– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Gegen Verführung“ aus Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band IV. –
BERTOLT BRECHT
Gegen Verführung
I
Laßt euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.
2
Laßt euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in schnellen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!
3
Laßt euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.
4
Laßt euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.
Dieses Gedicht ist in seiner Art vollkommen: vollkommen schön, vollkommen klar. Ist es auch vollkommen wahr? Es definiert Brechts Verhältnis zum Tod. Selten ist das, was man den dialektischen Materialismus des Marxismus nennt (und was bei den Klassikern des Marxismus meist einen immensen Begriffsapparat in Bewegung setzte), so einfach, so bildhaft, so fast volksliedhaft sangbar in Sprache übergegangen. „Der Tag steht in den Türen; / Ihr könnt schon Nachtwind spüren“ – die Bilder, reimhaft, nehmen die Tradition deutscher Lyrik seit Goethe auf. Auch Romantik schwingt mit, romantisches Ungenügen, unstillbare Lebenslust:
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!
Auch dies ist, wie bei Brecht fast immer, ein Lehrgedicht. Es vertritt eine These. Es will aufklären. Ja, es verkörpert in seinem didaktischen Tenor geradezu den Extremfall von Belehrung. Es lebt ganz aus dem Pathos aufklärerischer Unterweisung. „Laßt euch nicht verführen!“ – die Eingangszeile geht bis zur letzten Zeile als erzieherischer Zeigefinger bewußt und ganz unüberhörbar durch das Gedicht. So sollt ihr es sehen! So steht ein Lehrer vor seiner Schulklasse. So sieht sich ein Sozialrevolutionär vor seiner Klasse.
Trotzdem ist es an keiner Stelle lehrhaft blaß, theoretisch, nur „aufklärerisch“. Im Gegenteil: es ist, als wenn die Dramatik und Wucht des Todesthemas letzte Tiefenerfahrungen des Dichters freigelegt hätte. Weisheit, nicht Wissen treibt diese Belehrung voran. Auch Weisheit der Bescheidung:
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.
Was das Gedicht im historischen Kontext marxistischer Aufklärung meint, ist evident: Aufklärung gegen Klerikalismus und Mystizismus. Die kirchliche Tröstung auf ein besseres Jenseits zugunsten der Massenarmut hier, also auch zugunsten stabilisierter, konservativer Besitzverhältnisse wird schroff zurückgewiesen – mit Recht. „Laßt euch nicht verführen! Zu Fron und Ausgezehr!“ Es ist ein leidenschaftlicher Aufruf, das Diesseits, die Irdischkeit ernst zu nehmen, voll auszuschöpfen, ja das eine Leben, das jeder nur hat, zur Feier irdischer Fülle sich entwickeln zu lassen:
Schlürft es in vollen Zügen!
Solche dionysischen Aufbrüche haben Seltenheitswert in der marxistischen Anthropologie, die gemeinhin den Menschen ja eher als Teil des ökonomischen Prozesses versteht und – verwertet.
Gleichwohl scheint mir das Stück revolutionärer Sprengkraft, das in solchen Sätzen steckt, von der heutigen Situation her, merkwürdig rückwärtsgewandt, als kritische Auseinandersetzung mit der christlich-bürgerlichen Ideologie. Soweit es den Mißbrauch von Jenseitsvertröstungen attackiert, ist es unverändert aktuell und wahr. Geht man aber zum Beispiel von der Utopie eines gelungenen Sozialismus aus (in dem ökonomische Ausbeutung nicht mehr vorhanden wäre), so zeigt es zugleich seine Grenze. Ich habe dieses Gedicht immer bewundert – ich kann ihm trotzdem nicht folgen, zuletzt. Der Tod wird einfach als Schlußpunkt hypostasiert: „Ihr sterbt mit allen Tieren“ – dies ist einerseits richtig. Andererseits wirft es eine Tür einfach zu, die man eben offenhalten sollte, meine ich.
Ob man es nun mit Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ nennt oder mit Jaspers „Die Grenzerfahrung“ – der Tod, indem er fast autoritär zum absoluten Schlußpunkt deklariert wird, wird um ein Winziges gebracht, was sein Wesen ausmacht: das Fragezeichen. „Gegen Verführung“ – Gegenverführung? frage ich.
Horst Krüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979
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