– Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“ aus dem Band Peter Huchel: Gesammelte Werke Band 1 – Die Gedichte. –
PETER HUCHEL
Der Garten des Theophrast
Meinem Sohn
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.
In Huchels Ausgewählten Gedichten läßt sich an drei gesonderten Schaffensperioden ablesen, welchen Weg er aus dem Hellen ins Dunkle gegangen ist. Auf lichte, reine Naturlyrik und die Hinwendung zu antiken und christlichen Mythen folgt zuerst die umschleierte, dann die deutliche Absage an die verderblichen Hüter und unredlichen Verwalter dessen, was einst sein Glaube gewesen war. Der „Garten des Theophrast“ gehört zu den Verschlüsselungen, in denen sein eigenes Schicksal aufzuspüren ist. Dieses Gedicht erfüllt sich in den letzten zwei Zeilen. Ein Baum, ein Mensch wird gerodet, entwurzelt, ausgerottet. Seine Äste erblinden, sehen das Licht nicht mehr. Die Widersacher haben gesiegt. Bei Albert Ehrenstein hieß das noch farbiger, dramatischer:
Hoch über mir befahren meine Feinde den Mondregenbogen.
Das Opfer ist gestürzt, sein Untergang gewiß.
Huchel, der am Ende so klar, so unmißverständlich wird, beginnt mit kühneren und schwierigeren Bildern. Das weiße Feuer der Verse tanzt über den Urnen: ein Pfingstwunder, aber es kündigt nichts Gutes an. Die Gespräche, an die er den Sohn gemahnt, schienen ewig, doch sie starben mit jenen, die sie führten.
Man kann diese eminent politische Metapher auslegen, wie man will. Gewiß wurden hier Hoffnungen enttäuscht, Gefährten an die Zeit oder, schlimmer, an die Macht verloren. „Tot ist der Garten“ – wer denkt da nicht an den „totgesagten park“? Aber was bei George das herbstliche Sterben aufwiegt, „der schimmer ferner lächelnder gestade, der reinen wolken unverhofftes blau“, das ist hier unwiderruflich dahin, bedrückt und verschlägt den Atem. Einmal, man gedenke der Stunde, war hier ein Gärtner am Werk gewesen, der den Boden düngte und den kranken Bäumen Stütze gab. Den Theophrast oder Tyrtamos, Schüler des Aristoteles, Verfasser der „Charaktere“, Haupt der Peripatetiker – und Herr ihrer im Wandelgang geführten Gespräche –, sieht Huchel vor allem als Pfleger der Kräuter und Pflanzen, dessen Namen Paracelsus trug. Aber nun sind die Bäume unheilbar geworden.
„Antiker Form sich nähernd“, beschreibt Huchel keine idyllische Totenlandschaft wie Goethe Anakreons Grab, sondern Zerstörung und Verfall. Selbst das Gemäuer, ein weiteres Sinnbild des Festgefügten, der Dauer, wird gespalten, im noch heißen Staub ruft eine Stimme um Hilfe, die bald verlöschen muß.
Aber jetzt die Hammerschläge, der unverhüllte Klageschrei. Keine Frage, um was es geht. Schuldig wird gesprochen, wer die Wurzel auszurotten, den Menschen auszumerzen befahl. Keine Frage auch, wer das ist. Das Gedicht wurde 1962 geschrieben. Huchel ging es schlecht in diesem Jahr. Damals erschien das letzte von ihm redigierte Heft von Sinn und Form, unerschrocken Beiträge nahezu Verfemter enthaltend. Auch der „Garten des Theophrast“ wurde mit fünf anderen Gedichten in dieser Nummer abgedruckt, nach deren Veröffentlichung Huchel in der völligen Isolation verschwand.
„Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“ – herzzerreißendste Zeile der neueren Dichtung. Sie verfolgt mich, seit ich sie zum ersten Mal gelesen habe, wie ein Leitmotiv der Gegenwart. Ich höre sie, wann immer mir Unrecht geschieht, wie wäre es anders möglich.
Aber ich höre sie auch, wenn ich von Verfolgten und Eingekerkerten lese, ob in Santiago de Chile, Barcelona, Istanbul oder in Moskau und Leningrad.
Hilde Spiel, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000
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