Horst Bienek: Zu Max Hermann-Neißes Gedicht „Die Blessierten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Max Hermann-Neißes Gedicht „Die Blessierten“ aus Max Hermann-Neiße: Ich gehe, wie ich kam. –

 

 

 

 

MAX HERRMANN-NEISSE

Die Blessierten

Mit langsam tastenden, besorgten Schritten
gehn die Blessierten in dem abgeschieden
schattigen Klostergarten, als erlitten
sie wie entfremdet diesen Abendfrieden.

In langen, grauen Mänteln, gleich Gespenstern,
humpeln sie durch die düstren Baumalleen,
bis hinter allen kleinen Zellenfenstern
wieder die milden Fieberlämpchen stehen.

Dort liegen sie wie Leichen und versuchen
zu lächeln, und sie fühlen die Grimasse,
die grausam ihr Gesicht verzerrt, und fluchen.

Und möchten schlafen und von nichts mehr wissen,
und träumen Morden, bis der herbstlich blasse
Morgen mit seinem Lorbeer kränzt die Kissen.

 

Die Zeit der Mörder

Max Herrmann hat Exil-Gedichte geschrieben, als er noch gar nicht im Exil war, und als er, ein durchaus anerkannter, wenn auch nicht gerade besonders erfolgreicher Schriftsteller, 1933 das Land seiner Sprache verlassen mußte, da schrieb er fortan nur mehr Exilgedichte: Um uns die Fremde.
So ist er uns überliefert als ein Dichter, den das Los der Emigration besonders tief verwundet hat, und in zahlreichen meditativen Strophen, mehr klagend als anklagend, hat er bis zu seinem einsamen Tod in London im Jahre 1941 davon Zeugnis abgelegt:

Doch hier wird niemand meine Verse lesen,
ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht;
ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht…

Es gibt Autoren, die schreiben auf ihr Schicksal hin.
Im schlesischen Neiße 1886 geboren, im Umkreis und in der Tradition eines Eichendorff aufgewachsen, hat er sich in den Gedichten eine liedhafte Einfachheit erobert und bewahrt, die nur bei ihm glaubwürdig und überzeugend blieb. Die Provinz wurde ihm bald zu eng, zu dumpf, er ging nach Berlin, stürzte sich in den Literaturbetrieb, veröffentlichte in avantgardistischen und pazifistischen Zeitschriften, hielt Vorträge vor Arbeiterclubs, schrieb Theaterstücke, wirkte darin auch als Schauspieler mit – und doch nannte er seinen Gedichtband bei S. Fischer im Jahre 1919 Verbannung, wobei er seinem Namen die Stadt seiner Kindheit anfügte: Max Herrmann-Neiße. Das Gedicht „Die Blessierten“ ist im ersten Kriegsjahr 1914 entstanden; gemeint sind damit die Opfer, die Verwundeten dieses Krieges, gleichwohl könnte es sich aber auch um die geistig Verletzten in einem Irrenhaus mitten im Frieden handeln. Der Anfang atmet Ruhe, die ersten Zeilen schmeicheln sich noch sprachmelodisch ein, ein Zustand wird beschrieben, der Abend in einem Kloster, das jetzt ein Lazarett ist. Aber die Idylle trägt nicht, es ist bereits ein „entfremdeter“ Abendfrieden. Schon in der zweiten Strophe häufen sich die Wörter des Schreckens und des Fiebers; jetzt ist nichts mehr, was Trost gibt, die Blessierten sind Verfemte, Verbannte, Ausgeschlossene von diesem, unserem Leben…
Zeile für Zeile enthüllt der Verfasser das Psychogramm dieser Verwundeten, Versehrten. Sie werden hier nicht mehr heil herauskommen, blessiert sind sie nicht nur am Körper, auch in den Seelen, in den Herzen, in den Hirnen. Sie möchten schlafen und von nichts mehr wissen – aber aus diesem Paradies sind sie längst vertrieben, sie „träumen Morden“, ja, müssen immer wieder von Morden träumen, auch wenn ein neuer Tag sie das vergessen machen will. Die Nacht wird kommen und mit ihr die Zeit der Mörder, der Wahn, das Nichtvergessen… sie werden ewig Blessierte sein. Max Herrmann-Neiße war einer von ihnen.
Das Gedicht ist ein Sonett in fünffüßigen Jamben, das ist so ziemlich die strengste Form in der Lyrik. Man spürt beim Lesen förmlich den Widerstand des Inhalts gegen die „schöne“ glättende Form, hier und da sind Hebungen verschoben, quergestellt. Ein gut Teil der somnambulen Schönheit, der seltsamen Faszination dieses Gedichts rührt von der Anpassung her, mit der hier dieser „Wahn-Text“ in jener strengen klassischen Versform gezügelt – und geläutert – wird.

Horst Bienek, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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