– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Die Luft riecht schon nach Schnee“ aus Sarah Kirsch: Rückenwind. –
SARAH KIRSCH
Die Luft riecht schon nach Schnee
Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter
Trägt langes Haar, ach der Winter, der Winter der uns
Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt
Mit dem Windhundgespann. Eisblumen
Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und
Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß
Ich sage das ist
Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel
Es heißt, es werden wieder Liebesgedichte geschrieben, man findet neuerdings sogar Versbücher, die mutig das Wort Liebe im Titel tragen; ja, und es erscheinen Anthologien, die ungeniert „Liebesgedichte aus unserer Zeit“ versammeln. Doch ich glaube, das alles täuscht. Wahrhaftige Gedichte der Liebe werden kaum noch verfaßt – und schon gar nicht von Männern. Die Handvoll überzeugender Liebesgedichte, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren in deutscher Sprache geschrieben wurde, stammt von Frauen, von Marie Luise Kaschnitz, von Ingeborg Bachmann, von Rose Ausländer, von Sarah Kirsch.
Genau besehen, ist das nebenstehende Gedicht ein Gedicht des Abschieds von der Liebe, auch wenn im Titel und in der gleichlautenden ersten Zeile eine Erwartung verkündet wird. Es spricht von der Zeit der schönen Täuschung. Denn wenn die Luft nach Schnee riecht, ist der Sommer vergangen, die hohe Zeit der Liebe, der Begierden, der Ekstasen, wie es einst aus den alten Versen klang.
Doch trotzig und gegen das Überlieferte wird hier dafür der kommende Winter reklamiert, ach, der Winter – ohne einen Seufzer geht das nicht ab. Der schöne Parlandoton, der die Sprache so geschmeidig macht, die Wörter fluten läßt, er kann uns über das Verhängnis, das in der Luft liegt, nicht hinwegtäuschen, oder höchstens nur so lange, wie die Zeit der Wörter reicht. Beschwörend wird dieser Winter angerufen, er soll die Liebenden zusammenführen, sie zusammenwerfen, er soll die Gemeinsamkeit enger, die Liebe größer, gewaltiger machen.
Die Autorin scheut sich nicht, in den Bildern und Metaphern der Kindheit zu träumen: die Eisblumen am Fenster, die glühenden Kohlen im Herd und das Windhundgespann, lautlos, vor der Tür. Es ist die Sehnsucht nach Geborgenheit, die uns im Märchenton von „Schönster Schneeweißer“, von der Zeitlosigkeit der Gefühle erzählen will – doch dahinter lauert das Ende, die Einsamkeit, die Kälte.
In einer eindringlich schönen Geste bettet die Frau den Kopf des Geliebten in ihren Schoß, zärtlich, und weiß doch, daß es keinen Aufschub gibt, daß in ekstatischen Augenblicken der Liebe die Luft schon nach Schnee, nach Kälte riecht und in der Hitze der Leiber sich bereits der Frost des Abschieds ankündigt. Der Schnee fällt mitten ins Herz. Ein Wort bleibt, vielleicht; dahingeworfen: Darling. Ganz äußerlich, banal. Und auch das ist bald Asche, wird in den Kübeln fortgetragen wie jeglicher Müll.
Ein Gedicht der Halluzination, das mit Hitze beginnt und in Vereisung endet. Liebe und Schnee. Ein Schlitten, der mit allen Sehnsüchten und Träumen vorbeifährt.
Doch tröstlich: das Gedicht redet nicht vom Tod. Am Schluß flüstert die Amsel. Vom nächsten Sommer, von der nächsten Liebe? Der Geliebte trägt langes Haar. Sulamith ist allein.
Horst Bienek, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985
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