Hermann Kurzke: Zu Christian Lehnerts Gedicht „Herbstzeitlose“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christian Lehnerts Gedicht „Herbstzeitlose“ aus Christian Lehnert: Auf Moränen. 

 

 

 

 

CHRISTIAN LEHNERT

Herbstzeitlose

Ein hoher Becher, zart, aus lila Glas
geblasen? Flacher Atemzug der Auen?
Wo sich die Nebel früh am Morgen stauen
und die Demenz herankriecht wie ein Gas?

Ist sie ein Anfang? Ende? Dergestalt
und ohne Blätter? Ein vergangnes Leben,
das blühend hier versucht den Kopf zu heben,
und sich mit letzter Kraft ins Erdreich krallt?

Schenkt sie dem Augenblick die Illusion,
es sei ein Gleichgewicht, das alles trüge?
Daß Zeit verblaßte, schnell wie ein Ion

im Nordlicht glüht? Kein Herbst? Kein Tod? Kein Regen?
Nur eine Form, die sich in ihre fügte,
um jetzt im kühlen Wind sich zu bewegen?

 

Ein Sinnbild des Vergessens

Christian Lehnert hat für sein Gedicht eine annähernd zeitlose, jedenfalls schon achthundert Jahre alte Form gewählt: das Sonett. Er stellt sich dieser Form mit feierlichem Ernst. Er kennt die Tradition, in der er sich bewegt, und folgt ihr mit gemessenem Schritt: Er hält die vorgeschriebene Silbenzahl ein (zehn oder elf pro Verszeile), er wechselt regelmäßig zwischen betonten und unbetonten Silben, er fügt sich dem umarmenden Reim („Glas“ – „Auen“ – „stauen“ – „Gas“) in den Vierzeilern und dem strophenübergreifenden (wenn auch, wie in „trüge“ – „fügte“, nicht ganz reinen) Reim in den Dreizeilern, und er versucht sich in der Kunst der eleganten Überlagerung des strengen Versbaus durch einen freieren, über die Zeilenenden hinwegspringenden Satzbau („Glas / geblasen“, „Ion / im Nordlicht“).
Aus der Norm fallend sind auf den ersten Blick jedoch die vielen Fragezeichen. Da weht ein moderner Wind durch das alte Gestänge. Auch ins Vokabular zischt dieser Wind hinein, wenn nach edellyrischen Wörtern wie „Becher“ und „Auen“ plötzlich „Demenz“ kraß die Stimmung stört. Demenz, die „herankriecht wie ein Gas“.
Im Hintergrund stehen ungemütliche Realitäten. Nicht wenige Pflegestätten für Alzheimer-Patienten haben sich den Namen „Herbstzeitlose“ gegeben. Diese Blume ist abgründig. Sie ist giftig. Die Blüte ist blattlos und wirkt deshalb künstlich (wie ein Kelch aus lila Glas), sie täuscht krokusähnlich Frühling vor, obgleich es später Herbst ist, wenn sie in flachen Teppichen die nebelfeuchten Wiesen färbt. Ihr geheimnisvoller Name spielt mit der Aufhebung der Zeit, und mit Zeitbegriffen wie Anfang, Ende, Vergangenheit und Augenblick spielt auch Christian Lehnert. Vielleicht geht es ihm persönlich um die verwelkende, aber sich festkrallende Erinnerung an die DDR, an seine Zeit als junger Bausoldat in Prora, an frühe Erfahrungen mit Nebel, Gas und Gedächtnisverlust. Die Herbstzeitlose scheint außerdem ein Bild des Alters zu sein, wenn es mit letzter Kraft Jungsein vortäuscht – man kennt die nimmermüden Jugendbewegten und die vergreisten Achtundsechziger. Sie scheint Bild der Zeit-, Tod- und Wetterlosigkeit zu sein, des Stillstands der Kontingenz, Symbol des ewigen Gleichgewichts und der ewigen Gleichgültigkeit, die wieder alles beherrschen werden, wenn die Episode des organischen Lebens auf der Erde, die so kurz ist wie das Aufglühen eines Ions im Nordlicht, vorbei sein wird. Sie scheint schließlich Ausdruck einer „Form, die sich in ihre fügte“, zu sein, also irgendeines höheren, vielleicht göttlichen Prinzips, das sie zu seinem Gefäß bestimmte – sie bestimmte, nichts anderes zu sein als ein zarter Becher aus lila Glas, melancholisch und mysteriös, selig in ihm selbst und mit nichts sonst beauftragt, als sich im kühlen Winde zu bewegen.
Aber das alles scheint sie nur. Die dreizehn Fragezeichen stellen alle Deutungen und alles Deuten in Frage. Weder die symbolischen noch die ästhetisch-artistischen Erklärungen haben ausreichend Tragkraft. Die Herbstzeitlose läßt sie verwehen und zergehen. Sie ist ein sich selbst vernichtendes Sinnbild: ein Sinnbild der Demenz, die herankriecht wie ein Gas. Sie hat keine Botschaft als das wehmütige Versinken jeder Botschaft, das Vergessen jeder Mahnung und jeder Erinnerung, das Nicht-Festhalten-Können jedweden Sinnes.
Dieses Gedicht ist unheimlich und zweifellos ziemlich anstrengend. Es ist ein Spiel, wie jedes Sonett, aber ein Spiel mit schweren Steinen. Man spürt ihm die Anstrengung an, die es den Autor gekostet haben muß. Er hat sicher an jeder Zeile lange gefeilt, ohne letzte Vollkommenheit zu erzielen. Aber Vollkommenheit wäre ja ein Makel bei diesem Thema, wäre Perfektionsschminke über einem erblindeten Gesicht. Da ist es besser, wenn Brüche bleiben, und die Schmerzen rütteln an den Gitterstangen der Form. Christian Lehnert versucht, denen, die alt, düster und vergeßlich sind, vergeblich das Zeichen der Herbstzeitlose einzubrennen. Er selbst ist erst vierzig.

Hermann Kurzkeaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010

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