Horst Rüdiger: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Ein Gedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Ein Gedicht“ aus Marie Luise Kaschnitz: Dein Schweigen, meine Stimme. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Ein Gedicht

Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maistrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehm ich,

Es zu kämmen gegen den Strich,
Es zu paaren widernatürlich,
Es nackt zu scheren,
In Lauge zu waschen
Mein Wort

Meine Taube, mein Fremdling,
Von den Lippen zerrissen,
Vom Atem gestoßen,
In den Flugsand geschrieben

Mit seinesgleichen
Mit seinesungleichen

Zeile für Zeile,
Meine eigene Wüste
Zeile für Zeile
Mein Paradies.

 

Ungleiches gepaart

Eine farblose Überschrift: die Benennung eines Dinges mit dem unbestimmten Artikel. Die Wiederholung am Beginn der Verse präzisiert den Stoff, aus dem das Ding „gemacht“ ist: „aus Worten“, dem griffig-flüchtigen Stoff der „Macher“, wie die Griechen die Dichter nannten. Doch mit der Verarbeitung ist es nicht getan; man sucht nach der Herkunft des Stoffes. Von Eingebung, göttlicher Begeisterung oder wie man den Vorgang sich sonst zu erklären versucht hat, ist zunächst nicht die Rede, wohl aber vom Zufall, jener blinden Gottheit, der nicht nur die Dichter so viel verdanken. Er kann sich immer und überall einstellen, auch wo man ihn nicht vermutet; er kann durch einen Pfiff den Lauschenden aufmerken lassen.
Erst dann beginnt das Machen, aber „gegen den Strich“. Man fügt sich dem Terror des Zugefallenen nicht – das wäre noch kein Gedicht. Man paart „widernatürlich“, aber im Bewußtsein des Widernatürlichen, Asseln mit Blüten. Den Urstoff Wort, der am Anfang war, destilliert man gleichsam heraus, indem man der Sprache das Vlies schert, worin das Wort, unscheinbar und verschmutzt, verborgen lag, und wäscht es wie die Wolle des Lammes. Dann hat man es in seiner Kahlheit und in seiner Reinheit und stellt es allein in den Vers:

Mein Wort.

Der Stoff ist Eigentum geworden. Zuvor war nur einmal vom Ich die Rede; nun häufen sich bis zum Schluß die „besitzanzeigenden“ Fürwörter. Das Wort erscheint als „Taube“ wie der Geist Gottes im Matthäus-Evangelium und als „Fremdling“ wie im Pfingstwunder (von den alten Malern gern in Gestalt einer Taube versinnbildlicht), da man „in Zungen redete“, in fremden Zungen – und doch verstanden wurde. In den Bildern von der Taube und vom Fremdling Wort mag, nun erst, die Idee von der Eingebung anklingen. Doch das Wort, soeben noch vom Geist durchdrungen, ist der Verderbnis und der Vergänglichkeit ausgesetzt, auch wenn es im Gedicht steht. Es hat nicht mehr die magische Kraft, die ihm eigen war, als man „in Zungen redete“. In zwei Einzelversen, gleichsam als Strophe abgesetzt, wird die Vereinigung des Wortes mit Gleich und Ungleich vollzogen.
Am Schluß drei fast zwanghafte, wie unter Diktat geschriebene Verspaare, kaum mehr durch Satzzeichen getrennt, parallel gebaut bis zur Wiederholung, antithetisch einander zugeordnet, zweimal durch identische Reime verbunden, doch als solche kaum erkennbar, weil auch der Rhythmus „gegen den Strich“ läuft. Und noch einmal die Beschwörung orientalischer Wirklichkeiten und Wunschträume, von denen die Dichterin Besitz ergriffen hat und die sie in Besitz genommen haben:

Meine eigene Wüste… Mein Paradies.

„Ein Gedicht“ steht in der Sammlung „Dein Schweigen – meine Stimme“; Marie Luise Kaschnitz hat es dann selbst in den Sammelband Überallnie auf genommen. Sinnverwandte Verse stehen daneben; das Thema – ihr Thema – hat sie bewegt. Vom Reim und geregelten Rhythmus der frühen Gedichte entfernte sie sich; die assoziative Bild- und Gedankenreihung verdrängte die traditionellen Bauformen; die Worte wurden karger und treffender. „Ungenaue Beschreibung“ (so tadelt sie sich einmal selbst) muß ihr physisch zuwider gewesen sein. Doch sie verfügt über die große Kunst des „genauen Feststellens der flüchtigen Erscheinungen“ (die sie Cyrus Atabay attestierte). Zugleich aber vollzieht sich in ihrem Gedicht eine innere Bewegung: Indem sie feststellt, was das Wort in einem Gedicht – in ihrem Gedicht – ist, stellt sie dar, wie ihr Gedicht entsteht: „Zeile für Zeile“ und ohne die Dissonanz zu mildern.
„Ein Gedicht“ über das Dichten: eines der wenigen zu diesem Thema, das einem Dichter geglückt ist.

Horst Rüdigeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00