– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Ein Gedicht“ aus Marie Luise Kaschnitz: Dein Schweigen, meine Stimme. –
MARIE LUISE KASCHNITZ
Ein Gedicht
Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maistrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehm ich,
Es zu kämmen gegen den Strich,
Es zu paaren widernatürlich,
Es nackt zu scheren,
In Lauge zu waschen
Mein Wort
Meine Taube, mein Fremdling,
Von den Lippen zerrissen,
Vom Atem gestoßen,
In den Flugsand geschrieben
Mit seinesgleichen
Mit seinesungleichen
Zeile für Zeile,
Meine eigene Wüste
Zeile für Zeile
Mein Paradies.
Die Nachfahren Paul Valérys werden seinen berühmten Satz nicht mehr aus dem Kopf verdrängen können:
Einen ersten Vers geben uns die Götter huldreich umsonst, an uns ist es, einen zweiten zu schmieden, der mit dem ersten harmoniert und seines übernatürlichen Bruders nicht unwürdig ist.
Klarer, bündiger, aphoristischer ist das nicht mehr formuliert worden. In unserer Zeit haben die Dichter mehr als in früheren Generationen über den literarischen Schaffensprozeß nachgedacht und geschrieben, vor allem in den sechziger Jahren, als eine Sprachkrise in der deutschen Lyrik eingetreten war und man sich in solchen poetischen Reflexionen der Sprache, des Gedichts, der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten überhaupt vergewissern wollte. Marie Luise Kaschnitz war davon bedrängt wie so viele, sie aber in einem besonderen Maße nach dem Tode ihres Mannes, des Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg, und der Gedichtband, der in der Zeit danach entstand und den so signifikanten Titel trägt Dein Schweigen, meine Stimme, versucht in zahlreichen Versen darüber Auskunft und Rechenschaft zu geben. Aber nirgendwo so deutlich wie hier in „Ein Gedicht“.
Ja, den ersten Vers geben die Götter hilfreich umsonst… kein Zweifel, daß die Poetik der Kaschnitz davon geprägt war. Die Worte kommen leichtfüßig daher, aus den Fugen wie Asseln, aus dem Maistrauch wie Blüten, aus dem Feuer wie Pfiffe. Was mir zufällt, nehm ich… Doch dann beginnt die Arbeit des bewußten Künstlers: das Wort zu kämmen gegen den Strich, es seiner Bedeutung zu entkleiden, gegen Erwartungen aufzutreten, es gegen die Natur zu paaren, in Lauge auszuwaschen, bis es nur noch das ist, was es ist; das Wort neu sehen, von vorn anfangen, anders: das allgemeine Wort zu „meinem“ Wort erheben.
Rettung ist die Poesie nicht. Einmal schien es so, als ob sie Rettung verhießen, die Wörter, in den „Notizen der Hoffnung“, und ein paar Seiten vorher:
Schreibend wollte ich meine Seele retten… ich versuchte Verse zu machen, es ging nicht… die Seele, die aufgegebene, treibt dahin und singt.
Dieses Singen, das werden die neuen Gedichte sein, vielleicht. Wichtig ist es, neu zu schreiben, immer wieder, durch die eigene Wüste zu gehen, Zeile für Zeile, in aller Genauigkeit, Zeile für Zeile: mein Paradies.
Am Schluß des Gedichts dieses Vertrauen in das Wort, in das Gedicht, in einer Zeit, als unsere Lyriker vom „Schweigen im Gedicht“ raunten, das überrascht, das beglückt. Da bekennt sich eine Autorin, die niemals Moden mitmachte und zu dieser Zeit einen der formal kühnsten und raffiniertesten Prosatexte schrieb, „Beschreibung eines Dorfes“, zur sinnlichen Erfassung der Welt durch Poesie. Zeile für Zeile, meine eigene Wüste, Zeile für Zeile, mein Paradies. Soll es eine Metapher sein, dann ist es eine ungeheure, die mit Rilkes „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“ korrespondiert, beides Sätze, damit eine Person sich ihrer selbst vergewissere, das Leben bestehe und schließlich das Wort. So wichtig genommen wie das Leben selbst!
Es sind nicht immer die besten Gedichte, in denen der Autor sein poetisches Weltbild reflektiert, aber es sind oft die wahrhaftigsten. Und es gibt eine poetische Wahrheit, die größer, gewaltiger und erregender ist als jede noch so geglückte Metapher. Wenn das Schweigen schließlich zum Wort wird: Dein Schweigen – meine Stimme.
Horst Bienek, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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