Hubert Schirneck: Zu Michael Krügers Gedicht „Hotel bei Erfurt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michael Krügers Gedicht „Hotel bei Erfurt“ aus Michael Krüger: Umstellung der Zeit. 

 

 

 

 

MICHAEL KRÜGER

Hotel bei Erfurt

Nur Tote wohnen hier
sie bezahlen mit Asche.
Ihre Schatten sieht man
hinter den Fenstern,
auch die Schatten von Kindern.
Der Taxifahrer erzählte
von einem Mathematiker
aus Jena ’45 gestorben,
der wußte die genaue Zahl
aller Toten auf Erden.
Keiner geht verloren.
Man darf kein Gepäck haben,
wenn man hier einziehen will.
Sogar Bücher sind verboten.

 

Die Herberge des Todes

Eines ist sicher: In diesem Hotel möchte ich nicht wohnen, auch nicht für eine Nacht. Es muss für Michael Krüger ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Bei der ersten Zeile des Gedichts kommt dem unvoreingenommenen Leser der Gedanke, ob der Reisende möglicherweise eine Friedhofskapelle anstelle einer Herberge aufgesucht hat. Dann wäre er selber Schuld. Im anderen Falle würfe das kein gutes Licht auf die Thüringer Hotellandschaft. Meine erste Vermutung war, dass das beschriebene Ereignis kurz nach der Wende stattgefunden haben könnte. (Vor der Wende wohl kaum; wo käme sonst der Taxifahrer her.) Michael Krüger will nicht so recht herausrücken mit der Sprache. Er gibt mir keine Jahreszahl (Das noch nicht rechtschreibreformierte „wußte“ gibt ja nur einen vagen Anhaltspunkt) und keine genaue Ortsangabe. Schade, ich wüsste doch gerne, wohin ich lieber nicht fahren sollte. Immerhin bestätigt er mir, dass es tatsächlich ein Beherbergungsbetrieb gewesen sei, ein „seltsames, heruntergekommenes Hotel bei Erfurt“ (na, wenigstens außerhalb der Landeshauptstadt!), in dem er der einzige Gast gewesen sei. Ein Hotel „ohne Geschichte und ohne Zukunft, im Niemandsland.“
Wir erfahren auch nicht, ob Michael Krüger als Autor dort logierte oder als Verleger. Doch welcher Veranstalter würde einen so bekannten Literaturmenschen in ein so schäbiges Gasthaus einquartieren? Dann war er vielleicht doch privat unterwegs und musste bei Dunkelheit und Nebel und schon halb schlafend einfach nur irgendwo ins Bett. Möglich ist alles: Krüger stammt aus Wittgendorf, das in der Nähe von Zeitz und außerdem an der Schnauder liegt. Er wuchs jedoch in Berlin auf. Von 1969 bis 2013 war er im Carl Hanser Verlag tätig, zunächst als Lektor, später als Verlagsleiter, und gab die Zeitschrift Akzente heraus. Daneben schrieb er selbst Gedichte und Romane, die er vor allem im Salzburger Residenz-Verlag und bei Suhrkamp veröffentlichte.
Während ich dies in die Tastatur tippe, grübele ich nach wie vor: In welchem Hotel in Thüringen (unweit unserer geliebten Landeshauptstadt!) darf man kein Gepäck haben? Und keine Bücher? Ich werde Michael Krüger noch einmal fragen müssen.

Hubert Schirneckaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00