Hubert Winkels: Zu Thomas Klings Gedicht „Gewebeprobe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Klings Gedicht „Gewebeprobe“ aus Thomas Kling: morsch. –

 

 

 

 

THOMAS KLING

Gewebeprobe

der bach der stürzt
ist nicht ein spruchband
textband weißn rau-
schnnz;
aaaaaaschrift schon;
der sichtliche bach di
textader, einstweilen
ein nicht drossel-, nicht
abstellbares textadersystem,
in rufweite, in auflösender
naheinstellun’.
aaaaaaaaaaaaabruchstücke,
ständig überspült, über-
löschte blöcke, weiße schrift-
blöcke und glitschige, teils,
begreifbare anordnungn ein un-
unterbrochn ununterbrochenes.
am bergstrich krakelige unruhe
und felsskalpell. schäumendes
ausschabn.
aaaaaaaaabezifferbarer bach,
der bach der stürzt: guß
megagerinnsel, hirnstrom.

 

Vom Webstuhl zum Seziertisch

Thomas Kling, Jahrgang 1957, interessiert sich wie nur wenige zeitgenössische Dichter für die mündliche Seite der Sprache. Insofern ist er ein legitimer Nachfahre jener Wiener Poeten Konrad Bayer, Gerhard Rühm und H.C. Artmann, die in den fünfziger Jahren das Dichten in deutscher Sprache radikal modernisierten. „gewebeprobe“ habe ich ausgesucht, weil das Gedicht eine kleine öffentliche Geschichte hinter sich hat. Es wurde 1994 in dieser Zeitung vorabgedruckt und provozierte einen entgeisterten Leserbrief, in dem ein Arzt eine häufig an zeitgenössische Poesie gerichtete Frage zu einem Verdacht zuspitzte, nämlich ob es sich hier um „Sprachchaos (handele) zur Verschleierung der Tatsache, daß es da gar keinen mitteilbaren Gedanken gibt“. Das ist der Punkt. In der Moderne ist der Zusammenhang von Gedanke und Mitteilung gerissen, und die Poesie webt ihren Schleier nicht über, sondern in ebenjenem Riß, der die Welt aus den Fugen bricht. „der bach der stürzt / ist nicht ein spruchband“, muß man dem lesenden Mediziner antworten. Die Mitteilung ist in der stürzenden Bewegung, nicht jenseits. Wenn man sie nicht anderswo sucht, dann ist alles ganz einfach, dann fängt es auch an zu klingen.
Von vorne: „das weben und gewebe, daher die zusammenfügung, der zusammenhang“, so übersetzten Jacob und Wilhelm Grimm das lateinische textus. Schon damals war dem Gebildeten der metaphorische Zusammenhang von Web- und Dichtkunst so selbstverständlich, daß er kaum noch ein Weberschiffchen bei der Arbeit gesehen haben dürfte, wenn Text im Text stand. „gewebeprobe“ – der Titel des Gedichts von Thomas Kling ist von bescheidener Mehrdeutigkeit: Er kündigt eine Textprobe an, eine Vorlage für einen Test und zugleich den Test selbst. Thomas Kling zerlegt und seziert. Aber das ist nur die grundlegende, besser gesagt: grundstürzende dichterische Operation. Aus ihr entwickelt er ganz selbstverständlich eine neue Kunst der Zusammenfügung, so speziell und eigenwillig, daß sie immer wieder von jüngeren Kollegen kopiert wird.
In „gewebeprobe“ setzt er zunächst eine andere Metapher für das Gedicht und zeigt deren Reichweite:

der bach der stürzt.

Man darf den Ausdruck lesen wie ein Wort. Stürzen ist eine Bewegung, die Innehalten, Feststellen, Beruhigung ausschließt. Also auch jene Sinnberuhigung, die von Sentenzen, Weisheiten und Sprüchen ausgeht, jenen herkömmlichen Ergebnissen einer bekömmlichen Metaphernkunst. Deshalb beginnt das Gedicht, das eine andere Metaphernarbeit leistet, mit einer Verneinung. Nun ist der rheinische Dichter Thomas Kling mit seinem Hang zu alten verborgenen Sprachtraditionen nichts weniger als ein dichtender Sprengmeister oder Sprachanarchist, für den ihn immer noch viele – auch seiner Bewunderer – halten. Er ist ein skrupulöser und genauer Formulierer:

einstweilen
ein nicht drossel-, nicht
abstellbares textadersystem,
in rufweite, in auflösender
naheinstellun’.

Die statische Gewebemetapher wird hier erweitert und in Bewegung versetzt. Das Gedicht ist zu diesem Zeitpunkt (einstweilen) nicht fixierbar, und es ist nicht überschaubar. Das kann sich also noch ändern. Kling rechnet mit dem klugen Leser, der am Ende doch erfolgreich gedrosselt haben wird, was so wild den Fels herunterschäumt.
Das Gedicht sucht die Nähe zu einem alltäglichen Sprechen, das ebenfalls gern Vokale und Endungen bei Infinitiven und Partizipien verschleift. Ein Verfahren, das beschleunigt und Festlegung erschwert. Ihm entspricht die „auflösende naheinstellun’“, die es nicht mehr erlaubt, das Gesehene als Ganzes, als Sinneinheit zu erfassen. Beides zielt auch auf die objektive Not, die wir Zeitgenossen mit einer überkomplexen Wirklichkeit haben. Kling zieht die sprachliche Konsequenz aus der Lage des Beobachters, der das Bild nicht übersieht und deshalb mit Bruchstücken arbeiten muß, der seine Beobachtungen immer wieder überspült sieht: Er versetzt den Leser in ebendiese Lage.
Mit dem paradoxen Ausdruck „bezifferbarer bach“, mit dem die vierte Strophe anhebt, ist das Gedicht an seinem rätselhaften Wendepunkt. Allerdings ist der sprachliche Weg, der vom Stürzen zur Ziffer führt, solide vorbereitet durch die Ausdrücke „felsskalpell“ und „ausschabn“. Das Gedicht ist nicht mehr dem textilen Gewebe oder seiner metaphorischen Erweiterung in den Raum der Naturelemente hinein zugeordnet, sondern dem Gewebe als konkreter biologisch-körperlicher Tatsache, „gewebeprobe“ verankert das Gedicht jetzt im Fleischlichen und tiefer noch im Hirn: megagerinnsel – das ist Poesie, wenn man sie von der Begegnung von Hirn(-Pathologie) und Schrift her denkt. Man schaue sich das Kling-Gedicht an: seine Zeilenbrüche, seinen Zeilenfall insgesamt: ein Stürzen über Klippen, teils „begreifbare anordnungn“, teils „über- / löschte blöcke“. Und vor allem: Man höre es: das Schäumen der Um- und Zischlaute, wenn es stürzt und spült; das Knirschen und Reiben der harten Konsonanten, wenn Berg und Fels zum Vorschein kommen; die kühle Reihung am Ende, wenn das Gedicht in Hirn und Ziffern übergeht. Zur vollen Gestalt kommen Kling-Gedichte, wenn sie laut gelesen werden, vorzüglich vom performanceerprobten Dichter selbst.

Hubert Winkels, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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