die Juden in der Todesnacht („Tenebrae“) geführt werden. Die Stigmata finden ihre Entsprechung in den Wundmalen der Sinnesorgane. Im Gedicht „Abend der Worte“ heißt es:
die Narbe der Zeit
tut sich auf
und setzt das Land unter Blut –18
Diese Narbe zieht sich gleichsam mitten durch den Dichter hindurch. Blut bedeutet ja auch Geschlecht, und damit Schicksal. In einer Zeit zu leben und zu schreiben, in der die Muttersprache zur Sprache der Mörder der Mutter geworden ist – ein solches Dasein kann nur erfahren werden als ein „STEHEN, im Schatten / des Wundenmals in der Luft.“19 Die Augen auftun heißt, das Schreckliche sehen; die Ohren auftun heißt, das Schreckliche hören; den Mund auftun heißt, das Schreckliche einatmen und stammelnd davon Zeugnis ablegen. Mit jedem Blick, mit jedem Wort bricht die Narbe der Zeit von neuem auf. Deshalb nennt Celan die Blicke einmal „Seh-/narben“.20 Wenn wir von einem Menschen sagen, er habe blutige Tränen geweint, dann meinen wir zweifellos, daß er bis ins innerste Mark erschüttert worden sei und im Ausdruck des Schmerzes sein Herzblut hergegeben habe. Blutige Tränen sind ja auch die Lese der Winzer. Hören, Sehen und Sprechen im Zeichen des Blutes, das Klaffen der Daseinswunde in Verbindung mit dem Wechseln des Schlüssels, dies deutet darauf hin, daß die Erschließung des Verschwiegenen nur über das schutzlose Offensein im Schmerz führen kann, daß die Inspiration Betroffenheit voraussetzt. Ohne den Blutverlust wäre der Dichter gar nicht für den kreativen Prozeß disponiert.
Die Verse weisen auf die zweite Strophe und somit auf die Beziehung zum Wort voraus, weil Celan das Blut nicht aus drei beliebigen Sinnen quellen läßt. Es sind die primären Organe dichterischer Wahrnehmung, wie sie auch im „Gespräch im Gebirg“ eine Rolle spielen. Wir erinnern uns an den Schleier in den Augen, an das wiederholte „Hörstdu“ der Geschwisterkinder und an die Zunge, welche blöd gegen die Zähne stößt. Mit dem Ohr, den Augen und der Zunge erfahren wir die Sprache in drei verschiedenen Formen: als Klangkörper, als Schriftbild und als Artikulation. Es gibt viele Stellen im Werk Celans, welche seine spezifische „Blutsverwandtschaft“ des Wortes bezeugen.
Nachdem in „Abend der Worte“ sich die Narbe der Zeit aufgetan und das Land unter Blut gesetzt hat, schlagen die „Doggen der Wortnacht“21 an. Blutdürstig scheinen sie sich auf ihre Beute zu stürzen. Dieses Motiv bestärkt die Vermutung, daß im „Blut“, welches wechselweise aus „Aug oder Mund oder Ohr“ stürzt, gleichsam die Nahrung des Wortes enthalten sein muß. Das Wort zehrt vom Herzblut des Dichters, wie es im Erinnerungsgedicht an Paul Eluard der Fall gewesen wäre, wenn der Tote das Wort dem Du nicht hätte verweigern müssen, „das Wort, / an dem das Blut seines Herzens vorbeisprang“.22 Der Puls der Sprache sollte identisch werden mit dem Puls des Dichters, und die Gewinnung des Wortes käme einem Aderlaß gleich. Später, in der Atemwende, ist von einer „… wortdurchschwommenen / Bildbahn, Blutbahn“23 die Rede. Das Wort, das dem Dichter im Blute, liegt, ist zwar das wesenhafte, seinem Schicksal zugemessene, aber noch nicht das verwandelte dichterische Zeichen, wie wir aus der eingangs zitierten Stelle aus „Strähne“24 ersehen haben, wo das Schneewort 1n deutlicher Opposition zum vergossenen Sprachblut steht. Diese Zweigleisigkeit in der Verwendung einer zentralen Chiffre wird erst verständlich, wenn wir hinzufügen, daß Celan die Sprache allgemein als bluterfüllten Organismus sieht. Der Wunde des Daseins entspricht in seiner Vorstellung eine Sprachwunde. Und dabei denkt er vor allem das mißbrauchte, mißhandelte Wort aus der Zeit der „tausend Finsternisse todbringender Rede“.25 Nur unter der Voraussetzung, daß es diese Schändung überlebt, daß ihm „das Blut nicht gerann, als der Giftzahn / die Silben durchstieß“,26 kann es geläutert aus dem Schweigen hervorgehen. So sehr identifiziert sich Celan mit dem Sprachkörper, daß dessen Narben zu den seinen werden. Und damit kommen wir wieder auf die verletzten Sinnesorgane dichterischer Wahrnehmung und Weltbewältigung zurück. Wir versuchen, die beiden Linien, die vom Zeichen des „Blutes“ ausgehen, zusammenzuführen. Mit dem blutüberströmten Auge, dem Ohr und dem Mund erfährt und artikuliert der Dichter, noch bevor er zur poetischen Gestaltung ansetzt, auch eine blutende Sprache, und zwar im doppelten Sinne: eine verletzte und eine „offene“ Sprache. Der wechselnde Schlüssel erschließt nicht nur das Haus des Verschwiegenen, sondern auch, wie der Anfang der zweiten Strophe deutlich sagt, das Haus der Sprache:
Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort,
das treiben darf mit den Flocken.
Da uns das Wort je nachdem in der Lektüre, im Zuhören oder in der eigenen Artikulation aufgehen kann, erscheint die Differenzierung unter den Sinnesorganen durchaus berechtigt. Doch sie ist weniger wesentlich als die Simultaneität des Wechsels, die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge auf so verschiedenen Ebenen, wie sie in Vers 7 zum Ausdruck kommt. Das Gefüge dieser Zeile ist eine elliptische Reduktion. Ausgeschrieben müßte der Satz lauten: Wenn dein Schlüssel wechselt, dann wechselt auch das Wort, das treiben darf mit den Flocken. Der Vergleich des impliziten mit dein explizit formulierten Konditionalsatz zeigt sofort, daß die verlorengegangene Spannung im Celanschen Vers auf zwei Satzteilen beruht, die durch eine ähnliche Form eine gleiche Funktion vortäuschen. Die eingesetzte Konjunktion und das Korrelat verteilen die Gewichte von Bedingung und Bedingtheit zu eindeutig. Die leichte Irreführung des Lesers, der von der Konstruktion her nicht auf Anhieb feststellen kann, ob der Wechsel des Wortes nun vom Wechsel des Schlüssels abhänge oder umgekehrt, ist klug einkalkuliert. Die Erschließung des Verschwiegenen wird typographisch gleichgesetzt mit der Aufschlüsselung des Wortes. Einzig aus den kleinen Partikeln lesen wir einen Unterschied ab: Zu „Schlüssel“ setzt Celan das Possessivpronomen, zu „Wort“ indessen nur den bestimmten Artikel. Während die Inspiration, wie es nicht anders sein könnte, von der persönlichen Eigenart des Dichters geprägt ist, trägt das Wort, bevor es sich mit den Flocken vermischt hat, noch nicht seinen Stempel, sondern gehört zum anonymen Zeichenbestand, wie er im Wörterbuch vorliegt. Das ist der Grund, weshalb es einen Wechsel vollziehen muß. Was verstehen wir aber unter der Aufschlüsselung einer Vokabel? Martin Kessel geht in seiner Arbeit über Die epochale Substanz der Dichtung der heiklen Frage nach, wie der Dichter eigentlich seine Sprache finde:
Der Dichter aber ist zunächst sprachlos. Ja, am liebsten ginge ich soweit, zu sagen, daß das Erstaunen, ja vielleicht sogar der Schreck über den Anruf einer in der Tiefe schlummernden Substanz ihn erst eigentlich sprachlos gemacht hat. Bestürzt und gebannt, gelegentlich nahezu kopfscheu, findet er zunächst das Wort nicht zur Situation, einem reinen Toren vergleichbar wie Parzival, der vor dem kranken Amfortas steht wie vor der ungeheuren Wunde der Welt, unfähig, nach den Gründen zu fragen. Er fragt nicht zuletzt deshalb nicht, weil er frühzeitig erfuhr, daß auch dem Wort eine doppelte Sphäre zukommt und daß erst eine Art Schlüsselwort notwendig ist, um den Zugang zu jener Sphäre zu öffnen, worin das gewünschte Wort nicht nur als eine Funktion der Grammatik auftritt, sondern als Eigenwert, als eine Kraft, ja selber als eine musisch-radiale Substanz von zauberhafter Gewalt.27
Mit der „doppelten Sphäre“ spielt Kessel metaphorisch auf die linguistische Tatsache an, daß jedes Wort außerdem lexikalisch fixierten Inhalt einen semantischen Spielraum besitzt, der es dem Dichter erlaubt, die ihm gemäße Bedeutungsnuance und Verwendungsweise herauszufinden und mittels Chiffren ein eigenes System innerhalb des konventionellen Sprachgebrauchs aufzubauen. Jedem schöpferischen Menschen kehrt die Sprache ihr eigenes Gesicht zu. Man unterscheidet generell zwischen dem aktiven und dem passiven Wortschatz eines Sprechers. Eine ähnliche Differenzierung müßte man beim Dichter vornehmen, wenn man unter „aktiv“ jenen Teil des Sprachmaterials versteht, mit dem sich sein Wesen aktivieren läßt. Diese Vorwahl der Sprachebene, die bereits darüber entscheiden kann, ob ein Werk gelingt oder mißlingt, setzt, wie Kessel sagt, „eine Art Schlüsselwort“ voraus. Auch hier, in seinem Verhältnis zu den Vokabeln, muß der Dichter über einen Kode verfügen, der es ihm ermöglicht, die Spreu vom Weizen zu sondern. Es kommt nicht von ungefähr, daß die meisten großen Lyriker an einem ziemlich eng begrenzten Vorrat von Schlüsselwörtern erkennbar sind. Der Dichter muß die Sprache unter seinem persönlichen Blickwinkel sehen. Wir können uns das Problem am besten anhand der Wortwahl beim Schreiben veranschaulichen. Der Begriff suggeriert die etwas deutschlehrerhafte Vorstellung, der Autor treffe an jeder Stelle seines Textes eine Wahl unter sämtlichen Zeichen, die in Frage kämen, er schlage also von Fall zu Fall im Wörterbuch nach. Auf diese Weise entstünde wohl ein bunt gewirkter Teppich, doch niemals Dichtung, abgesehen davon, daß bei einem so mühsamen Verfahren der rote Faden längst verlorenginge. Das Bedürfnis, so zu arbeiten, zeigt dem Schreibenden im Gegenteil an, daß er nicht disponiert ist. Und dann kommt man immer in die Versuchung, die Sprache für sich dichten zu lassen. Es gehört zum Phänomen der Inspiration, daß die entscheidende Vorwahl bereits getroffen ist. Das Wort wechselt hinüber aus dem anonymen Gebäude der Sprache in den privaten Vorraum der Dichtung. Es bietet sich der Verwandlung zum Zeichen eines neuen Systems an. Als neutrale, lexikalische Einheit wäre es den schwarzen Punkten in der Notenschrift vergleichbar. Die dichterische Intention setzt den Schlüssel und die Vorzeichen hinzu und erkennt den Zusammenhang einer Melodie. Bevor das Wort unter der gestaltenden Hand zur Chiffre werden kann, muß es als „Synonym“ in Erscheinung treten, sinnverwandt in bezug auf den Sinn, den ihm der Dichter geben will. Da erinnern wir uns noch einmal an das Siegel, „das deinen Namen / erriet, / das deinen Namen / verschlüsselt“.28 „Name“ ist bei Celan immer auch ein Zeichen für das „namentliche“, für das wesenhaft zugeordnete Wort.
Interpretieren wir die zweite Strophe als Ganzes, so müssen wir versuchen, sowohl das „Wort“, das mit den „Flocken“ treiben darf, als auch das „Verschwiegene“ und damit das Schweigen präziser zu bestimmen als bisher. Dabei halten wir es für nicht unangebracht, ein paar linguistische Termini zu Rate zu ziehen, allein schon um dem Philologen Paul Celan gerecht zu werden. Ferdinand de Saussures Zweiteilung der Sprache in „la langue“ und „la parole“ scheint in unserem Zusammenhang etwas weit hergeholt zu sein, erweist sich aber als fruchtbarer Ansatzpunkt, sobald wir das Schweigen nicht bloß als Fehlen von Sprache, sondern als nicht aktualisierte Sprache betrachten. Die „parole“ bezeichnet den individuellen Sprachgebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Damit kann der Sprechakt oder eine schriftliche Äußerung gemeint sein. An ihr kann nur teilhaben, wer über die „langue“ verfügt. Sie wäre zu definieren als ein System von „Engrammen“, die im Bewußtsein der Sprecher und Hörer gespeichert sind. In der „langue“ ist potentiell jeder mögliche Sprechakt enthalten. Ebenso kann man sagen, daß das Engramm als Symbol für das Bezeichnete und die Bezeichnung potentiell jede mögliche Bedeutungsnuance eines Wortes enthält. Das gedachte Zeichen ist inhaltlich viel komplexer als das gesprochene, weil es gleichsam im freien Raum steht und in seiner Polyvalenz noch unangetastet bleibt. Im Engramm „Baum“ zum Beispiel kann die Bedeutung „Baum als Stammbaum“ mitschwingen, auch die Übertragung „Baum des Lebens“. Sobald das Wort in einer Landschaftsbeschreibung verwendet wird, fallen diese Assoziationen dahin. Celan nennt die Übersetzung der Engramme aus der „langue“ in das Gedicht, das eine Form der „parole“ darstellt, „Individuation“. In der Büchner-Preis-Rede heißt es:
Dieses Immer-noch [des Gedichts] kann doch wohl nur ein Sprechen sein. Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort her ,Entsprechung‘.
Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation.29
Die Individuation erfolgt im schmerzlichen Bewußtsein der universalen Möglichkeiten, welche in der „langue“, der „Sprache schlechthin“, bereitliegen würden. Jedes Aussprechen bedeutet von vornherein einen Verzicht auf diese Totalität, die wir nur im Schweigen erfahren können. Der Laie stellt sich gerne vor, der Verzicht sei ein Anzeichen von Dilettantismus, je mehr man die Sprache beherrsche, desto kleiner werde das Reservat des Unsagbaren. Doch die meisten Stellungnahmen von Schriftstellern zu diesem Problem stimmen darin überein, daß es sich gerade umgekehrt verhält. Mit zunehmender Sprachvirtuosität wächst der Raum des Unsagbaren und wächst auch das Bewußtsein der Einschränkung durch die Individuation. Paul Celan hätte ganz bestimmt dem Abschnitt aus Max Frischs Roman Stiller beigepflichtet:
Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermöchte, um so reiner erschiene das Unaussprechliche, das heißt die Wirklichkeit, die den Schreiber bedrängt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.30
In diesem Bekenntnis Frischs ist das Vertrauen in die Möglichkeit der Dichtung, etwas Unfaßbares zumindest sehr exakt auszusparen, noch unerschüttert. Celan hätte vermutlich hinzugefügt, daß die Magie der Reinheit des Unaussprechlichen im Schweigen so mächtig werden könne, daß sie den Dichter daran hindere, überhaupt noch Worte zu gebrauchen. Das ist auch der Grund, weshalb sich bei ihm mit wachsender Sprachperfektion eine immer stärker werdende Tendenz zur Sprachverstümmelung abzeichnet. Sein Werk nimmt, wenn man so sagen darf, den letzten Satz aus dem Passus von Frisch wörtlich. Unser Gedicht spricht freilich noch vom glücklichen Zustand vor der Individuation. Es kann mit dem Wort, „das treiben darf mit den Flocken“, nur das Engramm aus der „langue“ meinen, das noch keine scharf umrissene semantische Gestalt angenommen hat.
Wie kommt es, linguistisch betrachtet, daß das Schweigen auf einen Meister des Wortes eine solche Faszinationskraft ausüben kann? Das Verb „schweigen“ heißt bekanntlich nicht bloß „stumm sein“, sondern es klassifiziert das mit ihm verbundene Subjekt als eines, das normalerweise Laute von sich geben kann. Aus diesem Grund wird der Satz „Die Fische schweigen“ als Metapher empfunden, dagegen nicht „Die Fische sind stumm“. Fische können unter keinen Umständen lautlich miteinander kommunizieren. Der Schweigende verzichtet bewußt auf die Aktualisierung der Sprache, weil er das Verschwiegene nicht sagen kann, darf oder will. Doch er verfügt so gut über die „langue“ wie der Sprechende, nur Kombiniert er nicht mit Lautsymbolen, sondern mit Engrammen. Es wäre viel zu einfach, zu behaupten, der Mensch denke in der Sprache, und alles, was sich der Formulierung entziehe, entbehre der gedanklichen Durchformung. Unser Denken spielt sich vielmehr in der ständigen Balance zwischen Zeichen und Inhalten ab. So erfahren wir, daß „Bedeutung“ eine dynamische Wechselbeziehung ist zwischen „signifiant“ und „signifié“ und nicht eine statisch fixierte Abstraktion. Wir alle kennen die Hemmung, etwas auszudrücken, was uns im Kopf zusammenschießt, weil wir wissen, daß der Sinn, durch die Simultaneität der Engramme evoziert, in der diskursiven Syntax und infolge der verbalen Eindeutigkeit verlorenginge. Am besten gelänge die Verständigung, wenn wir die Engramme mittels elektrischer Impulse beim Partner zum Aufleuchten bringen könnten. Da das leider nicht möglich ist und da die lautliche Individuation immer nur ein verkümmertes Teilstück der gefühlten Ganzheit zu Tage fördert, verzichten wir auf das Sprechen und schweigen. Celan sagt:
zu Häupten den Prunk des Verschwiegnen, den Bettel der Worte zu Füßen31
Die seltenen glücklichen Augenblicke, in denen die wortlose Kommunikation gelingt, bestätigen uns indessen, daß unser Schweigen nicht nur Stummheit ist, sondern beredt sein kann. Es ist tatsächlich möglich, gemeinsam über etwas zu schweigen, sofern eine seelische Übereinstimmung zweier Partner vorhanden ist. Wir teilen uns mit, ohne zu Worten Zuflucht nehmen zu müssen, und begnügen uns damit, von einem einzelnen ganz verstanden worden zu sein. Für den Dichter dagegen, der die Aktualisierung der Sprache zu seinem Beruf gemacht hat, gilt es, die Ganzheit des Engramms, die er innerhalb der „parole“ preisgeben muß, auf künstlichem Weg zurückzugewinnen. Das ist einer der Gründe, weshalb er „uneigentlich“ spricht, in Gleichnissen, Metaphern und Symbolen. Er möchte das Zeichen wieder in jenen Geheimniszustand versetzen, in dem es sich vor dem Aussprechen befand. Das heißt aber paradoxerweise, daß er in der Kunstform etwas zurückerobern muß, was er schon einmal besessen hat, nämlich im Schweigen. Von daher wird die Forderung Celans aus dem Motto unseres Kapitels noch verständlicher als bisher. Das dichterische Wort nimmt sich die Offenheit und Polyvalenz des gedachten Engramms zum Vorbild. Oder anders ausgedrückt: Es besitzt nur dann poetische Macht, wenn es jene Ganzheit der Kommunikation stiftet, die, im Ausnahmefall, unter Schweigenden möglich ist. Celan weiß, daß diese Forderung letztlich Utopie bleiben muß. Sein Gedicht kann sie nie ganz erfüllen, doch es entwirft sich darauf hin:
Das absolute Gedicht – nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben! Aber es gibt wohl, mit jedem wirklichen Gedicht, es gibt, mit dem anspruchslosesten Gedicht, diese unabweisbare Frage, diesen unerhörten Anspruch.32
Das absolute Gedicht, das wäre gleichsam der Schnee des Verschwiegenen selbst. Er ließe sich nicht be-greifen, er würde – wenn wir im Bild bleiben wollen – schmelzen, sobald man ihn in die Hand nähme. Er ist auf einen Träger, auf ein Gitter angewiesen, an dem er haften kann.
Halten wir fest: Das Wort, das treiben darf mit den Flocken, ist ein erschlossenes Engramm; das aus der „Sprache schlechthin“ hinübergewechselt hat in die „spezifische langue“ des Dichters, das aber weder lautlich noch inhaltlich fixiert ist. Als „spezifische langue“ eines Menschen würden wir die Summe aller potentiellen Äußerungen bezeichnen die seinem Wesen, seiner Eigenart gemäß sind. Wenn man von der „Sprache eines Dichters“ spricht, meint man ja nicht nur seinen Stil, sondern auch den Spielraum dessen, was ihm zu sagen möglich ist. Das erschlossene Schweigen, in dem das Engramm seine Gestalt sucht, ist nicht mehr eine dumpfe, unstrukturierte Masse von Inhalten, es hat sich dank der seelischen Aktivität in der Inspiration aufgelöst in sternförmige Flocken, die ihrerseits auf der Suche nach einem Träger sind, nach einem Wortkern, um den sie sich ballen können. Erst diese gegenseitige Anziehung ermöglicht die Entstehung einer Chiffre, in der – um Goethes Definition des Symbols auf semantischer Ebene abzuwandeln – das Allgemeine, die traditionelle Wortbedeutung, mit dem Besonderen, der spezifischen Bedeutung des Dichters, verschmilzt. Das Wort drängt nicht nur zum Verschwiegenen, das Verschwiegene drängt auch zum Wort hin. Das Schneetreiben veranschaulicht die dynamische Wechselbeziehung zwischen „signifiant“ und „signifié“, wobei beide Teile, Bedeutung und Bedeutungsträger, umstrukturiert werden.
Nehmen wir ein Beispiel für den komplexen Vorgang! Das Wort „Mandel“ ist für Celan zu einem Schlüssel-Wort im Sinne unseres Gedichtes geworden. Die Art und Weise, wie der Dichter dieses Zeichen in se!nem Werk verwendet, eröffnet uns einen Bedeutungsraum, der weit über seinen lexikalischen Inhalt hinausreicht und für den es keine andern Vokabeln gibt. Im Schlußgedicht des Bandes Mohn und Gedächtnis steht die Bitte oder Klage:
Mache mich bitter
Zähle mich zu den Mandeln.33
Celan möchte nichts anderes sein als eine bittere Frucht am Baum des Lebens. Sein innerster Kern besteht aus Bitternis. Die Übertragung geht zurück auf den Geschmack der Mandel, der sich erst hinterher einstellt, nachdem man sie langsam zerkaut und verschluckt hat. Damit erweitert sich bereits der Assoziationskreis. Eine Existenz, deren Kern als Frucht genießbar ist, kann nur im Sinne eines künstlerischen Daseins verstanden werden. Außerdem erinnert die ovale Form der Mandel an ein tränenförmiges Auge. Das Mandelage ist das Auge des Juden, wie es an zahlreichen Stellen abgewandelt wird: das Mandelauge des Toten“,34 „mandeläugiger Schatten“,35 „… Mandelaug, kamst / durch alle die Wände“.36 Die Bitternis wird durch den formalen Aspekt der Mandel in jenen biographischen Zusammenhang gerückt, den wir bereits kennen. Jüdisches Schicksal klingt an im Namen Ossip Mandelstamm, dessen russische Verse Celan ins Deutsche übersetzt hat und dem der Band Die Niemandsrose gewidmet ist. Abkömmling einer Warschauer Judenfamilie, wurde Mandelstamm ein Opfer der Stalinschen Säuberungen und starb in der sibirischen Verbannung. Sein Name löst bei Celan eine Fülle neuer Mandel-Wortschöpfungen aus: „Mandelbaum“, „Bandelmaum“, „Mandeltraum“, „Trandelmaum“, „Machandelbaum“.37 Peter Horst Neumann, dem wir diesen Hinweis verdanken, schreibt über den Schüttelreim „Mandelbaum/Bandelmaum“:
Celans ,Ganovenweise‘ spricht von „sovielen Untaten“ [Zitat aus Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“], indem sie von einem Baum spricht: vom Mandelbaum, der ein Judenbaum ist. Ein spielerischer Buchstabentausch gibt ihm seine bittersten Früchte: sie baumeln, sie sind an seine Äste „gebandelt“, es ist der „Bandelmaum“, der „Galgenbaum“.38)39
Und schließlich erinnert der „Machandelbaum“ an das Märchen der Gebrüder Grimm, in welchem der ahnungslose Vater sein eigenes Kind verspeist und wo die Knochen des Bruders von der Schwester unter den Machandelbaum getragen werden. Das ganze Geflecht dieser Assoziationen hängt an dem Wort „Mandel“ und an seinen Komposita, so daß man für den jüdischen Dichter Celan den Vers aus Hofmannsthals „Ballade des äußeren Lebens“40 abwandeln könnte: Und dennoch sagt der viel, der „Mandel“ sagt. So wie sich uns die Bedeutungsvielfalt des Zeichens aus dem Werk erschließt, so hat sich seine Evidenz dem Dichter in seinem Innern erschlossen. Verschwiegenes ist ihm zugeschossen, das uns zwischen den Zeilen anweht. An ihm hat sich die in Vers 10 gemeinte Ballung vollzogen, die auch Gottfried Benn in seinem bekannten Gedicht „Ein Wort“ geschildert hat:
Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Spären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.41
Freilich müssen wir die Strophe in unserem Zusammenhang gleichsam von hinten lesen. Benn nimmt die Chiffre als Ausgangspunkt und schreibt über ihre eruptive Entfaltung in der Phantasie des Lesers. Celans Schlüsselgedicht hat die Chiffre zum Ziel, das „erkannte Leben“ würde sich bei ihm auf den tot geglaubten Schnee beziehen, und das „alles ballt sich zu ihm hin“ macht gerade ihre Entstehung aus. Dabei ist es wichtig, zu sehen, daß das Zeichen im Treiben der Assoziationen auch aufgelöst und bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden kann, wie die Kette „Mandelstamm (Name des Dichters) – Mandelbaum – Bandelmaum“ zeigt. Das letzte Wort entspricht dem Bedürfnis des Dichters nach einem Zeichen, in dem Laut und Sinn zusammenfallen.
Der Wandel, der sich am unscheinbaren Wort „Mandel“ vollzogen hat und der bewirkt, daß es zum Pol eines Feldes neuer Vokabeln wird, läßt sich semantisch am ehesten mit dem Begriff der „Wort-Motivierung“ erklären. Ferdinand de Saussure nannte das sprachliche Zeichen „arbitraire“ (willkürlich, beliebig), was nicht etwa dahin zu verstehen ist, daß die Bezeichnung einer Sache von der freien Wahl des Sprechers abhänge, sondern daß das Verhältnis zwischen „signifiant“ und „signifié“ ein beliebiges, nicht logisch erklärbares sei. In der neueren Semantik spricht man von der „Unmotiviertheit“ des Zeichens, was besagen soll: Es gibt keinen natürlichen Zusammenhang zwischen Name und Sinn. Sprachgeschichtlich ist „Mandel“ zurückzuführen auf die althochdeutsche Vokabel „mandala“, die auf einer Entlehnung aus dem spätlateinischen „amandula“ beruht. Doch eine logische Erklärung, weshalb gerade diese und keine andere Lautfolge die Frucht bezeichnet, gibt es nicht. Die Sprache ist kein präzis ausgeklügeltes System von Zeichen, die sich in genau gegeneinander abgegrenzte Bedeutungen teilen. Daher kommt es zum Beispiel, daß wir zu bestimmten Wörtern Dutzende von Synonymen vorfinden, zu anderen dagegen wenige oder gar keine. Rein ökonomisch betrachtet, präsentiert sich uns die Sprache in einem unvorteilhaften Zustand. Polysemie (ein Name, mehrere Sinne), Homonymie (gleichlautende Namen, verschiedene Sinne) und Synonymie (ein Sinn, verschiedene Namen) sind Erscheinungen, die ihren Ursprung in der Unmotiviertheit der Zeichen haben. Wenn der Franzose etwa ausruft: „La vie sacrée!“, wissen wir nicht, ob er das heilige oder das verfluchte Leben meine. Lesen wir denselben Satz aber bei einem Dichter, dann darf es keinen Zweifel geben: Er spricht von der untrennbaren Einheit des Heiligen und Verfluchten im Leben. Dichtung verlangt motivierte Zeichen, sie kann sich keine unbeabsichtigten Zweideutigkeiten leisten. Die Aufgabe des Dichters ist es, die Mängel der Sprache zu beheben, indem er das Wort aus seiner Willkürlichkeit befreit und eine notwendige Beziehung zwischen „signifiant“ und „signifié“ herstellt. Ein typisches Beispiel dafür haben wir in der Winzer-Elegie angetroffen, wo das Verbum „herbsten“ im Sinne von „Weinlese halten“ und von „herbstlich werden“ aufgefaßt werden kann. Betrachten wir noch einmal die Anfänge der beiden Strophen. In der ersten, „Sie herbsten den Wein ihrer Augen“, schließt der transitive Gebrauch des Verbums die Bisemie (Doppeldeutigkeit) aus. In der zweiten aber, „Sie herbsten, sie keltern den Wein“, erlaubt die Syntax, das Keltern des Weines sowohl als Präzisierung des Herbstens als auch als konsekutiven Satzteil zu interpretieren: Sie werden herbstlich, infolgedessen sind sie imstande, den Wein zu keltern. Die beiden Varianten sind nicht nur zulässig, der Vers würde durch die Eindeutigkeit an Gehalt verlieren. Er ist absichtlich so gebaut, daß die Bisemie legitimiert wird. In seiner Studie „Der Vers als Zeichen“, die zwei Zeilen aus Mallarmés Gedicht „Salut“ zum Anlaß nimmt, schreibt Hans-Jost Frey:
Die Imperfektion der Sprache, bestimmt als das Fehlen einer wesentlichen Beziehung zwischen „signifiant“ und „signifié“, ist das, was den Vers nötig macht und ihn gleichzeitig ermöglicht. Gäbe es eine dem zu Sagenden adäquate Sprache, so gäbe es den Vers nicht […]
Der Vers existiert aufgrund des Mangels der Sprache. Er ist auf diesen Mangel angewiesen, weil seine Aufgabe darin besteht, ihn zu beheben.42
Das „herbsten“ läßt sich in der Elegie nicht beliebig auswechseln durch ein Synonym. Der Doppelsinn ist just auf dieses eine Zeichen angewiesen. Dieselbe notwendige Beziehung zwischen „signifiant“ und „signifié“ entsteht beim Symbol und bei der Chiffre, wobei der Unterschied nur ein gradueller sein dürfte. Sie erweist sich im Falle der Mandel-Wörter darin, daß zum Beispiel das „Mandelauge“ nicht durch ein „Kirschenauge“ ersetzt werden dürfte, weil damit der Aspekt des Tränenförmigen und die Assoziation an die Bitterkeit verlorengingen. Die Neuschöpfung „Bandelmaum“ basiert auf einer phonetischen Motivierung. Die Absurdität eines Galgenbaumes, an dessen Ästen die ermordeten Juden „angebandelt“ worden sind, findet ihre Entsprechung in der unsinnig erscheinenden Lautkombination. Wie bei allen Onomatopoetika fallen Laut und Sinn zusammen. Hans-Jost Frey sagt:
In der notwendigen Beziehung ist das Zeichen an das Bezeichnete und das Bezeichnete an das Zeichen untrennbar gebunden.43
Freilich muß man nun zwei Arten von Motivierung unterscheiden: eine innere und eine äußere oder eine primäre und eine sekundäre. Die Legitimation einer Bisemie und die Bildung von Onomatopoetika sind Beweise dafür, daß der Dichter seine Sprache beherrscht, daß er ihre Mängel durchschaut und bewußt auszunutzen versteht. Sie dokumentieren das handwerkliche Können. Wenn für Celan aber Wörter wie „Mandel“, „Stern“ oder „Stein“, um nur drei aus seinem Gitter zu nennen, zu wesenhaften Chiffren werden, verdankt er dies nicht in erster Linie der Sprachvirtuosität, sondern der Fruchtbarkeit des Schweigens. Denn wenn es, wie Hans-Jost Frey schreibt, eine dem zu Sagenden adäquate Sprache gäbe, dann würde einerseits der Vers und andererseits das Schweigen überflüssig. Kunstsprache und Schweigen beheben beide auf ihre Weise die Mängel, von denen die Rede war. Im nicht aktualisierten Engramm ist die Willkürlichkeit des Zeichens aufgehoben, weil weder Laut noch Inhalt eindeutig fixiert sind. Symbol für das Zeichen und das Bezeichnete, kann es sich, je nachdem, welche Empfindungen den Dichter bewegen, jederzeit so strukturieren, daß die Beziehung zwischen „signifiant“ und signifié“ als notwendige erscheint. Im Augenblick, da dem schweigenden Celan das Wort „Mandel“ aufgeht, hat sich die innere oder primäre Motivierung bereits vollzogen. Im zweiten Schritt geht es einzig darum, die notwendige Beziehung sprachlich zu realisieren. Davon zeugt das Kompositum „Mandelauge“ oder das Motiv der Identifikation mit der Bitterkeit der Mandelkerne. Das erschwiegene Wort ist sowohl primär als auch sekundär motiviert. Das macht seine Evidenz aus.
Es ist kein Zufall, daß Celan und mit ihm viele andere Lyriker in Gedichtform vom Prozeß der inneren Motivierung sprechen. Denn letztlich entzieht sich dieses Problem allen linguistischen Annäherungsversuchen. Mit der Frage nach den Gesetzen des Wachstums dichterischer Sprache rühren wir an das Geheimnis der Poesie, das nur die Poesie selber, indem sie es als solches erscheinen läßt, „darstellen“ kann. Die Hilfskonstruktionen mit ein paar Grundbegriffen aus der strukturellen Semantik können uns nicht weiterführen als bis zu dieser Grenze. Wir haben dieses Verfahren gewählt in der Hoffnung, Frischs Satz aus dem Stiller bewahrheite sich auch für die Interpretation:
Je genauer man sich auszusprechen vermöchte, um so reiner erschiene das Unaussprechliche…44
Das Schlüssel-Gedicht will die Frage nicht beantworten, es genügt ihm, sie in Form von Bildern eindringlich zu stellen.
Sogar Gottfried Benn, der mit allen Wassern gewaschene Sprachartist, setzt an entscheidender Stelle, dort nämlich, wo der Satz sich plötzlich als ein Muster von Chiffren erweist, einen Gedankenstrich. Sein Vers verschweigt, wie die Verwandlung vor sich gegangen ist. Und blicken wir zu Erika Burkart hinüber, zu einer Dichterin, deren große Stärke es ist, Geheimnisse so anzurühren, daß sie unangetastet bleiben, finden wir abermals auf das schönste bestätigt, daß es keine rationale Erklärung für die Ballung geben kann. Die erste Strophe aus ihrem Gedicht „Das Wort“ lautet:
Bevor es dir entfällt, laß du es fallen.
Es gräbt sich ein, sich rein zu ruhn.
Es wird sich lösen, wird sich ballen.
Ihm wird getan. Du sollst nichts tun.45
Die Parallelen sind erstaunlich. Das Fallenlassen kommt dem Aufschließen, das Sich-Eingraben dem Eindringen in das offene Haus gleich. Die Ruhe und Reinheit in der Tiefe mahnt an die Stille des Schneetreibens. Auch hier geht die Auflösung des Wortes seiner Ballung voraus. Hingegen treffen wir bei Celan, wenn wir nun zu den Schlußversen der zweiten Strophe zurückkehren, noch ein neues Motiv an, das die passive Vorstellung Erika Burkarts dynamisiert:
Je nach dem Wind, der dich fortstößt,
ballt um das Wort sich der Schnee.
Mit der Anapher „Je nach dem Wind“ knüpft Vers 9 an die erste Strophe an: „Je nach dem Blut, das dir quillt“. Wir haben früher für diesen Seilzug das Bild einer Spiralenbewegung gebraucht, in dem Sinne, daß jeder Kreis etwas bereits Bekanntes auf einer höheren Stufe wieder aufnehme und erweitere. So wie das Wechseln des Schlüssels vom Blut abhängt, das aus Auge, Mund oder Ohr quillt, so ist die Ballung des Wortes durch den „Wind“ bedingt, durch seine Stärke oder die Richtung, aus der er weht. Der Zusatz, daß der Dichter fortgestoßen werde, läßt eher auf das erstere schließen. Die Inspiration, die der schmerzlichen Betroffenheit folgt, ermöglicht den Aufschluß sowohl des Verschwiegenen als auch der Sprache. Auf dieser Stufe löst sich das Wort aus seiner „Traditionsgebundenheit“, wie der Semantiker sagen würde. Es öffnet sich für eine Bedeutungserweiterung. Der Wind wirkt in entgegengesetzter Richtung, indem er dem Wort zu seiner Dichte verhilft. Ganz im Bilde bleibend, haben wir anfangs die Vermutung geäußert, die Flocken würden infolge der Zugluft aufgewirbelt. Indessen ist aus dem Lüftchen mittlerweile ein Sturm geworden, der so wuchtig durch den Raum fegt, daß er den Dichter mitzureißen vermag. Wohin er ihn trägt, wird nicht gesagt. Das Fortstoßen könnte sogar ein Umwerfen sein, wie auch der Blutverlust von einem Umgeworfensein zeugt. Der Wind hat somit nicht nur einen Einfluß auf die Sprache, er bewirkt eine existentielle Veränderung, und zwar eine grundlegende. Er gibt dem Dasein des Dichters einen neuen Impuls, eine neue Richtung. Wir können diese Stelle kaum verstehen, ohne den Wind in Verbindung zu bringen mit Celans zentralem Begriff der „Atemwende“. Dichte, geballte Sprache ist immer Wind- und Atemsprache, wie uns noch das Gedicht „Weggebeizt…“46 zeigen wird. Die Chiffre, die zum Titel des sechsten Gedichtbandes geworden ist, wird von Celan bereits in der Büchner-Preis-Rede verwendet, im Anschluß an die Interpretation von Luciles Ausruf „Es lebe der König!“ in Dantons Tod:
Sein [Büchners] „Es lebe der König“ ist kein Wort mehr, es ist ein furchtbares Verstummen, es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort.
Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.47
Etwas früher heißt es über dieses Wort:
Nach allen auf der Tribüne (es ist das Blutgerüst) gesprochenen Worten – welch ein Wort!
Es ist das Gegenwort […] es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.48
Lucile sagt vor der Hinrichtung Dantons, da sie die Sinnlosigkeit der Revolution erkannt hat, genau das Gegenteil dessen, was sie fühlt. Sie fordert ja nicht die Rückkehr zum „Ancien régime“, sondern stellt die totale Absurdität der geschichtlichen Entwicklung fest. Kein Schreckenswort wie „fürchterlich“, „gräßlich“ usw. hätte ihre Verzweiflung so grell auszudrücken vermocht wie das paradoxe „Es lebe der König!“. Lucile braucht im eigentlichen Sinn Gegen-Worte, Zeichen, deren semantische Quersumme das Gegenteil der einzelnen Bedeutungen ergibt. Es ist der Aufschrei einer Wahnsinnigen. Celan bringt die Stelle in Zusammenhang mit jener bereits zitierten aus dem Lenz, wo es heißt, es sei ihm, Lenz, manchmal nur unangenehm gewesen, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Der Kommentar des Büchner-Preis-Trägers ist uns in Erinnerung: Wer auf dem Kopf gehe, der habe den Himmel als Abgrund unter sich. Es ist der paradox Sprechende. Er sieht die Welt verkehrt, um ihren Unsinn in der absurden Vereinigung von Gegensätzen aufzuheben und zu ertragen.49 Celan begründet die Wahl des kopfstehenden Gegenwortes damit, es habe Büchner und seiner Lucile den Atem und das Wort verschlagen. Das jähe Entsetzen hat sie zum Verstummen gebracht. Nun wissen wir aber, daß das Verstummen bei Celan nicht Wortlosigkeit bedeutet – sonst hätte Lucile ja schweigen müssen –, sondern die Wende zum erschwiegenen Wort; und dieser Umschlag wird als Atemwende gekennzeichnet.
Im Schlüssel-Gedicht kündigt sie sich an im Wind, der den Dichter fortstößt. Wie so oft bei Celan sollte man auch an dieser Stelle die naheliegendste Assoziation nicht außer acht lassen: daß es einem im Sturm tatsächlich den Atem und die Sprache verschlagen kann. Zudem ist es einer der hübschen Zufälle, die wir der Unmotiviertheit der Zeichen verdanken, daß „winden“ (wehen) und „winden“ (sich drehen) lautlich zusammenfallen. Die Homonymie allein wäre noch kein Beweis dafür, daß der Wind mit der Wende zu tun hat, wenn Celan nicht ausdrücklich sagen würde, Dichtung könne eine Atemwende bedeuten, im doppelten Sinne von „heißen“ und „auslösen“. Der Wind, der dem Dasein einen neuen Standort gibt, verheißt Dichtung, denn es ist der Schneewind, der das Verschwiegene zum Wort und das Wort unter die Flocken treibt. Celan wird vom schöpferischen Geist erfaßt. Und damit schließt sich der Kreis, den wir mit dem Stichwort „Inspiration“ geschlagen haben. Das lateinische „in-spirare“ (hineinblasen, einhauchen) basiert auf dem Stammwort „spirare“ (hauchen, atmen, leben), und dieses wiederum läßt an „spiritus“ denken. „Geist“ wird im Alten Testament auch etwa mit „Gotteswind“ übersetzt, vor allem in der Genesis. Zwar hat sich diese Version nicht halten können, wenngleich die bildhafte Vorstellung in Luthers Fassung „… und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser“50 noch durchschimmert, daß der Zustand der gestaltlosen Schöpfung einer Ruhe vor dem Sturm geglichen habe. Dem Celanschen „Wind“, der über den Schnee hinwegfegt und somit das chaotische Schweigen für eine Schöpfung aus Worten aktiviert, können wir nur gerecht werden, wenn wir ihn auch als den lebensspendenden Hauch sehen, der den Dichter im Augenblick der Inspiration erfüllt. Das Finden des Schlüssels, das Aufschließen des Hauses, das ist gewissermaßen der persönliche Anteil des Schaff enden am kreativen Prozeß; den Geist kann er nicht regulieren, er kann sich ihm bloß öffnen. Offensein aber bedeutet Schmerzbetroffenheit bis zu dem Grade, wo das Dasein als Wunde erfahren wird, so daß Hören, Sehen und Sprechen einem Verbluten gleichkommen. Im Wind manifestiert sich die überpersönliche Schöpferkraft, die mächtiger ist als das Ich des Dichters, welches im Zeitpunkt der Atemwende, des Windumschlages sich auflöst und neu kristallisiert. Celan fühlt, daß ihn die Inspiration trägt. Es verschlägt ihm nicht nur den Atem und das Wort, es verschlägt auch ihn selber, in eine unbekannte Richtung, in die das werdende Gedicht weist.
Wir haben in diesem Kapitel nur sehr am Rande von formalen Dingen gesprochen. Einmal deshalb, weil sich „Mit wechselndem Schlüssel“, was die Bauweise betrifft, kaum von den früher interpretierten Gedichten unterscheidet. Der daktylische Rhythmus, die fugische Komposition und die geschlossene Strophenform werden beibehalten. Wir hätten nur wiederholen können, was sich an der Winzer-Elegie gezeigt hat – etwa, daß sich die zweite Strophe in Form von Variationen zu den Themen der ersten entfaltet, daß jede neue Metapher mit einer bereits bekannten verschränkt wird, usw. Darüber hinaus gibt es aber auch einen inhaltlichen Grund für den Verzicht auf eine formale Analyse. Das Gedicht spricht am Modellfall des Einzelwortes vom Wachstumsprozeß der Chiffre vor der Aktualisierung der Sprache in der „parole“. Es klammert die Frage, wie die Zeichen miteinander verbunden werden müssen, damit der Schnee des Verschwiegenen haften bleibt, aus. Das ist das Vorrecht seiner Modellsituation. Es kümmert sich nicht um das „Hervorbringen“ und kann folglich die formalen Konsequenzen aus der Forderung nach erschwiegenen Worten nicht an seiner eigenen Gestalt demonstrieren. Daß aber das immer paradoxer werdende Unterfangen, sprechend zu verstummen, daß der Anspruch des Gedichtes auf eine Kommunikation, wie sie im Grenzfall zwischen zwei Schweigenden möglich ist, solche Konsequenzen nach sich ziehen muß, liegt auf der Hand. Deutlich ablesbar wird der Einfluß der Sprachskepsis auf die Struktur der Verse im Band Sprachgitter, der die einschneidendste Zäsur in der formalen Entwicklung der Lyrik Paul Celans darstellt. Hier beginnt die allmähliche Auflösung der Elegie. Wir wollen indessen für unser letztes Kapitel ein Gedicht aus dem Buch Atemwende herausgreifen, denn es geht uns nicht darum, den Stilwandel der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre schrittweise zu dokumentieren. Der elegischen Periode möchten wir einen Text gegenüberstellen, in dem der neue Ton bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Außerdem scheint uns die Schaffenszeit, in die der 1959 erschienene Band Sprachgitter fällt, durch das „Gespräch im Gebirg“ genügend repräsentiert zu sein.
Hermann Burger, aus Herman Burger: Paul Celan, Fischer Taschenbuch Verlag, 1989
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