GLASPERLENSPIEL
Musik des Weltalls und Musik der Meister
Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören,
Zu reiner Feier die verehrten Geister
Begnadeter Zeiten zu beschwören.
Wir lassen vom Geheimnis uns erheben
Der magischen Formelschrift, in deren Bann
Das Uferlose, Stürmende, das Leben
Zu klaren Gleichnissen gerann.
Sternenbilder gleich ertönen sie kristallen,
In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn,
Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen
Als nach der heiligen Mitte hin.
Ich lege Dir die letzte Fassung des neuen Gedichtes bei.1 Ja, das ist komisch: während die ganze Welt sich in Gräben und Bunkern etc. bereit hält, um unsre bisherige Welt vollends in Splitter zu schießen, war ich tagelang damit beschäftigt, dem kleinen Gedicht eine bessere Fassung zu geben. Es hatte zuerst vier Strophen und hat jetzt nur noch drei, und ich hoffe, es sei dadurch einfacher und besser geworden und habe nichts Wesentliches verloren. In der ersten Strophe störte mich die vierte Zeile schon von Anfang an, und beim öfteren Abschreiben für Freunde begann ich dann Zeile um Zeile und Wort um Wort zu beklopfen und zu prüfen, was entbehrlich sei und was nicht.
Neun Zehntel meiner Leser merken es überhaupt nicht, ob das Gedicht diese oder jene Fassung hat. Von der Zeitung, die das Gedicht drucken wird, kriege ich, wenns gut geht, etwa zehn Franken dafür, einerlei ob es diese oder jene Fassung sei. Für die Welt ist eine solche Beschäftigung also ein Unsinn, etwas Spielerisches, Komisches, eher schon Verrücktes, und man kann sich fragen: wie kommt der Dichter dazu, sich um seine paar Versehen solche Sorgen zu machen und so die Zeit zu vertun?
Und man könnte antworten: erstens ist das, was der Dichter da tut, vermutlich zwar wertlos, denn es ist nicht wahrscheinlich, daß er grade eins von den ganz wenigen Gedichten gemacht habe, die nachher für 100 und 500 Jahre am Leben bleiben – aber dennoch hat dieser komische Mann etwas Besseres, etwas Unschädlicheres, Harmloseres und Wünschenswerteres getan als die Mehrzahl der Menschen heute tut. Er hat Verse gemacht und Worte aufs Schnürchen gereiht, aber er hat weder geschossen noch gesprengt, noch Gas gestreut, noch Munition fabriziert, noch Schiffe versenkt etc. etc.
Und man könnte auch antworten: Daß der Dichter so seine Wörtchen klaubt und setzt und auswählt, mitten in einer Welt, die morgen vielleicht zerstört sein wird, das ist genau das Gleiche, was die Anemonen und Primeln und andern Blümchen tun, die jetzt auf allen Wiesen wachsen. Mitten in einer Welt, die vielleicht morgen mit Giftgas überzogen ist, bilden sie sorgfältig ihre Blättchen und Kelche, mit fünf oder vier oder sieben Blumenblättchen, glatt oder gezackt, alles genau und möglichst hübsch.
Hermann Hesse, Brief an seinen Sohn, April 1940
– 25 Gedichte von Hermann Hesse. –
Schmale Gedichtbücher haben den Dichter Hesse immer gekennzeichnet. Es begann 1899 mit den Romantischen Liedern und den Prosastücken unter dem Titel Hermann Lauscher (1901). Hesse war zu dieser Zeit ein junger Mensch von 21 bzw. 23 Jahren. Er arbeitete als Gehilfe in einer Buchhandlung mit einem monatlichen Gehalt von 110 Schweizer Franken. Seine frühesten Gedichte ließ er auf eigene Kosten drucken. Nach seiner zweiten Publikation Eine Stunde hinter Mitternacht veröffentlichte Rainer Maria Rilke eine sehr freundliche Besprechung, die ihm die Verbindung zu Carl Busse einbrachte, der 1902 den Band Gedichte, mit der lyrischen Ernte aus den Jahren 1899–1902, bei Grote in Berlin herausgab.
Hesse hat sich immer wieder zu der Art und Bedeutung seiner Gedichte geäußert, er machte sich Gedanken über ,gute‘ und ,schlechte‘ Gedichte. Natürlich wußte er, daß Gottfried Benn einmal geschrieben hatte, ein Autor könne nur sechs „vollkommene“ Gedichte verfassen, aber er wußte auch, daß die Unterscheidung zwischen guten und schlechten, zwischen gelungenen und nicht gelungenen Gedichten sehr schwierig ist. Der Grund wäre leicht zu finden, meinte er:
Ein Gedicht ist in seinem Entstehen etwas ganz Eindeutiges. Es ist eine Entladung, ein Ruf, ein Schrei, ein Seufzer, eine Gebärde, eine Reaktion der erlebenden Seele, mit der sie sich einer Wallung, eines Erlebnisses zu erwehren oder ihrer bewußt zu werden sucht. In dieser ersten, ursprünglichen, wichtigsten Funktion ist überhaupt kein Gedicht beurteilbar. Es spricht ja zunächst lediglich zum Dichter selbst, ist sein Aufatmen, sein Schrei, sein Traum, sein Lächeln, sein Umsichschlagen. („Über Gedichte“, GW 11, S. 197)
Und es kommt noch eine andere Erfahrung hinzu: Je nach einer Lebensempfindung findet man ein Gedicht gut oder schlecht, und es kann sein, daß man Gedichte, die man lange Zeit für schön gehalten hat, in einer späteren Lebensphase als nicht gelungen beurteilt oder umgekehrt. Es kommt im Leben eines Menschen immer wieder vor, daß ein lange als schön empfundenes Gedicht einem plötzlich unwert wird oder die schönen Gedichte einem wie künstlich vorkommen. „Aber auch hier lauert Enttäuschung“, schreibt Hesse, „das Lesen schlechter Gedichte ist ein überaus kurzfristiger Genuß, man hat schnell genug davon. Aber wozu denn lesen? Kann nicht jedermann selber schlechte Gedichte machen? Man tue es, und man wird sehen, daß das Machen schlechter Gedichte noch viel beglückender ist als sogar das Lesen der allerschönsten Gedichte.“
Mich haben eine Handvoll Gedichte von Hesse durch mein Leben begleitet – frühe Gedichte, wie „Dorfabend“, „Im Nebel“, „Der Blütenzweig“ oder „Die Birke“ –, aber auf besondere Weise fühlte ich mich zu jenen Gedichten Hesses hingezogen, in denen er seinen Dichterberuf ausdrückt. Diese Gedichte sind hier gesammelt, so z.B. das 1927 entstandene achtzeilige Gedicht „Blauer Schmetterling“.
Sanft bewegt schweben die Daktylen dahin, die Reime sind rein gehalten, das Reimschema klar durchgeführt, im gewagten Enjambement wird der „Falter“, der entscheidende Träger der Gleichnisbeziehung, hervorgehoben. Der Autor sagt nichts über die Empfindung aus, die ihn bewegt, er läßt sie „sich selber sagen“. In der Ambivalenz des Wortes „Schauer“ liegen Wehmut und Freude zugleich. Mit dem anaphorisch gebrauchten „so“ setzt die Gleichnisbeziehung ein; beide Teile gehen fugenlos ineinander über. Die Epiphora, die in einer Antiklimax vom Glitzern zum Vergehen angeordnet ist, hebt eindrucksvoll das Vergängliche alles Schönen und allen Glücks hervor. Der Dichter vertieft sich nicht „erinnernd in das Vergangene“, wie Emil Staiger die Gestaltungsweise des lyrischen Dichters bestimmen will. Das lyrische Dichten ist nicht „unwillkürlich“, der Dichter steht seinem Erlebnis deutlich gegenüber: Er „leistet“ das Festhalten einer augenblicklichen Stimmung; er erinnert nicht an das Vergangene, sondern beschwört den gegenwärtigen Augenblick. Dies zeigt auch die letzte Strophe des Gedichtes „Flötenspiel“ von 1940:
Es war der Welt geheimer Sinn
In seinem Atem offenbart,
Und willig gab das Herz sich hin
Und alle Zeit ward Gegenwart.
Immer wieder gestaltet Hesse diese „Sinnbilder alles Schönen und Vergänglichen“. Er nennt „Blumen und Schmetterlinge, die unvergänglicher Dinge flüchtiges Gleichnis sind“. Seine Sehnsucht zum anderen Pol, zum Dauern ist allzeit rege:
Einmal zu Stein erstarren, einmal dauern.
In seinen späteren Jahren wird für Hesse das Gedicht immer deutlicher zu einer Metapher für den Beruf des Dichters. So etwa das Gedicht „Das Glasperlenspiel“:
Der Lyriker ist sichtlich um ein alternierendes Metrum bemüht. Seine fünffüßigen Jamben erreichen indes nicht die klassische Vollkommenheit des vers commun, wie sie etwa Wieland kennzeichnet, dessen Sprache für Hesse „stets etwas musterhaft Klares und Lebendiges“ hat. Hesse verzichtet hier auf den Einschnitt nach der vierten Silbe, wie der vers commun es erfordert, und versucht doch auf seine Weise das alternierende Metrum zu beleben und zu beseelen. Schon die Schlußzeilen der Strophe, die auf vier trochäische Füße gekürzt sind, enthalten ein belebendes Element. An ganz bestimmten Punkten der Verse werden Worte eindrucksvoll hervorgehoben, indem sie in die Doppelsenkung gestellt werden.
Immer wieder ist dieses Verfahren in Hesses Alterslyrik zu beobachten: Die alternierende Bewegung wird unterbrochen, dafür wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die in den Doppelsenkungen stehenden Worte gelenkt, die dann auch jeweils – wie hier die Adjektive „begnadet“, „magisch“ und „heilig“ – besonders bedeutsam sind. Der Dichter beschwört die Geister „begnadeter“ Zeiten, gotterfüllter Zeiten:
Alle Begnadungen, die ich erfuhr
Stunden von Liebe, Stunden von Geist beseelt,
Wurden Gestalten, stehen bewahrt und gezählt
Zeichnen mir durch mein Leben die Gottesspur.
(„Kranken-Nacht“)
Der Dichter verdichtet die Welt zu magischen Formeln. Durch die Magie der Worte gerinnt alles Geschehen zum Gleichnis, gerinnen Glück und Schmerz über vergängliche Schönheit zum Gleichnis des Falters, und die beiden Pole des Lebens berühren sich. Der Dichter ist der Wissende, der, selbst unerkannt, seine Weisheit in „magische Formelschrift“ bindet.
Hesse hat jene Stufe der Lebenseinsicht erreicht, wie sie Goethe formulierte:
Frömmigkeit, Ehrfurcht, Dienenwollen.
Nur nach der „heiligen Mitte“ hin kann der an den Bildern Dienende fallen. In dem Gedicht „Orgelspiel“ erschließt der Hinweis auf „kristallen“ noch einmal das Phänomen „heilig“ bei Hesse: Die Bilder durchlichten die Welt wie „Ein Kristall, in dessen klaren Netzen / Hundertfach nach reinlichsten Gesetzen / Gottes lichter Geist sich selber dichtet“. Dichtung ist Dienst an den Bildern, und nur durch diesen „Dienst“ „ward unserm Leben Sinn“. Dieser Dienst an den Bildern, in denen „Gottes lichter Geist sich selber dichtet“, führt zur „heiligen Mitte“ hin.
Diesen Dienst erweist auch das Gedicht aus dem Jahre 1937 „Chinesisch“:
Feierlich und demütig schreiten die Trochäen – der fünffüßige Trochäus klingt für das Ohr des modernen Lesers eigenartig fremd und doch reizvoll. Dieser „serbische“ Trochäus wurde in der deutschen Dichtung nur selten verwandt; Gottfried Keller und C.F. Meyer benutzten ihn. Goethe hat den „Klaggesang von den edlen Frauen des Asan Aga“ in dieses Maß gebunden; schon von diesem „Klaggesang“ her ergibt sich eine Affinität des fünffüßigen Trochäus mit der Stimmung stiller Traurigkeit. Bei Hesse indes wird der fremde Klang durch reine Reime dem deutschen Ohr vertrauter gemacht. Die Reime sind sorgfältig gegliedert. Das anfängliche Schema gekreuzter Reime (abab cdcd) wird in der dritten Strophe aufgegeben; die Spiegelreime dieser Strophe (effe) bringen eine neue Schwebung in das Gedicht und bereiten die folgenden Reime vor. Auch die Reime in der vierten Strophe sind sorgfältig gegliedert: die beiden ersten Reime als gekreuzte Reime (ghgh) und der dritte Reim als Paarreim (ii); dieser Paarreim wirkt gleichsam wie eine Fermate, die den Satzton hoch- und anhält. Es folgt eine einzeln stehende Zeile, deren Reimwort mit dem Verbum „schreiben“ aus dem vorhergehenden Strophenanfang eine wichtige Verbindung eingeht, gleichsam, als sollte schon auf dem Gebiet des Reims das Bleiben mit dem Schreiben verbunden und somit das Bleibende der Dichtung ausgedrückt werden. Wieder wird der alternierende Gang des Metrums an drei Stellen durch Doppelsenkungen unterbrochen, in denen sich das wie ein Opal Schillernde, das trunken Unruhige und das wehend Bewegte auch im Versmaß eindrucksvoll äußert. Von der vierten Strophe an, die nun nicht mehr in vier, sondern in sechs Zeilen gegliedert ist, beschleunigt sich – durch keine Doppelsenkung mehr aufgehalten – der alternierende Gang der Trochäen, bis er sich in der letzten Zeile, die gelassen dahinströmt, beruhigt. Ein gewisser Sog zur Schlußzeile äußert sich zudem in der Syntax der vierten Strophe: In die Absichtssätze, die jeweils durch „daß“ am Zeilenanfang polysyndetisch aufeinander bezogen sind, sind zwei Sperrungen eingelegt. Nach der sechsten Zeile vermag nun die durch diese drei verbundenen Satzteile kunstvoll aufgestaute Bewegung nicht mehr auszuschwingen. Wie in einer Fermate hält nun der gepaarte Reim in der Bewegung an. Die einzeln stehende Zeile am Schluß des Gedichts nimmt mit der Konjunktion „und“ nun diese Bewegung auf und läßt sie im Rhythmus ruhig ausschwingen. Das Gedicht „Chinesisch“ ist nicht die erste Gestaltung Hesses, in der das Bild der dichterischen Berufung chinesische Züge trägt. „Die Morgenlandfahrt“ Hermann Hesses, die Fahrt zum bewegenden schöpferischen Geist, besitzt nicht zufällig die Richtung nach Osten. Hesse meinte, in der Welt des chinesischen Geistes sei die Urheimat der Poesie. Der chinesische Dichter ist in doppelter Hinsicht ein Diener an den Bildern; er beschwört die Bilder ja nicht nur mit Worten, auch seine Schrift ist eine Schrift in Bildern. Diese Sehnsucht nach Bildern verspürte in Hesses 1913 entstandenem Märchen „Der Dichter“ der chinesische Poet Han Fook in sich, er versuchte, „die Welt so vollkommen in Gedichten zu spiegeln, daß er in diesen Spiegelbildern die Welt selbst geläutert und verewigt besäße“. Oft trägt die Gestalt des Dichters im Werk Hesses chinesische Züge. Im „Klingsor“ etwa hat Hesse in Li Tai Pe den trunkenen und glühenden Dichter gezeichnet, während er Thu Fu all das Scheue, Zarte, Ehrfürchtige und Fromme, all das Dienenwollende seines Wesens gegeben hat.
Immer wieder versuchte Hesse das Bild des Dichters als das eines Dienenden zu bringen, so auch im Gedicht „Dienst“ aus dem Jahre 1936:
Selten hat Hesse die „Sendung des Dichters“ so eindeutig ausgesprochen wie in diesem Gedicht: Das „Amt des Dichters“ ist es, „heiliger Ehrfurcht Mahnung fortzubewahren“. Wieder sind hier charakteristische Worte in Doppelsenkungen gestellt, denn auf dieses „heiliger“ kommt es dem Dichter an. Hesses Dichtung selbst ist dieser Dienst an den Bildern, in denen „Gottes lichter Geist sich selber dichtet“. 25 Gedichte von Hermann Hesse. Jeder, der eine solche Auswahl zu treffen hat, würde jeweils andere Gedichte bevorzugen, aber er weiß zugleich: Die Gedichte sind ein Hauptteil von Hesses Werk, sie sind nicht nur Begleitmusik zu seinem Leben und Wirken. Romantisches Erbe wirkt darin fort und Wahrhaftigkeit dem Leben gegenüber. Viele Kritiker haben das nicht verstanden; sie sehen Hesse als einen Nachahmer der Romantiker. Ich wählte solche Gedichte aus, die durchaus in der Nachfolge der Romantik stehen, aber es sind für mich die Gedichte, die für Hesse charakteristisch sind.
Wir können ja auch seinen Rat befolgen, selber Gedichte zu schreiben und einsam „Im Nebel“ zu wandern wie eine „Weiße Wolke“!
Siegfried Unseld, Nachwort
stellt in diesem Band die ihm liebsten Gedichte von Hermann Hesse vor, also diejenigen Verse, von denen er im Nachwort sagt, dass sie ihn durch sein Leben begleitet haben. Neben den schönsten Naturgedichten und Hesses zeitloser Gedankenlyrik („Glück“, „Bücher“, „Sprache“, „Besinnung“, „Stufen“), enthält seine Auswahl auch Gedichte über die der Lyrik verwandteste Gattung, die Musik („Orgelspiel“, „Flötenspiel“). Hesses Gedichte lösen ein, was er über den Impuls sie zu schreiben sagte:
Alle Lyrik ist Spiegelung der Welt im vereinzelten Ich, Antwort des ich auf die Welt, ist Klage, Besinnung und Spiel einer ganz und gar bewußt gewordenen Vereinsamung.
Wiedergaben der Handschriften und farbig reproduzierte Aquarelle des Dichters machen den Band zu einer bibliophilen Kostbarkeit.
Diese Auswahl von Gedichten Hermann Hesses erscheint zum Welttag des Buches 2001 in einer einmaligen, limitierten Sonderausgabe.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2001
Hermann Hesse wurde im betagten Alter oft um Rat gebeten. Den gab er gerne: Es gelte, in aller Ehrlichkeit den „Weg nach Innen“ zu beschreiten und immer wieder Neues zu wagen. „Stufen“, das Gedicht aus dem Glasperlenspiel von 1941, ist tatsächlich die bündige Summe von Hesses Lebensweisheit.
Der legendäre Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld stellt in diesem Band aus der Reihe der Insel-Bücherei diejenigen Gedichte von Hermann Hesse vor, die ihn in seinem Leben begleitet haben. Neben den schönsten Naturgedichten und Hesses zeitloser Gedankenlyrik („Glück“, „Im Nebel“, „Stufen“) enthält die Auswahl auch Gedichte über die Musik. Dazu sieht man Abdrucke der Handschriften Hesses und farbig reproduzierte Aquarelle des Dichters. Am Ende des Buches gibt es noch ein ausführliches Nachwort von Unseld.
Die schöne Gestaltung verleiht diesem Band der Insel-Bücherei (Nr. 1212) einen ganz besonderen, bibliophilen Charakter.
Dieser wundervolle Gedichtband, zusammengestellt von Siegfried Unseld, dem Verleger des Suhrkamp Verlags und erschienen als Sonderausgabe zum Welttag des Buches 2001, bringt uns den Lyriker Hermann Hesse näher, der selbst einmal sagte:
Ein Gedicht zu lesen, ist von allen literarischen Genüssen der höchste und reinste.
Die enthalten 25 Gedichte bieten einen sorgfältig ausgewählten Einblick, unter anderem in die Natur- und Gedankenlyrik Hesses. Diese gebundene Edition ist mit Abdrucken der handschriftlichen Originalfassungen einiger Gedichte und mit reproduzierten Aquarellen Hesses darüber hinaus sehr schön aufgemacht.
Alle Lyrik ist Spiegelung der Welt im vereinzelten Ich, Antwort des Ichs auf die Welt, ist Klage, Besinnung und Spiel einer ganz und gar bewußt gewordenen Vereinsamung. (Hermann Hesse)
Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein. (aus: „Im Nebel“)
So kurzlebig literarische Trends sein mögen, so verlässlich sind die Deutschen in der Wahl ihres Lieblingsgedichts. Fast jede Umfrage unter Lesern sieht seit Jahren Hermann Hesses „Stufen“ auf einem der ersten Plätze. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens liegt damit ein Gedicht des 20. Jahrhunderts vor den „Evergreens“ der lyrischen Blütezeit des 19. Jahrhunderts – also vor den Werken Eichendorffs und Rilkes, Fontanes, Schillers und Goethes. Und zweitens ist auf solchen Bestenlisten mit kanonischem Anspruch ein Autor ganz vorn vertreten, der sich als Erzähler verstand, weniger als Dichter, und der besonders mit seinen Prosawerken wirkmächtig wurde. Für Hermann Hesse waren Gedichte der literarische Beifang eines schöpferischen Gesamtprozesses, wenn auch ein überaus üppiger: Über eintausendvierhundert Gedichte schrieb er zeit seines fünfundachtzigjährigen Lebens; das letzte, „Knarren eines geknickten Astes“, noch am Vortag seines Todes am 8. August 1962. Wobei Hesse selbst seine Lyrik keineswegs gering achtete; im Dichten fühlte er sich frei von jeder Versuchung akademisch geschulter Kunstfertigkeit. Dies spiegelt sich auch in der schlichten Sprache und einer klaren, eingängigen Formgebung. Seine Verse sind nie Kopfgeburten, sondern meist eine Form der Meditation, sind Reisen durch Seelenwelten. Auch deshalb klingen viele seiner Gedichte eigentümlich zeitenthoben, weitgehend losgelöst von stilistischen Moden und lyrischen Gattungen.
Im Mai 1941 entstehen mit den „Stufen“ dann also jene Verse, die poesiealbumtauglich werden sollten und zwei Jahre später in seinem Roman über die Kraft der Schöpfung – Das Glasperlenspiel – zitierfähig werden:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Mitten im Zweiten Weltkrieg bedichtet und beschwört Hesse den Wandel als Sinnbild des Lebens. Ursprung und Untergang, Jugend und Tod werden überschritten und miteinander verknüpft in der Metamorphose. Nicht jeder Wandel ist gut und gelingt; doch ohne Wandel ist nichts. Das heißt aber auch: Nichts ist abgeschlossen, nichts kommt wirklich an ein Ende. Die einzige Ordnung unseres Lebens ist die der Unordnung. Allein im Wandel ruht für ihn die wahre Stabilität. Sich ihm zu fügen bedeutet, seine Kraft und seine Bedeutung wertzuschätzen. Das sagt viel über Hesses Welt- und Menschensicht, aber auch über die Selbstwahrnehmung dieses notorischen Einzelgängers, des spielerischen Doppelgängers, des Anarchisten und Rebellen.
„Stufen“ mag mehr Bekenntnis als Welterkenntnis sein. Wie bei manch anderen seiner Werke auch; und es mangelt nicht an Kritikern. Seine große Popularität – beginnend schon mit frühen Werken wie Peter Camenzind (1904) und Unterm Rad (1906) – hat ihn Vertretern einer vermeintlichen Hochkultur verdächtig werden lassen, die in einer großen Leserschaft vor allem Zeichen von Banalität und Oberflächlichkeit zu erkennen glauben. „Für einen Wegbereiter der deutschen Literatur habe ich ihn nie gehalten“, lautet das Verdikt des einflussreichen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki (1920–2013). In „Stufen“ findet sich viel von Hermann Hesse und seinem Selbstverständnis als Zeitgenosse. Zumal nach Stufen des eigenen Transzendierens den meisten Menschen in Europa mitten im Zweiten Weltkrieg nicht der Sinn gestanden haben dürfte. Doch Hesse, seit 1924 Schweizer Staatsbürger, strebt nicht nach Agitation und politischem Kampf gegen Hitler. Er gehört nur sich selbst und versucht, sich so neutral wie die Schweiz zu geben. „Wozu die Proteste“, fragt er 1933. Ändern könne er – der Gewalt verachtet – ohnehin nichts. Was bleibt, ist nach seinen Worten die Hilfe für jene, „die gleich mir die ganze säuische Machtstreberei und Politik in ihrem ganzen Tun und Denken sabotieren“. Politisch vereinnahmen lässt er sich jedenfalls von keiner Seite. Und zwar aus Prinzip und Überzeugung und mit Leib und Seele – wie er es in seinem Gedicht „Absage“ 1933 unmissverständlich erklärt:
Lieber von den Faschisten erschlagen werden
Als selber Faschist sein!
Lieber von den Kommunisten erschlagen werden
Als selber Kommunist sein!
Man muss als Dichter in Zeiten von Krieg und Vernichtung nicht zwanghaft oder reflexartig seine Stimme gegen Unrecht und Leid erheben; auch Hesse verspürt eine solche Anforderung nicht. Was also macht er? Er begibt sich schreibend in die weite Zukunft. Ende 1943 erscheint mit Das Glasperlenspiel ein Roman, der im Jahr 2200 n.Chr. spielt und eine Art Studie der Seele und eine Utopie der geistigen Erneuerung ist. Die zeitgenössischen Leser beziehen das auf Deutschland. Auch wenn Hesse sein Buch umfassender, zeitenthobener und philosophischer versteht: Es gibt fatalere Lesarten seiner Werke als diese. Zwei Jahre vor Deutschlands vollständiger militärischer und moralischer Kapitulation versucht Hesse im Roman die Befreiung des deutschen Geistes aus nationalsozialistischer Verunstaltung. Jeder lebt darin streng eigenverantwortlich; der Geist verzichtet auf jede Ausübung von Macht.
Drei Jahre vor der Nazi-Diktatur war Hesse literarisch ins Mittelalter aufgebrochen. Narziß und Goldmund heißt die Erzählung von 1930, die an zwei Figuren das Leben in Kloster und Welt vorstellt, zwei Existenz-Modelle aus einem sakralen und profanen Lebensraum. Es ist eine Welt zwischen Himmel und Hölle, die in der Schilderung von Pest und Pogromen zu einem Totentanz wird. Natürlich ist auch das ein Buch und ein Versuch über Deutschland, das sich im Nachhinein prophetischer liest, als es Hesse damals möglich war. Denn darin wird im Dialog zwischen Narziß, dem Abt, und Goldmund nach dessen Rückkehr ins Kloster die Frage durchgespielt, ob man imstande wäre, Juden zu verbrennen und wenigstens den Befehl dazu zu geben. Nein, selbstverständlich nicht, sagt Narziß; doch räumt er auch ein, dass es denkbar wäre, eine solche Grausamkeit mitanzusehen und damit zu dulden. Dulden also doch?
Gewiß, wenn mir nicht die Macht gegeben wäre, es zu verhindern.
Seine Bücher sind anarchische Akte, auch jene aus früheren Jahren. Denn vereinnahmen lässt er sich weder in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs noch in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, im Ersten Weltkrieg, obgleich seine Lebensumstände 1914 diffuser sind. 37 Jahre ist Hesse alt, als der Krieg ausbricht. Und der bereits arrivierte Autor meldet sich als Freiwilliger, wird indes wegen „hochgradiger Kurzsichtigkeit“ zurückgestellt. Dennoch: Hesse spürt so etwas wie Patriotismus und Verantwortung für Deutschlands Zukunft in sich. Doch so eindeutig ist seine Haltung nicht. Er unterstützt Deutschland zwar im Krieg, hält diesen sogar für notwendig. Zu den Intellektuellen aber, die sich im „Manifest der 93“ an die Seite der Militärs stellen, gehört er nicht. Und so ruft er gleichzeitig zur Versöhnung auf, sucht früh nach Wegen für die gemeinsame Zukunft Europas und findet als Brückenschlag schließlich die europäische Kultur. Diesen Widerspruch trägt Hesse in sich aus und begreift, dass es in den globalen Kriegen des 20. Jahrhunderts eine Neutralität – so trefflich begründet sie auch sein mag – nicht geben kann.
Tatenlos bleibt er nicht. Ein Jahr nach Kriegsende erscheint zum einen Demian, ein Buch, das Hesse unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht. Dieser Entwicklungsroman – rauschhaft niedergeschrieben in weniger als zwei Monaten – erzählt die Seelengeschichte einer Jugend, die ihre Unschuld in den Schützengräben des Weltkriegs verliert. Zum anderen kommt 1919 auch Zarathustras Wiederkehr auf den Markt, eine kleine, gut dreißig Seiten zählende Schrift; kaum mehr als ein umfängliches Pamphlet. Doch diese an die deutsche Jugend gerichtete Flugschrift hat es in sich: Sie will eine Reinigung des Geistes sein, indem sie den jungen Menschen alle bösen Geister auszutreiben sucht. Diese paar Seiten sind nicht weniger als die große Befreiung von Pflicht, von deutscher allzumal. Es geht auch nicht schon wieder um irgendeine Weltverbesserung. „Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein“, ist darin zu lesen. Und:
Ihr seid dazu da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön.
Das ist fast eine Art zweite Aufklärung, ein neuer, eigenständiger Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. „Es gibt keinen anderen Gott, als der in euch ist“, ruft Hesse der deutschen Jugend zu. In Umfang, Ton und Erfolg erinnert dieser Aufruf von Hermann Hesse damit an die ebenfalls erfolgreiche Schrift des einstigen französischen Widerstandskämpfers und späteren UN-Diplomaten Stéphane Hessel (1917–2013), an Empört euch!, die 2010 erschien.
Hermann Hesse wechselt nach Kriegsende gewissermaßen die Seiten, etwas genauer: Er bemüht sich um Neutralität, siedelt im April 1919 ins Tessin um und nimmt 1924 die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Bis zu seinem Lebensende 1962 – also über vier Jahrzehnte – wird dies die Heimat eines der populärsten deutschsprachigen Schriftsteller bleiben, dem Städte und Metropolen immer suspekt und lebensfeindlich erschienen sind. Zunächst bewohnt er ein kleines Bauernhaus bei Locarno; später wohnt er in Sorengo; schließlich in Montagnola, einem Dorf oberhalb Luganos. Dort wird er ab 1931 ein Haus beziehen, das ganz mäzenatisch ein Freund für ihn baut und das legendär Casa Rossa heißt (wegen seines rötlichen Anstrichs) beziehungsweise Casa Hesse. Hesse, so scheint es jetzt, ist weit weg. Der Zeit und der Gesellschaft enthoben. Er sei der erste deutsche Schriftsteller gewesen, „der sich vom Einfluß der Politik freimachte“, wird Anders Österling am 10. Dezember 1946 in seiner Verleihungsrede des Nobelpreises sagen.
Hesse bleibt unabhängig und versucht auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin keinen anderen Göttern zu gehorchen. Dazu zählt auch, sich nicht korrumpieren zu lassen. Am gefährlichsten wird dies für einen Autor mit dem Dichterlorbeer, den die Lenker der Welt oft und gern vergeben und damit den, den sie freundlich ehren, entschärfen und verharmlosen. Noch liegt Deutschland in Schutt und Asche, da werden ihm, dem fast siebzigjährigen Schweizer deutscher Herkunft, 1946 gleich zwei wichtige Preise zuerkannt: der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main sowie der Nobelpreis für Literatur. Aber Hesse spielt dabei nur bedingt mit. Zu beiden Preisverleihungen kommt er nicht, reist also weder nach Frankfurt noch nach Stockholm. Daheim wird er die Feiern rund um den Nobelpreis – für den ihn Thomas Mann vorgeschlagen hat – gar „Klimbim“ nennen. Dabei ist 1946 ein nicht ganz leichtes Jahr für die schwedische Jury und ihre Wahl auch politisch alles andere als Klimbim. Denn natürlich wird es auch als Zeichen an die Welt gesehen, welcher Autor im ersten Jahr nach dem Weltkrieg mit dem Nobelpreis geehrt wird. Die Reihe der Kandidaten zeigt, wie breit das Spektrum diesmal gefasst und wie prominent die Liste besetzt ist. Unter jenen, die 1946 für preiswürdig erachtet werden, sind fünf Autoren, die in späteren Jahren auch den Literaturnobelpreis bekommen werden – mit André Gide (1947), T.S. Eliot (1948), François Mauriac (1952), Winston Churchill (1953) und Boris Pasternak (1958). Die Wahl 1946 aber fällt auf Hermann Hesse.
Seine beiden Dankesreden dieses Jahres strotzen nicht gerade vor huldvoller Dankbarkeit. Schließlich sind Preise nach seinen Worten „vom Empfänger aus gesehen, weder ein Vergnügen noch Fest, noch sind sie etwas von ihm Verdientes. Sie sind ein kleiner Bestandteil des komplizierten, zum großen Teil aus Mißverständnissen konstruierten Phänomens, das man Berühmtheit nennt, und sollen als das, was sie sind, hingenommen werden: als Versuche der offiziellen Welt, sich ihrer Verlegenheit inoffiziellen Leistungen gegenüber zu erwehren“. Er prangert den Größenwahn der Technik an und den Größenwahn des Nationalismus. Den Widerstand gegen diese „Weltkrankheiten“, wie er es nennt, zählt er zu den wichtigsten Aufgaben. Auf Distanz zu beiden Preisen zu gehen, ist für ihn noch zu leisten. Weniger leicht wird für ihn das Leben als Berühmtheit. Die Welt scheint ihm mehr und mehr auf den Leib zu rücken. Hesse reagiert darauf mit Rückzug. Er verlässt Montagnola, seine komfortable „Einsiedelei“, und sucht die noch umfassendere Ruhe in einem Sanatorium.
Das Denken und Schreiben von Hermann Hesse ist ohne seine Herkunft kaum erklärlich. Und so kommt man an bei den holprigen Anfängen seines Lebens, das schwierig und krisengeschüttelt bleiben wird. Der Blick richtet sich ins scheinbar beschauliche Calw an der Nagold. Dort wird Hesse 1877 geboren, in diesem alten schwäbischen Schwarzwaldstädtchen – hinein in das geschlossene Weltbild seiner pflichtstrengen, pietistischen Eltern. Er leidet am religiösen Eifer seiner evangelischen Missionarsfamilie, der an Fanatismus grenzt; er begehrt auf gegen die Moraldiktatur daheim, die aus lauter Geboten gezimmert ist. Die vor allem vom Vater Johannes Hesse propagierten Verhaltensideale lauten Unterwerfung, Zucht und Ordnung. Hesses Antworten auf die Lebensvorgaben seiner so frommen Eltern lauten: als Junge Flucht und Verzweiflung, als Jugendlicher Aufbegehren, als junger Mann Rebellion und Dichten. Letzteres mag zunächst eine Überlebenskunst sein; sie wird ihm bald einen Weg der Selbsterkenntnis bedeuten, wird Lebensziel und schließlich Berufung. Schon in der Pubertät weiß er, „daß ich nichts anderes als ein Dichter werden wollte“, wie es in seinen autobiografischen Notizen von 1922/23 heißt.
Die Pläne der Eltern sind grundlegend andere: Als Vierzehnjähriger wird Hermann ins theologische Seminar von Kloster Maulbronn geschickt. „Ich bin froh, vergnügt, zufrieden“, schreibt er noch 1892 an seine Eltern. Doch wenig später schon folgen die ersten Ausbrüche, Fluchten aus der strengen Bildungsanstalt. Hermann Hesse entfernt sich, wird aufgegriffen, bestraft und gemaßregelt. Noch klingen die ersten Atteste zum jungen Mann, der „entweder Dichter oder gar nichts“ sein will, recht harmlos. Eine große Aufregung sei in ihm; er neige dazu, sich „überspannten Gedanken“ hinzugeben. Schließlich ist von einer Nervensache die Rede. Suizidgedanken beschäftigen den Fünfzehnjährigen, und nach einem Selbstmordversuch wird er in die Nervenheilanstalt in Stetten verbracht, in der sich Hesse wie ein „Gefangener im Zuchthaus“ fühlt. Auf Bewährung wird er abermals ins vermeintliche Leben entlassen; er besucht das Gymnasium in Cannstatt, beginnt eine Buchhändlerlehre in Esslingen ( die nur drei Tage währt) und eine Mechanikerlehre in Calw, bis er in der Studentenstadt Tübingen mit einer Lehre in der Antiquariats-Buchhandlung Heckenhauer zum ersten Mal ernsthaft eine Ausbildung beginnt. Auch dort erreichen ihn noch die Gebote des Vaters, der seinem Sohn Folgendes zu beherzigen aufgibt:
Das Rauchen auf ein Minimum zu beschränken, weil es den Appetit vermindert, die Nerven reizt und Geld kostet.
Die Eltern sind unfähig, ihren Sohn zu verstehen, mehr noch: Seine Haltung und seine Unruhe sind ein Angriff auf ihre eigene Lebensweise, die eine Existenz der Antworten ist und nicht der Fragen. Für seine Emanzipation mobilisiert der junge Hermann Hesse alle Kräfte. Es ist sein Überlebenskampf. Der kann nur gewonnen werden, wenn er sich gegen die Zugriffe von außen weitgehend immunisiert: gegen die religiös motivierte Haltung seiner Eltern von Gehorsam und Unterwerfung, gegen die Leistungsanforderungen und Bildungsideale der Gesellschaft, gegen die an ihn herangetragenen Erfordernisse politischer Parteinahme. Sein Leben ist Widerstand gegen all das. Er schottet sich von äußeren Einflüssen ab und richtet seinen Blick nach innen. Zwar finden sich auch in der Betrachtung und Erforschung der Seele letzten Endes keine Antworten; doch stellen sich dabei Fragen, die ihm sonst zu stellen kaum in den Sinn gekommen wären und die gründlich zu bedenken das Leben wert erscheinen.
Ein Werk wird daraus geboren; es entsteht aus der Unruhe. Die Frage, ob Hesse ohne diese Reibungsfläche kein Dichter geworden wäre, ist spekulativ und seriös nicht zu beantworten. Weil eine solche These der auch von Klischees begleiteten Anschauung folgt, dass jedes große Werk der Literatur mehr oder weniger einer Leiderfahrung abgerungen werden müsste. Dichtung gewissermaßen als Produkt eines erfahrenen Unglücks, das im Schreiben gebannt und möglicherweise überwunden wird.
Eine solche Überwindungsliteratur wäre dann Unterm Rad. Zunächst aber ist der schmale Roman eine Abrechnung. Zum einen mit dem Schul- und Bildungssystem seiner Zeit; zum anderen ist es die Aufarbeitung seiner eigenen Jugend-Geschichte, die in der Idylle beginnt und vor dem Abgrund endet. Kaum eine andere Romanfigur wird eine so große autobiografische Nähe zu Hesse haben wie jener Hans Giebenrath aus Unterm Rad – der Musterschüler, der unter immensem Druck als Zweitbester das Landesexamen schafft und ins Seminar von Maulbronn einrückt. Erst die Freundschaft mit dem aufsässigen Mitschüler Heilner wird ihm die Augen öffnen für das, was das wirkliche Leben sein könnte. Doch die heilende Wirkung dieser Bekanntschaft bleibt Utopie. Giebenrath, mittlerweile von Selbstmordgedanken getrieben, wird in eine Mechanikerlehre gesteckt und ertrinkt wenig später nach einem Gelage in einem Fluss. Hesse lässt ihn sterben, um selbst zu überleben. Er wird daraus als ein zwar geschädigter, aber nicht gebrochener Mensch hervorgehen.
Schon damals wird die Relevanz dieser Jugendgeschichte erkannt. In einer Rezension von Unterm Rad – sie erscheint in der Vossischen Zeitung von 1906 – ist zu lesen, dass dieses Buch eine brauchbare Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer sei, „wie man einen gesunden, begabten jungen Menschen an, zweckmäßigsten zu Grunde richtet, welche Wurzeln man abzuschneiden hat, damit das junge Stämmchen am schnellsten verdorrt und stirbt“.
Die meisten Romane, Erzählungen und Gedichtbände Hesses sind schon kurz nach ihrem Erscheinen echte Publikumserfolge; viele sind es bis heute geblieben. Über 120 Millionen Mal haben sich seine Bücher verkauft und wurden in mehr als sechzig Sprachen übersetzt. Dazu gehört auch das Phänomen der Hesse-Renaissance schon kurz nach seinem Tod 1962. Die kommt nicht aus Deutschland und nicht aus Europa. Hierzulande ist man mit Hesse nämlich längst fertig; im zeitgenössischen Literaturbetrieb auch. In der tonangebenden Gruppe 47 finden sich ausschließlich Kritiker seines Werks. Sein Stil sei konventionell und die Aussagen seiner Werke werden als erschreckend harmlos empfunden. Nein, seine erneute Entdeckung kommt aus den USA. Der Psychologe und „Guru“ der Hippie- Bewegung, Timothy Leary (1920–1996), empfiehlt die Bücher Hermann Hesses als geistige Begleitung und Ergänzung von LSD-Trips; darunter besonders den Steppenwolf und Siddhartha, Hesses legendenhafte Auseinandersetzung mit indischer Mystik. Der Schriftsteller wird somit Vorbild einer Protestkultur und intellektueller Vorgänger rauschhafter Zustände.
Auch in Harry Haller, dem Steppenwolf, steckt Hermann Hesse; die Initialen verraten es schon. Auch Haller ist ein Außenseiter, dem zufällig das „Traktat vom Steppenwolf“ in die Hände gerät und seinen Blick auf die zwei Naturen des Menschen lenkt. Welche Wege es aus der Ich-Spaltung geben mag? Möglicherweise den Ausweg in eine imaginäre Welt, die auch im Humor eine souveräne Distanz zum gepeinigten Ich herzustellen vermag. Harrys Besuch des sogenannten Magischen Theaters im Roman ist der Versuch einer Reise dorthin, ist – auch unter Drogeneinfluss – das schonungslose Experiment, die Wirklichkeit zu überwinden. So umstritten die Erzählung bei ihrem Erscheinen 1927 gewesen ist, so populär und wegweisend wird sie als kultisches Buch dann vier Jahrzehnte später in den USA. Eine Rockband wird sich nach Steppenwolf benennen und in ihrem größten Hit, „Born tobe wild“, Harry Hallers Botschaft in die Welt hinausschreien. Die romantische Vorstellung von einem grenzenlosen Leben scheint zu erwachen und möglich zu werden. Schwärmerisch gestimmt sind die neuen Leser der Erzählung, die aus Hesses Rausch des Schöpferischen die Visionen eines LSD-Trips herausfiltern. Mit der Inbesitznahme des Steppenwolfs durch die Drogenszene wird aus Hesses Transzendieren ein Halluzinieren. Ist dies alles letztlich vielleicht doch ein großes Missverständnis? Aus der Sicht des Autors dürfte ein solches Verdikt sehr wahrscheinlich sein. Doch wer richtet darüber? Die Literaturgeschichte sind wir, die Leser. Sie vor allem sind für etwas verantwortlich, was man literarische Langlebigkeit und Überlieferung nennen könnte. Und liegt nicht genau darin die Kraft aller literarischen Schöpfungen – dass sie ein Eigenleben entwickeln, sich selbst transzendieren und ihren ursprünglichen Beweggrund übersteigen? Jeder Autor muss sein Werk ziehen lassen und akzeptieren, dass es sich zu wandeln beginnt.
Vielleicht handeln auch davon die „Stufen“.
Lothar Schröder, in Lothar Schröder und Enno Stahl: Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger, Droste Verlag, 2016
Vorträge von Ulla Berkéwicz und Volker Michels zu Hermann Hesse am 6.11.2005 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
ZUM 60. GEBURTSTAG VON HERMANN HESSE
Am zweiten Juli ziemt es dem Poeten,
Vor Josef Knecht und seinen Herrn zu treten,
Um ihnen in den Montagnola’wind
Den Dank dafür zu sagen, daß sie sind.
Und sind sie Beides, wohl: so sind sie Eines,
Sind Becher und zugleich der Trunk des Weines.
So bleibt dem Gast am Ehrentag das Schenken,
Im Weine seiner herzlich zu gedenken.
Hermann Kasack
ZUM 70. GEBURTSTAG VON HERMANN HESSE
Auf der Fahrt zum Morgenland
Grüßen ihren Meister
Von dem Klang des Spiels gebannt
Wahlverwandte Geister.
Stundenschlag um Stundenschlag
Drehen wir im Kreise.
Siebzig Jahre sind ein Tag
Auf der Weltenreise.
Hermann Kasack
Christiane Lutz: „Angewidert von verlegerischer Schlamperei“
Süddeutsche Zeitung, 14.7.2024
Christoph Schröder: Schöpfer der Suhrkamp-Kultur
Die Zeit, 14.7.2024
Tilman Spreckelsen: Der Verkäufer des Regenbogens
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.7.2024
Jürgen Kanold: Als der Suhrkamp-Verleger Briefe schrieb
Südwest Presse, 19.7.2024
Siegfried Unseld – Sein Leben in Bildern und Texten (Autobiographie)
Hermann Hesse: Im Nebel. Video von Serge Mustu.
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