Hiltrud Gnüg: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „leuchtfeuer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „leuchtfeuer“ aus Hans Magnus Enzensberger: blindenschrift. 

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

leuchtfeuer 

i
dieses feuer beweist nichts,
es leuchtet, bedeutet:
dort ist ein feuer.
kennung: alle dreißig sekunden
drei blitze weiß. Funkfeuer:
automatisch, kennung SR.
nebelhorn, elektronisch gesteuert:
alle neunzig sekunden ein stoß.

ii
fünfzig meter hoch über dem meer
das insektenauge,
so groß wie ein mensch:
fresnel-linsen und prismen,
vier millionen hefnerkerzen,
zwanzig seemeilen sieht,
auch bei dunst.

iii
dieser turm aus eisen ist rot,
und weiß, und rot.
diese schäre ist leer.
nur für feuermeister und lotsen
drei häuser, drei schuppen aus holz,
weiß, und rot, und weiß. post
einmal im monat, im luv
ein geborstner wacholder,
verkrüppelte stachelbeerstauden.

iv
weiter bedeutet es nichts.
weiter verheißt es nichts.
keine lösungen, keine erlösung.
das feuer dort leuchtet,
ist nichts als ein feuer,
bedeutet: dort ist ein feuer,
dort ist der ort wo das feuer ist,
dort wo das feuer ist ist der ort.

 

Poesie und Metapoesie

Sind Gedichte für Hans Magnus Enzensberger „Leuchtfeuer“, „Leuchttürme“, die in ihrer konturierten Leuchtkraft das dunkle Meer alltäglicher Geschichte erhellen, oder sind sie „schattenwerke“ – so der Titel des Schlußgedichts der blindenschrift (S. 92) –, dunkelt die Patina ihrer Geschichtlichkeit ihre Leuchtbotschaften ein?
Befremdlich mag zunächst diese Frage angesichts eines Gedichtes erscheinen, das von nichts weniger als vom Dichten spricht, das eher positivistisch Funktion und Konstruktion eines Leuchtturms beschreibt, in knapp charakterisierenden Sätzen Aussehen und Umgebung eines bestimmten Leuchtturms skizziert. Fachtermini aus Physik und Schifffahrt dominieren, und dunkel hermetisch ist dem fachunkundigen Leser eher diese ,unpoetische‘ Begrifflichkeit, nicht aber das ästhetische Arrangement des Gedichtes. Jedoch, Enzensberger, der Poeta doctus, der sein Museum der modernen Poesie zusammengestellt hat, der die Avantgarde der lyrischen Moderne und deren Theorien kennt, ist ein literarischer Fallensteller, der den Leser über das scheinbar Offenkundige in eine Aporie stolpern läßt, aus der ihm nur die Literatur wieder heraushilft: die Aufschlüsselung der literarischen Anspielungen.
Die drei ersten Zeilen scheinen zunächst nur tautologisch den Befund auszusagen, daß da ein Feuer ist, das leuchtet, und daß das nichts anderes bedeutet, als daß da ein Feuer ist; irritierend der Hinweis „dieses Feuer beweist nichts“ (1), diese dezidierte Absage an eine Auslegungsmöglichkeit, die der Leser ja noch gar nicht erwogen hat. Auffallend auch, daß sich die drei ersten Zeilen in ihrer tautologischen Kreisbewegung von den folgenden kurzen und präzisen Angaben über das Funktionieren eines Leuchtfeuers abheben. Elliptisch reihend der Stil, eine asyntaktische, Verben aussparende Kürzelsprache, die sich dem Sprachduktus der Funkersprache annähert, auf sie zitathaft anspielt. Gleich das erste Wort (4) „kennung“ ein Fachbegriff aus der Schiffahrt, der die Art der Lichtsignale, die optischen Morsesignale bezeichnet:

alle dreißig sekunden
drei blitze weiß
(4f.)

– ein konkretes Beispiel optischer Morsesprache wird vorgeführt. Doch zum Signalsystem eines Leuchtturms gehören neben den optischen auch die akustischen und Funksignale. Enzensberger zitiert – im Sinne eines exakten Wissenschaftsideals – alle drei Morsemöglichkeiten:

Funkfeuer:
automatisch, kennung SR.
nebelhorn, elektronisch gesteuert:
alle neunzig sekunden ein stoß
(5–8).

Drei Formen möglicher Signale, die die Schiffahrt steuern, werden an einem konkreten Beispiel aufgezeigt. Schon hier stellen sich erste Überlegungen ein, ob die Anfangszeilen nicht doch hintergründiger zu verstehen sind. – Behaupten die ersten drei Zeilen, daß das Leuchtfeuer nur bedeutet, „dort ist ein feuer“, so demonstrieren ja die Beispiele, daß die Leuchtfeuer in ihrer jeweiligen „kennung“ durchaus eine sehr präzise Bedeutung haben. Hier ist ein Widerspruch, der entweder als ästhetische Schwäche dem Gedicht anzulasten ist oder der auf einer anderen Sinnebene seine Widersprüchlichkeit verliert, eben auf diese andere Sinnebene hinweist. Diese Frage bleibt zunächst noch offen.
Auch die zweite Strophe ist einem skizzenhaften Beschreibungsstil verhaftet, der auflistet, eher Stichworte für Sachkundige hintupft, als daß er in ,poetischer‘ Bildlichkeit auf irgendeinen symbolischen Sinn anspielt. Eine Metapher, „das insektenauge“ (10), ist auszumachen, die jedoch auch wieder nur ein biologisch exaktes Anschauungsbeispiel ist, das Laien konkret die physikalische Struktur des optischen Morseapparats vor Augen führt. Eine Metapher als didaktisches Hilfskonstrukt, das die Facettenstruktur des optischen Apparats am vertrauteren Lebewesen versinnlicht. Metapher also als ,Erfahrungsbrücke‘, nicht jedoch als poetische, erst Sinn stiftende Figur.
Enzensberger bleibt in seinem lyrischen Weltbild, das aus sich heraus – in seiner Kürzel-Evokation physikalischer Erfindungen – eine vor allem physikalisch gesteuerte Realität vorführt. „insektenauge“ und „so groß wie ein mensch“ (11) – da werden zwei divergierende Erfahrungsbeispiele/Anschauungsmetaphern gemischt, um die optisch nivellierende, verkleinernde Fernenperspektive und die Nahperspektive im Sachmaßstab zusammenzuschauen. Doch der anschaulichen Beschreibung des Morse-Instruments fügt Enzensberger – formelhaft – die physikalischen Daten an:

fresnel-linsen und prismen,
vier millionen hefnerkerzen,
zwanzig seemeilen sieht,
auch bei dunst
(12–15).

Fresnel, der die Beugungs- und Interferenzerscheinungen des Lichts untersuchte, hat die nach ihm benannten Ring- und Gürtellinsen erfunden, v. Hefner die nach ihm benannten Hefnerkerzen eingeführt, mit der die Einheit der Lichtstärke lange Zeit gemessen wurde. Hinter diesen naturwissenschaftlichen, exakten Angaben verbirgt sich kein ,eigentlich‘ poetischer Sinn, zwanzig Seemeilen Sicht auch bei Dunst, das ist die faktische Leistung dieses Leuchtturms, das bedarf keiner Interpretation. Auch in der dritten Strophe, die den Leuchtturm in seiner Umgebung, eine ,Landschaft mit Leuchtturm‘, evoziert, spart Enzensberger jede Ambivalenz, jede poetische Vielschichtigkeit aus, behauptet er durch einen betont deiktischen Gestus, der an den Eich des „Inventur“-Gedichts erinnert, seine oberflächige Sicht auf die Dinge:

dieser turm aus eisen ist rot,
und weiß, und rot.
diese schäre ist leer
(16–18).

Der Sprachduktus zeichnet den Farb-Rhythmus nach, die einfache parataktische Reihung mit der wiederholten Deixis scheint auch stilistisch die Kargheit und Abgeschiedenheit dieser skandinavischen Seelandschaft wiederzugeben. Erneut eine Aufzählung: „drei häuser, drei schuppen aus holz“ (20), die stilistische Wiederholung auch der Farbskala entspricht der Monotonie der evozierten Landschaft; der metaphernlose, sparsam selektierende Skizzenstil suggeriert nichts anderes als die Faktizität des Beschriebenen. Im Luv, also auf der Seite, auf die der Wind trifft, „ein geborstner wacholder, / verkrüppelte stachelbeerstauden“, eine kümmerliche Vegetation, die nichts anderes als eine kümmerliche Vegetation bedeutet.
Und das verkündet auch die vierte, die Schlußstrophe, mit dem Pathos der insistierenden Wiederholung, das zum ,Lügensignal‘ wird. Die variierende Wiederholung der Anfangszeile: „dieses feuer beweist nichts“ – „weiter bedeutet es nichts“ (25) – „weiter verheißt es nichts“ (26) – „das feuer dort leuchtet, / ist nichts als ein feuer, / bedeutet: dort ist ein feuer“ (28–30) etc. – diese penetrant tautologische Zirkelbewegung entwickelt eine eigene ästhetische Dynamik, nimmt einen Beschwörungscharakter an, der in merkwürdigem Konstrast zu dem sehr verknappten Duktus steht, mit dem Enzensberger sein eigentliches Sujet „leuchtfeuer“ behandelt. Scheinbar insistiert Enzensberger in dieser Schlußstrophe vehement auf diesem einen Gedanken, daß die Dinge die Dinge bedeuten, nichts anderes, wehrt er – gegen wen? – jede symbolische Deutungsmöglichkeit ab. Doch schon das Wort „verheißt“ fällt aus dem Kontext heraus, zielt über die Kritik symbolischen Deutens hinaus.
Und vollends die Abwehr „keine lösungen, keine erlösung“ (27) erinnert an eine Poetik moderner Lyrik, die zwar jeden außerästhetischen Sinn des Gedichts ablehnte, zugleich jedoch im lyrischen Produktionsvorgang eine letzte mögliche Transzendenz sah. Man denke an die ,poésie pure‘ Mallarmés, auf die der späte Benn in seinem ,Artistenevangelium‘ sich berief. Enzensberger – das sei hier als These vorausgeschickt – setzt sich in diesem Gedicht mit einigen Theoremen moderner Dichtungstheorie auseinander.
Zunächst die faktischen Belege, die diese These unterstützen: In seinem dichtungstheoretischen Essay „Weltsprache der modernen Poesie“ grenzt Enzensberger den Begriff moderner Poesie ein:

Moderne Poesie also, auf diesen Seiten, soll heißen: Poesie nach Whitman und Baudelaire, nach Rimbaud und Mallarmé. Die Grashalme sind 1855, die Blumen des Bösen 1857 erschienen. Unzweideutig und strahlend ,modern‘ war das Werk dieser wenigen, „einzelner tiefsinniger Naturen“, die „wie versiegelte Brunnen“ in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gestanden und „mit Arcanis gehandelt“ haben (Brentano). (S. 7)

Und eben Baudelaire, den er als den Vater moderner Poesie anführt, hat ein Gedicht „Phares“ (,Leuchttürme/Leuchtfeuer‘) geschrieben, auf das auch Benn wieder in seiner berühmten Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ verwies.
Baudelaires Gedicht „Phares“ entwickelt eben den Gedanken, den Enzensberger in seinem Essay verficht: die Strahlkraft einiger weniger großer Geister – bei Baudelaire sind es die großen Maler- und Bildhauergenies von Michelangelo bis zu Delacroix –, die aus der Mittelmäßigkeit herausragen und wie ,Leuchtfeuer‘ das dunkle Meer der Zeitläufe erhellen. In den Werken dieser Genies sind „diese Verfluchungen, diese Blasphemien, diese Klagen, / diese Ekstasen, diese Schreie, diese Tränen, diese Te Deum“ aufgehoben; das Werk verdankt sich dem Leiden an der Existenz, ist dem Schaffenden jedoch zugleich „göttliches Opium“ (S. 14), letzte Idealität in einer prosaischen Wirklichkeit. Ähnlich wie später Enzensberger, der „an den verschiedenen Punkten der westlichen, bald auch der östlichen Welt“ einzelne Autoren isoliert und unabhängig voneinander eine „Weltsprache der modernen Poesie“ schaffen sieht (S. 15), hebt auch Benn die Einsamkeit des Künstlers hervor:

Er arbeitet allein, der Lyriker arbeitet besonders allein, da in jedem Jahrzehnt immer nur wenige große Lyriker leben, über die Nationen verteilt, in verschiedenen Sprachen dichtend, meistens einander unbekannt – jene ,Phares‘, Leuchttürme, wie sie die Franzosen nennen, jene Gestalten, die das große schöpferische Meer für lange Zeit erhellen, selber aber im Dunkeln bleiben. (S. 517)

Bei allen drei Autoren also der Gedanke der wenigen, einsam schaffenden Künstler, die einander verwandter sind als den Durchschnittsbürgern ihrer Zeit und ihrer Nation. „Die großen Meister der modernen Poesie“, schreibt Enzensberger, „zwischen Chile und Japan, sie haben miteinander mehr gemein als jeder mit seiner nationalen Herkunft“ („Weltsprache der modernen Poesie“, S. 16). Daß Enzensberger mit seinem Gedicht „leuchtfeuer“ auf Baudelaires „Phares“ und auf die darin konzipierte Künstlerexistenz anspielt, darauf verweist auch die Plazierung des Gedichts innerhalb des Gedichtbandes, der noch einmal in vier Gruppen mit je einem Titelgedicht untergliedert ist. Die dritte Gruppe „leuchtfeuer“ enthält sicherlich nicht zufällig die Gedichte „schwierige arbeit (für theodor w. adorno)“ und „karl heinrich marx“, zwei Porträtgedichte also, die den Strophenporträts des „Phares“-Gedichts entsprechen, wie diese die einsame schwierige Existenz nicht der Künstler, sondern zweier ,moderner‘ Philosophen thematisieren. Das Gedicht für Theodor W. Adorno beginnt mit den Zeilen: 

im namen der andern
geduldig
im namen der andern die nichts davon wissen
geduldig
im namen der andern die nichts davon wissen wollen
geduldig
festhalten den schmerz der negation
(blindenschrift, S. 58)

Und das Gedicht für Karl Marx schließt:

riesiger zaddik
ich seh dich verraten
von deinen anhängern:
nur deine feinde
sind dir geblieben:
ich seh dein gesicht
auf dem letzten bild
vom april zweiundachtzig:
eine eiserne maske:
die eiserne maske der freiheit.
 

Diese Anspielungen und Parallelen, scheinen sie zunächst nichts mit dem Gedicht selbst zu tun zu haben, das keineswegs einen metaphorischen, sondern einen konkreten Leuchtturm in sehr technischer Fachsprache evoziert, so sind sie doch der Schlüssel, der den Sinn der tautologischen Beschwörungen erschließt. „dieses feuer beweist nichts, / es leuchtet, bedeutet: / dort ist ein feuer“ (1–3), diese Tautologie spiegelt in ihrer ästhetischen Struktur die poetologische Reflexion, daß Gedichte nicht auf irgendeine außerästhetische Wirklichkeit verweisen, daß sie autonom sind, daß ihre Bedeutung sich aus dem ästhetischen Arrangement der Sprache entwickelt. Und in Anlehnung an Adornos „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ verficht auch Enzensberger in seinem programmatischen Essay von 1962 „Poesie und Politik“, „daß es die Sprache ist, die den gesellschaftlichen Charakter der Poesie ausmacht, nicht ihre Verstrickung in den politischen Kampf“ (S. 133). Er beruft sich also auf dasselbe ,l’art pour l’art‘-Prinzip, mit dem Benn sich gegen die Forderungen nach positiver Sinngebung, nach gesellschaftlichem Engagement wehrte. Bei Benn hieß es:

Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust. (S. 500)

Wie Benn, so sucht auch Enzensberger aus einem grundsätzlichen Ideologieverdacht heraus die Lyrik von allen gesellschaftlichen Ansprüchen des Tages freizuhalten, sieht er den Zweck der Kunst zuerst in der Kunst. So wie das Feuer nichts beweist, sein Leuchten nur seine Existenz, seine sinnliche Gegenwart bedeutet, so bieten Verse keine Argumente, liegt ihr Sinn im ästhetischen Arrangement ihrer Worte. Und so wie das Feuer nichts „verheißt“, keine „lösungen“, keine „erlösung“ verspricht, so verweigert das Gedicht jede Antwort, enthält sich aller Lösungsvorschläge zur Reformierung einer schlechten Realität. „Wer nicht müde wird, die moderne Poesie kopfschüttelnd nach dem Positiven abzufragen“ – so heißt es in der „Weltsprache der modernen Poesie“ –, „der übersieht, was auf der Hand liegt: ,negatives‘ Handeln ist poetisch nicht möglich; die Kehrseite jeder dichterischen Destruktion ist der Aufbau einer neuen Poetik“ (S. 12). Das Positive des modernen Gedichts, das im Zuge der „Ausfaltung des historischen Bewußtseins“ eine „enorme Einstrahlung von Tradition brechen und resorbieren“ (S. 11f.), das destruktiv sein muß, will es innovativ sein, das Positive liegt allein in seiner neuen ästhetischen Form, die als Form immer Gestalt, also positive Setzung ist. „Albern“ (S. 12) wird die Frage nach dem Positiven, zielt sie auf positive Inhalte, Antworten, ,Lösungen‘. Ähnlich wehrte auch Eich in seiner Büchner-Preis-Rede von 1959 (S. 450) die Forderung nach positiven Antworten für das Gedicht ab:

Die Antworten beweisen, daß es nichts Fragwürdiges gibt. Da wir aber weder Auguren noch reine Toren sein wollen, bleibt uns der Antwortcharakter der gelenkten Sprache verdächtig.

Im Sinne der ,poésie pure‘, der „Antiware schlechthin“ („Weltsprache der modernen Poesie“, S. 23) argumentiert Enzensberger für die ästhetische Autonomie des Gedichts, ohne jedoch – wie der späte Benn oder auch Eich – im Ästhetischen eine neue letzte Transzendenz, eine ,Erlösung‘ zu sehen. Poesie ist dem Nachgeborenen Brechts kein „göttliches Opium“ mehr, verschafft ihrem Autor keine „Transzendenz der schöpferischen Lust“, doch in  ihrer ästhetischen Autonomie antizipiert sie ein Moment von Freiheit, hält sie den Gedanken an Freiheit wach. „Poesie tradiert Zukunft“ – so pointiert Enzensberger in seinem Essay „Poesie und Politik“ (S. 136). Poesie „ist Antizipation, und sei’s im Modus des Zweifels, der Absage, der Verneinung. Nicht daß sie über die Zukunft spräche: sondern so, als wäre Zukunft möglich, als ließe sich frei sprechen unter Unfreien, als wäre nicht Entfremdung und Sprachlosigkeit (da doch Sprachlosigkeit sich selbst nicht aussprechen, Entfremdung sich nicht mitteilen kann). Solches Vorgreifen schlüge ihr zur Lüge aus, wäre es nicht zugleich Kritik; solche Kritik, wäre sie nicht Antizipation im gleichen Atemzug, zur Ohnmacht“ (S. 136f.)
Das ist im Sinne einer dialektischen Denkfigur Adornos formuliert, eines jener „Phares“, Leuchtfeuer, die Enzensberger in dem Gedicht „schwierige arbeit“ porträtiert. Dort heißt es: 

ungeduldig
im namen der zufriedenen
verzweifeln

geduldig
im namen der verzweifelten
an der verzweiflung zweifeln.
(blindenschrift, S. 59) 

Verzweiflung wäre ebenso Lüge wie zweifelsfreie Zufriedenheit, die sich einrichtet im Bestehenden und die Zukunft verrät! Und so tradiert Poesie – nach Enzensberger – Zukunft, indem sie als autonome sich die Freiheit nimmt, Antworten, Lösungen zu verweigern, jedoch gleichzeitig in ihrer Verweigerung die Scheinlösungen der „zufriedenen“ kritisiert. „das feuer dort leuchtet, / ist nichts als ein feuer, / bedeutet: dort ist ein feuer, / dort ist der ort wo das feuer ist, / dort wo das feuer ist ist der ort“ (28–32) – Negation und Position definieren gleichermaßen die Bedeutung des Feuers durch sein Dasein als Feuer, setzen die Identität von Gegenstand und Bedeutung. Eine Frage stellt sich: Suggeriert Enzensberger – gerade wenn man die literarischen Anspielungen ernst nimmt – nicht doch wieder einen symbolischen Sinn seiner Verse, sollen die Leuchtfeuer nicht vielleicht doch die Seinsweise von Gedichten symbolisieren? Klaffen poetologische Reflexion und der oberflächige Realismus, in dem ein konkreter Leuchtturm evoziert wird, nicht auseinander?
Nicht das Symbol, sondern die Analogie verbindet Darstellungs- und Reflexionsteil: So wie die Bedeutung des Leuchtfeuers in seiner jeweiligen „kennung“, im ,Wie‘ seiner optischen Signale liegt, so wie es nichts anderes bedeuten kann, als die Abfolge seiner Leuchtsignale aussagt, so sagt auch das Gedicht nichts anderes aus als das, was im ,Wie‘, in der ästhetischen Komposition seines Wortmaterials erscheint. Daß Enzensberger das technische Sujet des „leuchtfeuers“ wählt, ist gewiß nicht zufällig: Der technologischen Vernunft ist mit der Definition auch die Herstellungsmöglichkeit des Gegenstandes gegeben, mit der Bestimmung des Kreises 2 Π r auch seine Produzierbarkeit; und so liegt umgekehrt in der jeweiligen ästhetischen Produktion, im bestimmten artistischen Arrangement eines Gedichts auch seine Bedeutung/Definition. Zugleich spielt Enzensberger mit diesem ,technischen‘ Sujet auf eine Poetik lyrischer Moderne an, die gegen jede Inspirations-Ästhetik das Kalkül, die bewußte Konstruktion der poetischen Form hervorhebt.
Mögen sich auch scheinbare Widersprüche auflösen, indem man den literarischen Anspielungen des Gedichts nachgeht, es bleibt der Befund, daß diese Lyrik esoterisch ist, letztlich nur von ,Eingeweihten‘ rezipiert werden kann. Auch diesem Vorbehalt begegnet Enzensberger mit einem geistesgeschichtlichen Argument, das dennoch die Frage nach den Wirkungs-, Aufklärungsmöglichkeiten moderner Lyrik nicht löst:

Mit Recht hat man bemerkt, daß mit der Moderne die Stunde des poeta doctus geschlagen hat. („Weltsprache der modernen Poesie“, S. 11)

„dieses feuer beweist nichts, / es leuchtet, bedeutet:/ dort ist ein feuer“ – dennoch will es dechiffriert werden, wendet sich an die Kenner des Morsealphabets, trägt nicht zur ,Alphabetisierung‘ derjenigen bei, die des Morse-Feuers am meisten bedürften. Das bleibt eine Aporie moderner Lyrik. 

1

Hiltrud Gnüg, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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