– Zu Hans Peter Kellers Gedicht „Folge“ aus Hans Peter Keller: Extrakt um 18 Uhr. –
HANS PETER KELLER
Folge
I
der triftige Grund
weswegen Fallschirme
aaain die Luft hängen –?
(so
aufgeblasene
Munterkeit)
die Aufenthalte sind unsicher
ein
Schritt in das
Bodenlose
– schon angekommen
II
du
lehne dich an mich und
ich
habe Halt
solang wir fallen sind
wir
nicht unten
Diese Gedichtfolge von Hans Peter Keller halte ich für sehr heutig in ihrem heiklen Lebensgefühl und für sehr charakteristisch für das Werk dieses Lyrikers. Knapper geht es nicht mehr.
Gerade schreibt mir eine Studentin:
Was die Wirkung von Gedichten angeht… Sensibilisierung vielleicht. Und wenn sie eintritt, gehen die Menschen daran kaputt, in dieser unserer Umgebung. Nervenklinik, Alkohol Valium.
Hans Peter Keller diagnostiziert die Lage ähnlich wie diese Studentin. Aber er zeigt, wie man in dieser kaputten Welt die eigene Hilflosigkeit weglacht.
Um den Hintergrund zu geben, auf dem ein Gedicht wie diese Folge gelesen werden muß, zitiere ich aus Kellers „Turmluke“. „Nicht hinauslehnen“, heißt es da, „die Luft ist voll Schwindel… Taubendreck, Atemnot.“ Und in der letzten Zeile fordert der Autor sich auf:
Komm ins Parterre.
Keller, der jetzt, am 11. März, seinen 6o. Geburtstag feiert, ist also ein sehr solider Mann, der sich selbst zu relativieren imstande ist, ein Realist, ein Luftikus nur der Sprache, obwohl er oft über seine „Begegnung mit der Luft“ schreibt.
Wenn wir einmal beim Fallen sind, denn vom Fallen handeln diese Gedichte, so stellt sich als erstes für einen solchen Mann die Frage nach einer unbeschädigten Landung. Die möglichen „Fallschirme“ sieht der Autor optisch: etwas „Munteres“; fast ein Volksvergnügen. Kurz: etwas Unnützes. Wer sie „in die Luft hängen“ könnte – vermutlich man selbst –, das wird nicht gesagt, nur auf das Fragwürdige einer solchen Rettungs- und Aufhalteaktion hingewiesen. Die „Aufenthalte“, die „unsicher“ sind, könnte der Leser sowohl auf die Aufenthalte im Fallen, direkter wohl auf die Aufenthalte des Menschen auf Erden beziehen: übrigens ein theologisches Konzept. – Wo der Boden aufhört, da ist „Ankommen“ kein Problem. Das Bodenlose wird zum Ziel, das man nicht verfehlt, „ein Schritt – schon angekommen“. Die sprachliche Umwertung des Erleichterungsseufzers, dieses „schon angekommen“, in sein Gegenteil, in die Bruch- und Zerbrechlandung, wird noch weiter getrieben in der das débacle persiflierenden Überschrift. „Der triftige Grund“ ist der absolut zwingende, dem man nicht durch Ausreden entkommt. Der Grund also, in diesem Falle auch im wörtlichen Sinne, auf dem der ins Bodenlose Gestürzte zerschellt: eine „Trift“ zugleich, weit unten, unabweisbar, auf der dies beklagenswerte „Angekommensein“ stattfindet.
Dagegen gibt es nur einen Trost: die Gemeinsamkeit in der fatalen Lebenslage. Das „Ich“ gibt noch im Fallen dem „Du“ eine Stütze. In dieser prekären Hilfeleistung wird das „Ich“ zum „Wir“ und gewinnt eine illusorische Festigkeit, den „Halt“, den der Fallschirm nicht bietet. – Hinzuweisen wäre noch auf die den Text ironisierenden Zeilenbrüche. Die Zäsuren in diesem kurzen Gedicht, das fast aus seinen Atempausen besteht, verzögern sozusagen phonetisch und als Schriftbild das Fallen. Sie sind, wenn man so will, die „Fallschirme“, die der Autor in seinen luftigen Text hängt. So hält das Fallen dieses „Wir“ etwas vor, unaufhaltsam, wie es doch ist; es wird geradezu als ein Aufschub genossen. Dieser „Genuß“ liegt nicht nur im Faktum der Zweisamkeit, er liegt mindestens so sehr im Spaß an der souveränen Formulierung seiner Paradoxe.
So wäre an diesen Gedichten von Hans Peter Keller der sich vor Sensibilisierung ängstigenden Gedichteleserin vielleicht gezeigt, wie das Gedicht zugleich befreit von der Bedrückung, die es artikuliert. Eine Befreiung, die immer für beide gilt, für den Autor wie für den Leser.
Hilde Domin, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
Schreibe einen Kommentar