– Zu Heinz Pionteks Gedicht „Schlittenromanze“ aus Heinz Piontek: Gesammelte Gedichte. –
HEINZ PIONTEK
Schlittenromanze
Auf schnelleren Schlitten
werden sie dich einholen,
für einen Wolf dich halten
in deinem Schafpelz
und mit dem Daumen dir
eine neue Richtung empfehlen:
Mit lärmenden Schellen
wirst du in die Verbannung reisen.
Heinz Piontek ist neben Bobrowski unter den Jüngeren der einzige deutsche Lyriker, der sich immer wieder mit der Form der Ballade und deren lateinischer Spielart, der Romanze, beschäftigt hat. Er hat, genauer gesagt, diese einstmals literarisch überstrapazierte Versform benutzt, um sie zu biegen, zu verändern, durch Verkürzung und Verkargung von ihrer tradierten Redseligkeit zu befreien, auch um an ihr lyrische Widerstände auszuprobieren.
Er ging darin weiter als Georg von der Vring, der eine exemplarische Romanzensammlung herausgegeben hat, und als Günter Eich, denen er sich beiden auf seine trocken-erzählerische Weise annähert. Gewiß hängt das auch damit zusammen, daß er, einer „raunenden und erzählerischen“ Landschaft wie Schlesien entstammend, für solche Überlieferungen eine besondere Affinität mitbringt. So hat er auch seine frühen balladesken Texte „Östliche Romanzen“ (1956) genannt, ein anderer Zyklus heißt bezeichnenderweise „Romanzen, reflektiert“ (1965). Später hat er dann von „Erzählgedichten“ gesprochen, womit Piontek übrigens in einer schönen und anregenden Chresthomathie die Ballade auf einen neuen Begriff gebracht und zugleich rehabilitiert hat.
Die „Schlittenromanze“, die Heinz Piontek als Dreißigjähriger verfaßte, hat mit dem sie kennzeichnenden Genre nicht mehr als den Titel gemein, der mit gesicherter Tradition daherkommt und Vertrauen ausstreut – und zugleich Sand in die Augen des Lesers. Denn da, wo eine Romanze sonst endet, fängt diese hier erst an: Zeile für Zeile zerstückelt sie die Situation, die man sich längst schon im Kopf zurechtgemacht hat, und hinterläßt ein Vexierbild, über das noch lange danach zu rätseln bleibt. Der schnelle, fast atemlose Rhythmus, der diese Zweizeiler forttreibt, treibt auch den Leser dorthin, wo sich am Schluß offensichtlich auch der Verfasser befindet: in die Verbannung.
Die Sentenz ist ausgesprochen, doch erst jetzt denkt man darüber nach: von Schneetreiben, Pferden, lachenden Menschen, fröhlichem Sehellengeläut ist nicht die Rede, sondern immer wird zu den gewohnten und erwarteten Mustern das Gegenteil geliefert. Der Titel also nichts als eine schöne Täuschung. Statt dessen wird das hier entworfene Bild besetzt mit anonymen Verfolgern, die überall lauern, die sogar schneller sind, dich einholen und dir eine andere Richtung weisen. Es gibt gar keine andere Wahl (insofern finde ich das Verbum „empfehlen“ nicht geglückt) als die Verbannung. Und das einmalige Reimpaar weisen/reisen hätte hier sogar so etwas wie einen prägenden Stempel in der Coda.
Es wird für den Leser nicht schwierig sein, in diesem Bild zugleich ein Symbol, eine Metapher zu entdecken, die darüber hinausweist. Pionteks Gedicht läßt an das Wort von Borges denken:
Das Gedicht geht in die Verbannung. Und verstehen wird es nur jener, der bereit ist, die Askese des Verbannten auf sich zu nehmen.
Horst Bienek, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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