Horst Bienek (Hrsg.): Finnische Lyrik aus hundert Jahren

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Horst Bienek (Hrsg.): Finnische Lyrik aus hundert Jahren

Bienek (Hrsg.)-Finnische Lyrik aus hundert Jahren

IN MIR SIND DREI

In mir sind drei: Geist Gedanke Wille
Ich gehe zum Geist
aaaaader Wille erschlafft
und der Gedanke hellt sich auf

Ich halte mich an dem Gedanken fest
der Geist schließt den Willen aus
aaaaaoder der Wille den Geist
und der Gedanke bleibt

Ich lasse den Willen
aaaaaund der Geist kehrt zurück
aaaaader Gedanke hellt sich auf:

Der Wille, der Geist, der Gedanke, diese drei
in mir sind
immerzu

Jyrki Pellinen

 

 

 

Nachwort

Die mündlich verbreitete anonyme finnischsprachige Volksdichtung repräsentiert die älteste Schicht der finnischen Literatur. Ihre Entstehung geht ungefähr auf die Wikingerzeit zurück. Seit dem Jahre 1908 gibt die Finnische Literaturgesellschaft die aufgezeichneten Volksdichtungen unter dem Titel Die alten Lieder des finnischen Volkes mit ihren Varianten heraus. Gegenwärtig sind es vierunddreißig stattliche Bände.
Das repräsentative Werk der epischen Volksdichtung ist das Nationalepos Kalevala, von Elias Lönnrot aus den von ihm auf mehreren Sammlerreisen nach Karelien aus dem Munde der Volkssänger aufgezeichneten Epen und Liederzyklen ausgewählt und zu diesem Werk zusammengeschweißt (endgültige Ausgabe 1849). Das Kalevala ist der erste selbständige Beitrag des finnischen Volkes zur Weltliteratur. Zwischen dieser Arbeit redigierte Elias Lönnrot auch die von ihm aufgezeichneten lyrischen Volksdichtungen und gab sie auf eigene Kosten 1840/41 unter dem Namen Kanteletar heraus (nach dem alten finnischen Musikinstrument Kantele, mit dem der Vortrag der Volksdichtungen im allgemeinen begleitet wurde), das etwa 650 Lieder enthält.

Die finnischsprachige Volksdichtung der verschiedenen Zeiten bringt sehr häufig eine sozial- und gesellschaftskritische Einstellung zum Ausdruck. Diese Haltung erklärt auch, daß sich bis zum heutigen Tag finnische Schriftsteller immer wieder von der alten Volksdichtung anregen lassen. So tat es auch der erste große Dichter Finnlands, Aleksis Kivi, der ganz bewußt sein berühmtes Gedicht „Lied meines Herzens“, das Allgemeingut des finnischen Volkes aller Generationen ist, – es steht am Schluß seines Romans Sieben Brüder (1870) – nach einem Wiegenlied der Kanteletar variiert hat. Auch wenn wir in Kivis Lyrik noch manche Anklänge an die skandinavische Literatur finden, so werden doch hier zum ersten Mal ihre Unterschiede deutlich. Mit Aleksis Kivi beginnt die eigentliche finnische Nationalliteratur. Seine Wirkung und sein Einfluß auf die neue finnische Literatur waren stark und nachhaltig. Schon 15 Jahre nach Kivis Tod hatte sie eine ganze Reihe wertvoller Werke vorzuweisen. Befruchtend wirkte auch die zeitgenössische Literatur der anderen nordischen Länder, besonders der norwegische Naturalismus. Auch die russischen Klassiker übten ihre Wirkung aus. Aber vor allem Paris war – bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts – der Anziehungspunkt der Schriftsteller und Künstler Finnlands. So gaben die geistigen Strömungen Europas der jungen Literatur Finnlands auf viele Weise Anregungen.

Im Laufe der neunziger Jahre begann dann zum ersten Mal das gesamte finnische Kulturleben zu seiner schönsten Blüte aufzublühen: in der Literatur wie in der Musik, auf dem Theater wie in der Architektur und den bildenden Künsten. Doch mit Beginn des neuen Jahrhunderts kamen bedrohliche politische Zeichen: Rußland begann seine Russifizierungspolitik zu verschärfen. In den verschiedensten Formen äußerte sich der Widerstand, der dann 1905 im Zusammenhang mit den revolutionären Bewegungen in Rußland zum Generalstreik in Finnland mit dem Ziel einer politischen Loslösung führte. In dieser Zeit entstand eine finnische Arbeiterdichtung revolutionären Charakters. Die finnischen Bestrebungen führten dann 1906/07 zur Aufhebung des Ständelandtages, um an seine Stelle das durch allgemeine Wahlen gewählte demokratische Parlament zu setzen.
In dieser politisch so bedeutungsvollen Zeit Finnlands trat seine in jeder Hinsicht stärkste Dichterpersönlichkeit auf: Eino Leino, der vor allem auch als unerbittlicher Kulturkritiker im progressiven Geiste aufgetreten ist. Die deutsche Sprache erlernte er bei der Beschäftigung mit Heines Buch der Lieder. Sein Hauptwerk, die Balladensammlung Helkavirsiä (Helkalieder, 1903 und 1916) bedeutet für die finnische Literatur ungefähr dasselbe wie Goethes und Schillers Balladendichtung für die deutsche Literatur. Es ist Weltliteratur in finnischer Sprache. Und das Entscheidende dabei ist, daß Eino Leino bei dieser Sammlung ganz bewußt auf eine Erneuerung und Modernisierung der alten finnischen Volksdichtung ausgegangen ist. Hier lebt in der Tat der Geist der Kalevala– und Kanteletarstimmung in einem unserer Zeit angepaßten Gewande. In diesen monumentalen Gestaltungen erreichte die reiche Phantasie und die leuchtende Sprachkraft des Dichters ihren Höhepunkt.
Durch Eino Leino wurde die finnische Dichtungssprache auf einen Höhepunkt geführt. Nun hatte die finnische Dichtung ihre volle Gleichwertigkeit in der europäischen Dichtung erreicht.

Eino Leino stand auch mitten im politischen Leben:

Ich verstand, was Kunst ist und immer sein wird, nämlich ein ewiger Protest gegen die bestehenden Verhältnisse, die veraltet sind im Vergleich zu der verborgenen Ahnung einer noch nicht verwirklichten besseren und glücklicheren Welt.

(In den neunziger Jahren). Und 1914:

Ich wollte frei sein, ganz frei. So kann ich auch sagen, daß meine ganze Schriftstellerlaufbahn ein Kampf für die Freiheit gewesen ist… Es ist nicht genug, daß man ständig für sie kämpfen muß, sowohl für die innere wie für die äußere Freiheit. Wo dieser Kampf aufhört, da hört das Leben auf, alles stirbt und erstarrt, wird vergiftet und vermodert… Ich betrachte den Kampf für die Freiheit als das höchste, unsterblichste sittliche Ziel.

Damit gab er in klarer Weise die Stellung des Dichters zu seiner Zeit an – als eine Persönlichkeit der kämpferischen geistigen Kultur. Durch die in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Oktoberrevolution erfolgten Selbständigkeit Finnlands kamen neue und schwierige Probleme, die das Land Anfang 1918 in einen furchtbaren Bürgerkrieg stürzten, um schließlich vier Wochen vor dem Fall der Monarchie in Deutschland eine finnischdeutsche „Königsfarce“ durchzuführen. Diese Ereignisse widerspiegelten sich in der mannigfaltigsten Weise auch in der Literatur.
Vom Jahre 1921 an wurde die Vereinigung Nuori Voima (Junge Kraft), ein politischer Zirkel engagierter junger Menschen, auch der Nährboden der neuen literarischen Generation. In der Anthologie dieses Kreises Nuoret runoilijat (Die jungen Dichter) haben viele Schriftsteller debütiert. Als dann von dieser Vereinigung in den Jahren 1924–27 die inzwischen berühmt gewordenen literarischen Jahrbücher unter dem Namen Tulenkantajat (Die Fackelträger) mit Erkki Vala als Herausgeber publiziert wurden, wurde dann diese Bezeichnung für die ganze Schriftstellergruppe geprägt, die in der finnischen Literaturgeschichte eine bedeutende Rolle spielen sollte. Ende 1928 gab dieser literarische Kreis die erste Nummer der für die kulturelle Entwicklung des jungen Staates so bedeutsamen Kulturzeitschrift Tulenkantajat heraus, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens (zwei Jahre) der Mittel- und Sammelpunkt der progressiven jungen Intellektuellen Finnlands wurde. Großes Aufsehen erregte der kühne Leitspruch: „Dieses Blatt bedeutet, daß ein neues Geschlecht in die Leitung des finnischen Kunstlebens eintritt.“ Aber die politische Reaktion der „Sieger“ des Bürgerkrieges von 1918, die auch das Kulturleben in immer stärkerem Maße einschnürte, brachte auch diese Zeitschrift zum Schweigen.
In der Mitte der dreißiger Jahre schlossen sich dann die linksradikalen Schriftsteller, Künstler und Kritiker zu der sehr aktiven avantgardistischen Gruppe Kiila (Der Keil) zusammen, deren Organ das von Jarno Pennanen herausgegebene Kirjallisuuslehti (Literaturblatt) wurde.
In einem abgelegenen, isolierten Lande mit kleiner Bevölkerung sind es häufig einzelne Persönlichkeiten, die ganz auf eigene Initiative hin der heranwachsenden Generation helfen. Eine besondere Bedeutung für die Orientierung der jungen finnischen Schriftsteller nach der Selbständigkeit im losen Zusammenschluß der Tulenkantajat spielte der kosmopolitische Schriftsteller Olavi Paavolainen. Er hatte die Voraussetzungen, auf eigene Kosten weite Studienreisen in die Welt zu machen. Er berichtete den jungen Schriftstellern über die Situation der damaligen Literatur und Kunst vor allem in Europa (Deutschland und Frankreich), und sein Buch Auf der Suche nach der Gegenwart (1929) wurde geradezu zur Bibel der isolierten Schriftsteller des Landes.
Die finnlandschwedische Sprache und Literatur wieder ist die natürliche lebensnotwendige Brücke zu den skandinavischen Ländern. Die schwedische Sprache als zweite Landessprache schafft immerzu die unschätzbaren Kontakte und gibt Finnland immer das sichere heimatliche Gefühl unter den nordischen Ländern: überall zu Hause zu sein und nicht in einem fremden Land.
Von der literarischen Seite her wie auch geistesgeschichtlich ist die überragende Erscheinung für die gesamte neuere nordische Dichtung Edith Södergran (1892-1923). Die Eltern stammten aus dem schwedischsprachigen Österbottnien, der Vater war Geschäftsmann in Petersburg, die junge Edith ging dort in die berühmte deutsche Schule zu St. Petri und schrieb ihre ersten Gedichte in deutscher Sprache; noch 1920 erwähnt sie einmal: „Deutsch ist meine beste Sprache.“ Erst von 1918 an schrieb sie ihre Gedichte in schwedischer Sprache. Gleich ihre erste Gedichtsammlung Dikter (Gedichte, 1916) erregte durch ihre Andersartigkeit und ihre mitreißende Kraft großes Aufsehen – besonders unter den Schriftstellern des Nordens. Sie wurde der große Wendepunkt der modernen schwedischsprachigen Dichtung in Finnland, hatte eine umstürzende Wirkung auch in den anderen nordischen Ländern.
Das andere bedeutende Beispiel einer geradezu revolutionären Erneuerung der finnlandschwedischen Dichtung war der zu Beginn der zwanziger Jahre aufgekommene Modernismus, zuerst mit der Zeitschrift Ultra (1922) und dann mit der Zeitschrift Quosego (1928/29), die mit den alten Dichtungsmustern aufräumten. Hier wirkten die bedeutendsten Kräfte der schwedischsprachigen Dichtung: Gunnar Björling, EImer Diktonius, Rabbe und Olof Enckell und Hagar Olsson. Und diese vorwärtsweisende Linie wurde dann nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt in den Zeitschriften Arena (Jörn Donner) und FBT (vor allem mit Claes Andersson, Robert Alftan) als Repräsentanten des heutigen Modernismus.
Stil- und schulbildend besonders für die junge Generation nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Aaro Hellaakoski. so daß man ihn vielleicht als den Vater der heutigen finnischen Moderne bezeichnen kann. Er ist auch einer der wenigen Vertreter des europäischen Expressionismus in Finnland.
Nach dem Kriege konnten sich nun Türen und Fenster weithin nach der ganzen Welt hin öffnen. Für die geistige Situation unmittelbar nach dem Kriege gab es ein schönes positives Beispiel: die Gedichtsammlung von Aila Meriluoto, Glasmalerei (1946), die für finnische Verhältnisse einen sensationellen Erfolg hatte – 27.000 Exemplare wurden in kurzer Zeit abgesetzt; nach der langen Kriegszeit und literarischen Isolierung zeigte sich die Sehnsucht nach einem wesentlicheren Lebensinhalt als Krieg. Das lebendige Wort einer jungen Dichterin gab einer illusionslosen Nachkriegsjugend Trost, Hoffnung, Zuversicht.
Die aus den Gefängnissen gekommenen Schriftsteller konnten nun ihre Werke publizieren mit Arvo Turtiainen, Elvi Sinervo, Jarno Pennanen an der Spitze, die die sozialkritische Dichtung auf eine hohe künstlerische Stufe stellten. Von großer Bedeutung war die in der Nachkriegszeit begonnene Dezentralisierung des Kulturlebens in Finnland, so daß nun auch in Landstädten Universitäten errichtet wurden und das Leben der geistigen Kultur sich nicht mehr auf die Hauptstadt allein konzentrierte.

Das Finnlandbild ist bei uns wie auch anderswo nach wie vor äußerst mangelhaft und verschwommen. Die finnische Gesellschaft hat sich im Laufe der Nachkriegszeit grundsätzlich gewandelt und erneuert: ganz allmählich wurde eine Liberalisierung und wirkliche Demokratisierung der Verhältnisse geschaffen. Unter der Jugend entwickelte sich eine Radikalisierung im Sinne der Neuen Linken. Durch die Entwicklung des Nordischen Rates konnte die Zusammenarbeit mit den skandinavischen Ländern auf allen Gebieten stark vorwärts getrieben werden.
Man kann nicht oft genug bei dieser positiven Entwicklung Finnlands hervorheben, daß es ein Schriftsteller war, der in entscheidendem Maße dazu beigetragen hat, die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart zu bewältigen und in der aktivsten Weise durch seine Werke alte nationalistische Vorurteile und Tabus zu beseitigen: Väinö Linna.
Sofort nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Literatur Finnlands einen starken künstlerischen Aufschwung genommen. Sie ist freier, welthaltiger und experimentierfreudig geworden. Die Verstädterung und Industrialisierung haben von selbst eine Weltoffenheit mit sich gebracht. Die Stadt, das industrielle Leben traten immer stärker in den Kreis der schriftstellerischen Darstellung.
Die finnischen Schriftsteller versuchen jetzt auch von sich aus mit den modernen ausländischen Schriftstellern in Kontakt zu kommen. Seit 1963 veranstaltet die Eino-Leino-Gesellschaft jeweils eine Woche lang im Naturpark Mukkala der Stadt Lahti internationale Schriftstellerseminare mit Teilnehmern aus Ost und West. War unmittelbar nach dem Krieg T.S. Eliot das große Idol der Schriftsteller, so traten dann allmählich an seine Stelle Rilke, Kafka, Lorca, Brecht, Majakowskij, Sartre, Camus u.a.
Wenn für die fünfziger Jahre der „Modernismus“ mit einer stark ausgeprägten Bildsprache kennzeichnend war, so standen die sechziger Jahre im Zeichen der literarischen Experimente, dies im Zusammenhang mit dem Neuen Radikalismus und der linksgerichteten undogmatischen Kulturzeitschrift Tilanne (Situation) von Jarno Pennanen: die Gebrauchslyrik trat in den Vordergrund, die Literatur sollte in direkter Verbindung mit ihrer Zeit stehen. Vielleicht kann man sagen, daß sich nun, zu Beginn der siebziger Jahre, die finnische Lyrik in einem Stadium der Besinnung befindet, die neuen formalen Mittel werden souverän in eine tradierte Moderne eingebracht.

Was werden die nächsten Jahre bringen? Einer der beliebtesten jungen finnischen Dichter, Jarkko Laine, zeigt eine Möglichkeit der Entwicklung, wenn er heute schreibt:

Der Dichter muß seinen Platz wählen.
Ergreife das Gewehr
aaaaaaaaaaoder grabe dich als Wurm ins Fleisch der Engel ein!
Es gibt Nüchternheit,
aaaaaaaaaaden Sinn für die Schritte auf dem Nichts,
oder das Wissen über die folgende Zeit der Geschichte,
deren Vorabend bereits war.
Keine Erde unter den Leichen.

Friedrich Ege

 

Mitten in der Arbeit zu diesem Band starb Friedrich Ege am 13. November 1972 in Helsinki. Er hatte noch regen Anteil an den Vorbereitungen genommen, hatte, schon auf dem Krankenlager, für diese Ausgabe ein ausführliches Nachwort geschrieben und die Autoren-Notizen neu verfaßt. Die Korrekturfahnen kamen nicht mehr zurück.
In einem Brief vom 22. Mai 1970 schrieb er an mich:

… ich hatte eine Krebsoperation und ich mache mir für die Zukunft nichts vor. Sie werden verstehen, daß ich langsam meine Lebensernte in die Scheuer fahren möchte, wie man früher bei uns zu Haus sagte. Ich möchte jetzt gern meine Übertragungen aus dem Finnischen (eine Arbeit von mehr als dreißig Jahren!), die überall verstreut sind, gesammelt vorlegen, als Dank an Finnland, mein Gastland, und als Dank an die deutsche Sprache…

Mit diesem Brief schickte Ege mir, der ich damals in einem Verlag als Lektor saß, ein dickes, ziemlich ungeordnetes Konvolut mit Übertragungen finnischer Lyrik aus hundert Jahren, das hatten ihm schon einige deutsche Verlage abgelehnt. Mein Verlag, ein Taschenbuchverlag, war für ein solches Kompendium nicht gerade die beste Publikationsform. Ich nahm mich also der Sache selber an und schickte das Manuskript, jetzt neu zusammengestellt und redigiert, an mir bekannte Verleger, in der Hoffnung, es werde sich hierzulande jemand finden, der eine solche Anthologie publizieren möchte, das Lebenswerk eines Übersetzers, das „Dankbuch“ eines deutschen Emigranten. Nach zwei Jahren hatte ich neun höfliche Absagen deutscher Großverleger in meinen Akten.
Bis sich dann der Merlin-Verlag der Sache annahm, einer jener mittleren Verlage, die es immer schwerer haben, mit ihren Büchern in die Buchhandlungen hereinzukommen, die gleichwohl noch etwas wagen – wie eintönig normiert sähe die Buchlandschaft unserer Großverleger aus…
Freilich konnte der Band dann aus Kalkulationsgründen nicht so umfangreich werden. Ege und ich, wir haben gemeinsam eine „repräsentative“ (immer noch ziemlich umfassende) Auswahl aus dem Konvolut getroffen. Wobei es für uns alle schmerzlich war, daß solche für die europäische Literatur bedeutsamen Autoren wie Aleksis Kivi, Eino Leino, Edith Södergran, Arvo Turtainen, Eeva-Liisa Manner oder Pentti Saarikoski auch nur mit drei oder vier Beispielen vertreten sein konnten, Autoren freilich, die erst durch Ege (oder wie im Falle von Edith Södergran, die finnlandschwedisch schrieb, auch durch Nelly Sachs) bei uns bekannte Namen geworden sind. „Das Land das nirgends ist“ heißt ein Gedichtband der Södergran. Friedrich Ege hat es auf der literarischen Landkarte Europas für uns in deutscher Sprache wiederentdeckt.

Ege wurde 1899 in Zuffenhausen geboren, er studierte in Stuttgart, lebte als freier Schriftsteller und Theaterregisseur in Hof und Berlin. Im Herbst 1933 ging er, noch ehe er sich einen Namen machen konnte, in die Emigration; er gehörte nicht direkt zu den Verfolgten, aber als engagierter Pazifist und Überzeugter Sozialist sah er keine Wirkungsmöglichkeiten in seiner Heimat mehr. Es kamen schwere Jahre für ihn. Bis 1936 schlug er sich in Schweden durch, dann ging er nach Finnland, schloß sich der linksgerichteten literarischen Kiila-Gruppe (Der Keil) an und lebte seitdem bis zu seinem Tod als Journalist und Übersetzer in Helsinki. Zur Zeit des nationalsozialistischen Einflusses in Finnland, 1943, wurde er eine Zeitlang in Haft genommen.
Nach dem Krieg schrieb er für ost- und westdeutsche Radiostationen über das finnische Kulturleben, veröffentlichte Übersetzungen in allen Zeitschriften, in Sinn und Form wie im Merkur, in blätter+bilder wie in den Akzenten. Er gab einige Anthologien heraus, darunter Der Ruf des Menschen 1953 im Aufbau-Verlag und Kriegerische Sätze (eine Auswahl jüngster Dichtung) 1970 in der Eremitenpresse. In Würdigung seiner Verdienste wurde Ege 1972 von der finnischen Regierung mit dem Löwenorden I. Klasse ausgezeichnet. Als er starb, brachten die deutschen Zeitungen nicht einmal eine Notiz darüber. Dabei wüßten wir nichts von der finnischen Lyrik und nur weniges von der Prosa dieses Landes ohne seine engagierte, entsagungsvolle und unermüdliche Übersetzer- und Vermittlertätigkeit.

Horst Bienek, Mai 1973, Nachwort

 

Dies ist die umfassendste Anthologie finnischer Lyrik,

die bisher im deutschen Sprachbereich erschienen ist. Zu verdanken ist sie Friedrich Ege († 1972), einem deutschen Schriftsteller, der zu Beginn der Nazizeit ins Exil getrieben wurde und bis zu seinem Tode in Helsinki gelebt hat. Während dieser Zeit hat er immer wieder in allen wichtigen deutschen Zeitschriften (von Sinn und Form bis zu den Akzenten) mit seinen Übertragungen auf die finnische Literatur aufmerksam gemacht.
Dieser Band ist sein Lebenswerk; er enthält eine sorgfältige Auswahl seiner Übertragungen finnischer Dichtung von Aleksis Kivi bis zu den jüngsten Dichtern unserer Tage, zu Saarikoski, zu Rossi und Polameri. Eine Literaturgeschichte der finnischen Dichtung in Beispielen und zugleich mehr: „Das Land, das nirgends ist“, wie die große, von Nelly Sachs übersetzte Edith Södergran ihr Land beschrieben hat, gewinnt in diesem Buch Kontur auf der literarischen Landkarte Europas. Dieses kleine Land, das alle literarischen Strömungen Europas in sich aufgenommen hat, ist nicht epigonal geblieben – das beweist dieser Band – es hat eine eigene, unverwechselbare Stimme. Seine entschiedene Bejahung der Landschaft wie auch der Arbeitswelt könnte heute vielleicht sogar die Literatur anderer Länder beeinflussen.

Merlin Verlag, Klappentext, 1973

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Bienekerl“.

 

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