Hilde Domin: Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Das Begräbnis in Bollschweil“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Das Begräbnis in Bollschweil“ aus Elisabeth Borchers: Gedichte. –

 

 

 

 

ELISABETH BORCHERS

Das Begräbnis in Bollschweil

Wenn jemand gestorben ist,
den wir gut kannten,
prüfe ich unser Gedächtnis.
Es taugt nichts,
stelle ich fest.
Es ist nicht haltbar.
Wir sind bald verloren.

Wir nehmen den Berg wahr mit erstem Schnee
und den Nebel im Feld
und finden das passend und schön.
Unsere Bedürfnisse sind einfach und stark,
wir frieren, haben Hunger und Durst
und einen nächsten Termin.

Zwischen uns die kleinen langsamen Gespenster.

 

Klage um die Lebenden

Das Begräbnis der Marie-Luise Kaschnitz. „Es war ein noch schöner aber schon deutlich kalter Tag, mit Schnee in den Bergen und diesem ländlichen, einfachen und ernsten Vorgang. Wir saßen im schnell fahrenden Auto Elisabeth Borchers und ich, auf der Rückfahrt in den Norden“, schreibt hierzu Karl Krolow. Das Gedicht handelt ja nicht von dem Begräbnis, nicht von der Toten, die nicht mehr als ein Bezugspunkt ist, es handelt von dieser Rückfahrt.
Als merkwürdig fällt mir zunächst der Wechsel von „Ich“ und„ Wir“ auf. Mitnichten ein pluralis majestatis. Die Sprechende „prüft“ nicht das eigene Gedächtnis, sondern „unser“ Gedächtnis, das kollektive. Dies Gedächtnis besteht das Examen nicht. Es hält nicht nur nichts fest. Es ist selber „nicht haltbar“, evaporiert, ein verdunstendes Nichts. Woraus der Schluß gezogen wird:

Wir sind bald verloren.

Das sprechende Ich und jeder. Ein Gefühl, das sich sehr unterscheidet von dem „Dahin, wie Blätter; nur wenige Tage / Gehn wir verkleidet umher“ Klopstocks beziehungsweise Homers. Es ist nicht die Klage um unser aller Hinfälligkeit, es ist die Angst vor der Vergeßlichkeit der rapide Lebenden, des eigenen rapiden Lebens, die Elisabeth Borchers auf dieser Rückfahrt vor allem bedrückt. Dabei ist es doch die Rückfahrt von der Beerdigung eines Menschen, dessen Wort nicht mitbegraben wurde, dessen Wort lebt. Non omnis moriar, „Nicht ganz werd ich sterben“, das gilt doch wohl auch für sie. „Dir in memorian… endlos“ hatte sie geschrieben, wieder und wieder, in ihren Gedichten. „Ich schreibe das Leben.“
Es wird der spätherbstlichen Kulisse dieses Begräbnisses gedacht:

passend und schön.

„Beinah noch nach zeitloser Sitte war die Dichterin zu Grabe getragen worden“, erinnert sich Karl Krolow, anläßlich dieses Gedichts. Intensiv hatte die Tote selber sich über diese Beerdigung ausgesprochen:

Zur Beerdigung meiner
Wünsche ich mir das Tedeum
Den Freudengesang
Unpassender-
Passenderweise.
… Einen Freudensprung
will ich tun am Ende
Hinab hinauf…

Ist der Freudengesang gesungen worden? „Es war während der Buchmesse und sehr kalt“, sagt man mir auf meine Frage. „Wir tranken scharfe Getränke.“ Das Sterben der andern macht Hunger und Durst, die eigene Leiblichkeit meldet akut ihre Lebendigkeit an, deswegen wird ja auch anschließend meist reichlich aufgetischt, von den Primitiven bis heute.
In diesem so realistischen und selbstkritischen Gedicht gibt es, innerhalb der sich anmeldenden starken und natürlichen Bedürfnisse, und als eines von ihnen, auch noch „den nächsten Termin“: eine Feststellung, die rückblickend und schon auf der Fahrt diese Beerdigung fast zu etwas wie einem „Termin unter Terminen“ macht. Davon geht denn auch die Selbstkritik und die Kritik am Lebensstil aller aus, die einmündet ins Fazit:

Wir sind bald verloren.

Der Tote, die Toten, allerdings, fahren mit in dem schnellen Auto:

kleine langsame Gespenster.

„Winzige, ferne Gestalten“, wie die eben Beerdigte das selber einmal genannt hatte.
Elisabeth Borchers stimmt hier also keine Totenklage an, sie beklagt sich nicht über das Sterben, sondern über das Leben: „Alles ist auswendig gelernt… / Kein Abschweifen durch Wahrnehmungen“, heißt es an anderer Stelle. Oder, kurz darauf, die Klage, die Selbstanklage, an sich und alle gerichtet, ganz wie dies Gedicht:

Es wäre Zeit gewesen
zu hören und zu sehen.

Denn, und das ist mir sehr stark aufgefallen, dies Bollschweil“ ist nur ein Abschnitt in dem einen langen Gedicht, das diese Gedichte darstellen. Das Lebensthema, die Lebensfrage, immer neu gefragt, mit deutlich nachlassender Erwartung, aber um so kritischerer Aufmerksamkeit, ist auch in dies Gedicht eingeschrieben:

Was willst du reden
wenn du kein Herz hast
Worte ohne Lachen und Weinen
… Sieh
es ist ein Augenblick.

Hilde Dominaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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