Hub Nijssen: Zu Peter Huchels Gedicht „Wintermorgen in Irland“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Wintermorgen in Irland“. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Wintermorgen in Irland

Der Teufel sitzt nachts
im Beichtstuhl des Nebels
und spricht die Verzweifelten an.
Am Morgen verwandelt er sich
in eine Elster,
die lautlos über den Hohlweg fliegt.

Im Winterverlies
das brüchige Gold der Toten
am Eichengesträuch.
Licht rodet die Kälte.
Die vertrauten Gesichter der Dächer
erscheinen wieder.

Die Exerzitien
des Windes über dem Meer,
der erste Eselschrei.
Der Schatten eines Vogels schwebt
am hängenden Felsen die Klippe hinauf.

Die Brandung,
der gleitende Wall aus Wasser und Licht,
die irische See
verrät nicht, ob Regen
den Mittag begraben wird.

 

Ein Wall aus dunklem Wasser und Licht

Kurz nach der Wende wurde über Peter Huchel (1903 bis 1981) viel geschrieben. Viele DDR-Bürger wollten endlich das Werk des verbannten Dichters und Sinn und Form-Chefredakteurs kennenlernen. Für alle Deutschen waren die Stasi-Akten über den „Solschenizyn der DDR“ der beste Beweis für die Perfidität des Überwachungssystems. Inzwischen ist es wieder ruhig um ihn geworden. Doch neulich gab Bernd Jentzsch das 1968 verbotene Poesiealbum zu Huchel heraus, erschienen im Märkischen Verlag in Huchels Wohnort Wilhelmshorst.
Anfang November 1974 machte Huchel eine Lesereise in Nordirland. Die politische Lage in Belfast und Ulster wird ihn an seine Isolationsjahre (1961 bis 1971) erinnert haben. Offenbar hat er dort einen dichten Morgennebel erlebt, durch den er sich eingeengt, bedroht fühlte. Obwohl evangelisch erzogen, vergleicht er die Situation mit der Enge eines Beichtstuhls, in dem man durch den Vorhang von der Außenwelt abgeschlossen ist und dem Priester seine angeblichen Verfehlungen berichtet. Hier bildet der Nebel den Vorhang und nimmt der Teufel die Beichte ab. Bedeutet dies, daß man für seine Missetaten belohnt wird? Oder wird man bestraft für das Gute, das man getan hat? Grund genug, um zu verzweifeln.
Die Elster ist seit jeher mit Diebstahl verbunden. Sie raubt Glitzerndes, aber auch Eier und Jungvögel. Der Nebel unterdrückt jedes Geräusch des Vogels. Wie ein Raubtier seine Beute umschleicht, so begleitet er den Reisenden: Big Brother, der Teufel sieht dich. Die Seitenwände des Hohlwegs verstärken dieses Gefühl der Enge, der Bedrohung. Der Wanderer sieht nichts, er ist vom Nebel eingeschlossen wie in einem Käfig, einem Winterverlies. Er ist eine leichte Beute für Böswillige. Die alten vergilbten Blätter der Eichen sind die einzig erkennbare Farbe im nebligen Grau, wertlos wie das Gold für die Toten.
Doch dann kommt das befreiende Licht, das tief liegt und wie eine Axt eine Schneise in den Nebel schlägt und die Kälte rodet. Der Nebel lichtet sich durch den Meereswind. Die Dächer einer bewohnten, menschlichen Welt wirken erleichternd auf den Reisenden. Das Leben erwacht, der erste Eselschrei durchbricht die bisherige Lautlosigkeit. Ob der Tag gut sein wird, ist abzuwarten. Doch wird die Sonne rasch stärker, denn der Vogel wirft schon einen Schatten auf die felsige Klippe. Der frische Wind, der weite Blick über das Meer: Alles ist Gegensatz zu dem Einengenden des Nebels.
Die Brandung bildet einen Wall aus dunklem Wasser und Licht, spiegelt so das Schwarzweiß der Elster aus der ersten Strophe. Der Reisende ist mit dem Wetter in der Fremde nicht vertraut und kann die Zeichen der Natur nicht deuten. Für ihn bleibt es deshalb unklar, ob es nachmittags regnen wird oder nicht. Statt sich des neuen Lebens zu erfreuen, stellt er gleich die Frage nach der Zukunft: Was wird werden? „Begraben“ hört sich ziemlich melancholisch, depressiv an und schlägt den Bogen zum Nebel der Nacht. So weit ist es aber noch nicht. Der Morgen hat gerade erst angefangen. Für den Leser und den Reisenden gilt nur der Augen-Blick: der Blick über die Irische See. Und sie verrät nichts. Wir bleiben somit in der Schwebe, wie der Schatten des Vogels am Felsen.

Hub Nijssen, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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