– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Ein Gedicht“ aus Marie Luise Kaschnitz: Kein Zauberspruch. –
MARIE LUISE KASCHNITZ
Die Gärten
Die Gärten untergepflügt
Die Wälder zermahlen
Auf dem Nacktfels die Hütte gebaut
Umzäunt mit geschütteten Steinen
Eine Cactusfeige gesetzt
Einen Brunnen gegraben
Mich selbst
Ans Drehkreuz gespannt
Da geh ich rundum
Schöpfe mein brackiges Lebenswasser
Schreie den Eselsschrei
Hinauf zu den Sternen
Dies Gedicht bekommt seine Vehemenz erst ganz zum Schluß. Fast immer waren es die Schlußzeilen, die es mir antaten, als ich auf die Suche ging, um Marie Luise Kaschnitz dem Leser gegenwärtig zu machen. Besonders gilt das für ihren letzten Band, in dem sie mutig, wortkarg und ohne Selbstbetrug Rechenschaft gibt über das Leben des auf sich gestellten Menschen – in dieser Zeit des verwaisten Menschen, der allein auf seinen Tod zugeht. Bis zum letzten Tag genau hinsehend mit den „von jeher tauglichen Augen“ und mutig benennend, was ihr widerfuhr. „Mutig“ sage ich und höre dabei ihre nie abreißende Selbstanklage „Ich bin nicht mutig“ („Die Mutigen wissen / daß sie nicht auferstehen…“) Und schon in ihren Gedichten aus den dreißiger Jahren:
Nur ein Mangel an Liebe und Mut.
Ebenso in „Orte“, unentwegt. Der Mut war ihr eine Hauptaufgabe. Und was wäre Mut, wenn nicht dieser immer neue Appell an sich selbst.
Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, lese ich ihren letzten Band wie ein einziges Gedicht. Und ich wähle gleich das dritte, wegen dieses Schreis, mit dem es endet. Aber auch das erste endet mit einem Schrei: dem Schrei, der ausbleibt. „Kein Schrei aus den Wolken / keine Feder herab“ endet das Gedicht von dem Vogelpaar, dessen einer „entflogen“ ist.
„Die Gärten“ heißt das Gedicht. Es sind die Gärten, die es nicht mehr gibt, sie sind untergepflügt worden. Vielleicht die in der Umgebung von Rom. Wir sind in einer südlichen Landschaft, aber darauf kommt es nicht so sehr an. Auf jeden Fall zerstört, einem andern Zweck zugeführt. Die Wälder gerodet: „zermahlen“, sagt sie, vielleicht, weil zermahlen gründlicher ist, zu Brei, zu Pulver, mag sein zu Zellulose, alles wird ja heute zu einem Zweck zerstört, gleichgültig der Zweck oder Nichtzweck, dem diese Wälder geopfert wurden, die Selbstzweck waren wie die Gärten.
Zugleich innere Landschaft. Der Neuanfang ist dementsprechend: ein Minimum. Kein Haus, eine Hütte, auf den Stein gesetzt, der übrig ist nach der Zerstörung der Landschaft, die auch nicht wiederhergestellt wird, auch nicht versuchsweise wird ein Garten angelegt. Nur eine Art Zaun, eine Absteckung des Terrains durch aufgeschüttete Steine. Eine Cactusfeige wird gesetzt, malartig, die nichts verlangt, eine Mindestgesellschaft. Dann wird für den Menschen, der in der Hütte zu leben hat, ein Brunnen gegraben, eine Zisterne, diese Lebensbedingung in der Dürre. Der einsame Mensch spannt sich statt eines Tieres an das Drehkreuz und geht im Kreis und schafft sich selbst das Wasser hoch: das zum Leben unentbehrliche Wasser, das zugleich das Wasser des Lebens ist. Aber nicht klar, sondern brackig, bitter, nach Meer schmeckend, wie es oft an solch verlassenen Küsten ist.
Da geht er also abends – tags ist es zu heiß – um seinen Brunnen, als sein eigenes Zugtier, um pflichtgemäß das schlechte Lebenswasser zu schöpfen. Bis hierher war alles Exposition. In der Zeile „da geh ich rundum“ hört die Beschreibung auf, wird plötzlich das Ich sichtbar. Und da schreit es auch schon, da schreit der vereinsamte Mensch, mit der Stimme der hilflosen Kreatur. Er ruft niemanden, er schreit diesen Eselsschrei, diesen Zugtierschrei, hinauf zu den Sternen. Das ist vielleicht das Großartige und ganz Desolate an diesem Schrei: daß rein animalisch geschrieen, fast biblisch geschrieen, aber keine Klage artikuliert und nichts erwartet wird. (Dieser Eselsschrei, der schwermütig durch die Nacht tönt, wie schon Bachofen ihn beschreibt.)
Rückwärts gelesen sieht man nun: Es war dies Ich selbst, das in einem äußersten Imperativ die frühere Landschaft weggeräumt hat, um zum Zugtier des eigenen Überlebens zu werden.
Daß der Mensch aber diesen trostlosen Schrei ins Wort bringt – „Nur ein Wort und ein Wort und ein Wort / Wahllos aus dem Sprachnetz gerissen / Zueinander geschleudert / Umarmen sich / sind sogleich eine / Sind eine Welt“ – das ist der Sieg der Kunst, ihre Tröstung, über die conditio humana: conditio inhumana.
Hilde Domin, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
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