Hugo Claus: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hugo Claus: Gedichte

Claus-Gedichte

BYRON

Zu Lebzeiten baute er bereits sein Museum.
Voyeur einer phantasierten Vergangenheit
mit gotischen Geheimnissen.

In seinen Manuskripten strich er viel,
(meist hatte er second thoughts)
ließ aber alle Reimwörter intakt.
Die zitternde Syntax.

Heute unter Glas: sein mürber medizinischer Stiefel,
Seidenhemd mit schmuddeligem Kragen,
Jackett mit Salz unter den Achseln,
die Haarlocken numeriert.

Er sammelte Zeitungsausschnitte über Boxer und Schauspielerinnen,
verdigris wie seine Verse.
Vom Schlachtfeld von Waterloo
nahm er Kartätschen mit, Schrot,
eine Soldatenjacke, eine befleckte Trikolore.

Sammelte Nippes, Tiere, Menschen.
Selbst stets in Weiß und Schwarz gekleidet,
wie ein Mann mit Tripper.

Übersetzung: Waltraud Hüsmert

 

 

 

Nachwort

Hugo Claus, geboren in Brügge im Jahr 1929, ist nicht nur einer der produktivsten, sondern zweifellos auch einer der bedeutendsten niederländischsprachigen Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch dieses Jahrhunderts. Als Romancier steht er mindestens auf der Stufe seiner der gleichen Generation angehörenden Schriftstellerkollegen Louis Paul Boon, Willem Frederik Hermans, Gerard Reve und Harry Mulisch, doch während diese nahezu ausschließlich erzählende und essayistische Prosa verfaßten, schuf Claus daneben ein mindestens ebenso beeindruckendes Œuvre auf dem Gebiet der Lyrik und des Theaters. In Flandern wie in den Niederlanden durfte er alle bedeutenden Literaturpreise in Empfang nehmen, jedes Jahr im Oktober fällt auch sein Name, wenn die Verleihung des Nobelpreises für Literatur ansteht, und schon zu Lebzeiten hat man ihm in dem westflandrischen Künstlerdorf Watou ein Denkmal errichtet, entworfen von einem seiner ältesten Künstlerfreunde, dem Maler Roger Raveel.
In dem halben Jahrhundert, das seine literarische Laufbahn überspannt, hat er sich vom Wunderkind und enfant terrible der niederländischen Literatur zu ihrem grand old man entwickelt, freilich ohne dabei an Vitalität, Eigensinn und Wendigkeit einzubüßen.
Mit Claus als Homme de lettre und als Schriftsteller ist es tatsächlich etwas Merkwürdiges. Trotz seines Ruhms und Erfolges blieb er stets eine umstrittene Figur, und trotz der zahlreichen Essays und wissenschaftlichen Studien über sein Werk blieb er im Grunde immer ungreifbar. Er mag kanonisiert sein, doch er läßt sich nicht in einem Schrein beisetzen. Seinen Kritikern und Exegeten ist er immer einen Schritt voraus, er verblüfft sie durch das, was ihn vielleicht am meisten von allem kennzeichnet, seinen absoluten und selbstverständlichen Mangel an Respekt vor Regeln, Konventionen und Erwartungen, vor Stillstand und Versteinerung. Sie lassen sich nicht mehr genau zählen, aber seine mehr als 100 Bücher umfassen alle Genres und innerhalb jedes Genres eine Vielfalt an Stilen, Tonarten und Techniken. So enthält sein Prosawerk sowohl realistische Erzählungen wie Grotesken, sentimentale Liebesromane und hochgelehrte Abhandlungen, kleine Divertimenti und einen großangelegten Bildungsroman wie Der Kummer von Flandern. Das gleiche gilt für seine Theaterarbeit; nach einigen surrealistischen Stücken schrieb er Melodramen und Tragikomödien, naturalistische Sittenstücke und Satiren. Er bearbeitete in äußerst freier Weise Stücke von u.a. Seneca, Büchner, Noël Coward, aber auch von Euripides, Aristophanes und Shakespeare. Auch seine Lyrik ist, wie wir im folgenden sehen werden, außergewöhnlich vielseitig und variationsreich. Und wenn ihm danach ist, schreibt er nicht nur, sondern malt, macht Filme und inszeniert seine eigenen Theatertexte. Claus ist immer anderswo und jemand anders.

Claus ist tatsächlich als Wunderkind in die niederländische Literatur eingetreten. Nachdem er mit siebzehn Schule und Elternhaus adieu gesagt hatte, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit allen möglichen Jobs, unter anderem als Fassadenmaler und als Saisonarbeiter bei der Rübenernte in Nordfrankreich. Zwischen 1947 und 1950 entpuppte er sich als einer der talentiertesten jungen Literaten, die in den Nachkriegsjahren zu Wort kamen. Im Jahr 1947 debütierte er als Lyriker mit einem schmalen Bändchen ziemlich traditioneller Verse, Reqistreren, größtenteils auf der Linie der Bekenntnislyrik, die in den ersten Jahren nach dem Krieg den Ton angab. Doch in diesen Jahren liest und arbeitet er ruhelos. Er macht Bekanntschaft mit der amerikanischen Literatur, mit den angelsächsischen Modernisten T.S. Eliot und Ezra Pound und vor allem mit den französischen Surrealisten. Er gerät gänzlich in den Bann von Antonin Artaud, den er kurz vor dessen Tod in einem Pariser Straßencafé sieht und in seiner Phantasie mythisch erhöht zu seinem künstlerischen Vater. Von 1949 an gerät alles in eine Stromschnelle, ausgelöst durch seinen Kontakt mit den avantgardistischen Künstlern und Schriftstellern, die um diese Zeit in den Niederlanden und in Flandern von sich hören lassen. In Flandern waren das die Autoren um die Zeitschrift Tijd en Mens, die eine große ethisch begründete Sorge um das Schicksal des Nachkriegsmenschen mit formalen Einflüssen aus der historischen Avantgarde dieses Jahrhunderts und einem stark vom Existentialismus beeinflußten Lebensgefühl kombinierten. In den Niederlanden trat um diese Zeit die experimentelle Kunst in Erscheinung, die schon bald in der internationalen Cobra-Bewegung aufging, mit Malern wie Karel Appel und Corneille, Lyrikern wie Lucebert und Gerrit Kouwenaar. Claus war nie jemand, der sich in einen organisierten Gruppenverband integrierte; so war sein organisatorischer Beitrag zum Durchbruch dieser neuen Kunst und Poesie eher gering. Doch die intensiven Kontakte mit Gleichgesinnten, die für eine spontane und vitale Lyrik eintraten und ethische und ästhetische Vorschriften in Kunst und Literatur grundsätzlich ablehnten, wirkten als Katalysator für seine eigene Entwicklung. Zwischen 1952 und 1955 publizierte er in diesem Geist fünf Gedichtbände, die allgemein als seine ,experimentelle‘ Lyrik betrachtet werden. Der Begriff ,experimentell‘ sollte hier nicht im Sinne wissenschaftlicher Experimente oder Versuche verstanden werden, sondern so, wie ihn die experimentellen Maler in ihrem Manifest definierten: eine Lyrik, die so unmittelbar wie möglich aus der ,experience‘ hervorgeht, der Lebenserfahrung, ohne Filter formaler oder ethischer Art. Den Höhepunkt dieser Periode bildet der Band De Oostakkerse gedichten aus dem Jahr 1955, der noch immer als Meilenstein in der Geschichte der niederländischen Poesie gilt. Die Gedichte aus jener Zeit faszinieren vor allem durch ihre stark anti-rationale Vitalität. Sexualität, Freiheitsdrang und Rebellion sind die wichtigsten Motive. In einer Sturzflut emotional geladener, assoziativ miteinander verknüpfter Bilder kommen sie zum Ausdruck. Die erste Strophe des Gedichts „Ich schreib dich nieder“ zeigt gut, worum es Claus geht, aber auch, wie problematisch sein Streben ist:

Meine Frau, mein heidnischer Altar,
Den ich mit Fingern aus Licht bespiele und streichle
Mein junger Wald, den ich durchwintere,
Mein nervenkrankes, unkeusches und zärtliches Zeichen,
Ich schreib deinen Atem und deinen Körper nieder
auf liniertem Notenpapier.

Wie die meisten seiner experimentellen Zeitgenossen will Claus den vollen Reichtum des Erlebensmomentes in Sprache umsetzen. Dabei stößt er jedoch an die Grenzen der Sprache, die nur geeignet ist, das Allgemeine, nicht aber das Spezifische und Einmalige wiederzugeben. Das linierte, ordnende Notenpapier kontrastiert in starkem Maße mit der Lebensfülle des ,dein Atem und dein Körper‘.
Der Traum eines fast rein animalischen Lebensdranges erweist sich als unhaltbar. Bereits in De Oostakkerse gedichten, die ja der Höhepunkt dieser Phase sind, gerät das rein Instinktmäßige mit den Gesetzen des Bewußtseins und der Zeit, oft verkörpert durch einen Dompteur, einen unbarmherzigen Vater oder das anonyme ,man‘, in Konflikt:

Man zählt und einer nach dem andern
Treten die Tage in den Käfig.

Mit der Veränderung des Bewußtseins beginnen auch Kultur und Tradition eine immer wichtigere Rolle in Claus’ Lyrik zu spielen. Daran mußten sich seine Leser erst einmal gewöhnen. Wie schockierend und verwirrend seine frühe Lyrik auch gewesen sein mochte, gerade durch ihre bildhafte Direktheit hatte sie eine stark emotionale Wirkung und war in hohem Grade wiedererkennbar geworden. Die zahlreichen, zuweilen nur mit Mühe zurückzuverfolgenden Verweise auf das kulturelle Erbe, die seit den sechziger Jahren eine Rolle spielen, waren deshalb anfangs nur schwer einzuordnen. Sie entsprachen nicht dem Image des jungen Rebellen. Die Folge davon war, daß nicht wenige Leser, die gerade mit dem Vitalen und Rebellischen des jungen Claus sympathisierten, sich von seinem späteren Werk abwandten, das zwar weniger direkt, jedoch um so reicher und komplexer geworden ist. Nahezu das gesamte Werk von Hugo Claus, in allen Genres, ist eine spielerische und intelligente Mischung von Entlehnungen und Verweisen mit persönlicher Lyrik. Hinzu kommt, daß Claus als unersättlicher und undisziplinierter Leser sein Material den unterschiedlichsten Quellen entnimmt. Alles findet, nebeneinander und durcheinander, seinen Platz: Vegetationsmythen, antike Mythologie, mystische Literatur, vergessene Volksromane aus vergangenen Jahrhunderten, volkstümliche Witze, Rubriken aus populären Frauenmagazinen und TV-Soaps. Diese Mixtur aus heterogenem Material gibt seiner Lyrik seit den sechziger Jahren eine große Komplexität und Vielschichtigkeit, auch wenn diese bei einer ersten Lektüre oftmals hinter dem Anschein eines direkten Bekenntnisses verborgen bleibt. Mit dieser Verschiebung von Intuition zu Intellekt und dadurch auch von Assoziation zu Konstruktion verschwindet gerade dieser persönlich bekennende Aspekt seiner Lyrik in den Hintergrund. Eher allgemeine, existentielle und mythische – zuweilen auch gesellschaftskritische – Themen treten nun mehr hervor. Schließlich gibt es noch einen anderen Faktor, der Claus’ Lyrik seit 1960 so verwirrend machte und sowohl bei seinen Lesern als auch bei seinen Kritikern zuweilen ein Gefühl des Unbehagens weckte. Zu Anfang erwähnte ich bereits, daß Claus nicht nur in allen Genres zu Hause ist, sondern sich innerhalb der verschiedenen Genres auch unterschiedlicher Stile bedient. Das gilt vielleicht noch am meisten für seine Lyrik. Er verfaßte sowohl dreizeilige Epigramme als auch lange, durchkomponierte Zyklen und epische Gedichte, lyrische Bekenntnisse und Gelegenheitsverse, politische Satiren und mythologische Phantasien. Er schreibt Gedichte in einer volkstümlichen Umgangssprache wie auch gelehrte dichterische Traktate, er verfaßt freie Verse und Sonette, Knittelverse und Elegien. Nicht nur von Buch zu Buch, sondern auch innerhalb eines Bandes und sogar innerhalb eines Gedichts kann der Ton vom Erhabenen zum Trivialen wechseln. Ein schönes Beispiel dafür ist die Schlußstrophe des Gedichts „Der Tod seines Ahnen“, ein Fragment aus dem Band Heer Everzwijn (1970), der von den Geschicken des Herzogs Jan III. von Brabant aus dem 14. Jahrhundert handelt. Die Strophe beginnt in einem getragenen und metaphorischen Ton, der schon bald in alltägliche Banalität umschlägt:

Zeit der Erde, die nun in ihm gärt.
Zeit der Jahreszeiten. Schnell einen Krug Bier.
Der Vorfahren viele – und alle enterbt.

Diesen sehr komplexen, auf mittelalterlichen Reimchroniken und anderen Quellen basierenden Gedichtband Heer Euerzwijn ließ Claus übrigens fast gleichzeitig mit Van horen zeggen erscheinen, einem Band, der in nahezu jeder Hinsicht dessen vollkommenes Gegenteil ist. Er umfaßt sehr direkte, auf das aktuelle Geschehen bezogene, realistische Gedichte mit stark politisch-kritischem Einschlag. Verse, die sowohl das Ideal von Fidel Castros Kuba als auch die Kleinbürgerlichkeit Flanderns zum Thema haben:

Dieses Volk, das, so wird behauptet
sich zwischen zwei Polen bewegt,
dem Fetten und dem Frommen,
glaubt weniger ans Jenseits
als an seine tägliche Gerstengrütze.

In den 70er und 80er Jahren wurde die Zersplitterung und Fragmentierung von Claus’ literarischem Schaffen zum herrschenden Prinzip. Ohne Unterschied publizierte er hermetische Lyriksammlungen, Almanachverse und erotische Kleingedichte. Mehr und mehr begannen sogar seine treuen Leser zu glauben, daß der Dichter nur noch von seinem phänomenalen fachmännischen Können zehrte, seine wirkliche kreative Energie jedoch gänzlich auf das Theater und den Roman richtete. Im nachhinein betrachtet erweist sich dieses Urteil als eine Verkennung dessen, was vielleicht ja den Kern von Claus’ Selbstverständnis ausmacht: die völlige Verachtung von Hierarchien, auch jene literarischer Formen und Genres, und von festgefügten Erwartungen. Wie auch immer, im Jahr 1988 überraschte er alle mit dem Band Sonnetten. Tatsächlich eine Überraschung: von Claus hatten wir inzwischen schon alles gesehen, doch Sonette, das war eigentlich undenkbar. Das Sonett war ja der Prototyp all dessen, was Claus und seine experimentellen Freunde in ihrer Jugend verworfen hatten: Tradition, Konvention und literarische Bürgerlichkeit. Wer nun jedoch glaubte, daraus ableiten zu dürfen, der Rebell sei bekehrt und in den Schafstall der Tradition zurückgekehrt, wo Ordnung und Klarheit herrschen, hatte sich gewaltig getäuscht. Schon bald zeigte sich, daß es hier um sehr freie Bearbeitungen und Transformationen von Sonetten Shakespeares ging. Wie Claus hier mit seinen Quellentexten umgegangen ist, charakterisiert in hohem Maße sein ganzes Werk. Ohne jede Ehrfucht oder Hemmung ordnet und interpretiert er die stark platonisch gefärbte Bildwelt Shakespeares neu, aktualisiert und trivialisiert. Die erhabene Darstellung der Geliebten ersetzt er durch das sehr irdische Verlangen nach einer vergänglichen Frau. Bezeichnend für sein dichterisches Vorgehen ist z.B. das vierzehnte Sonett. Es handelt sich dabei um eine Montage aus zwei Shakespeare-Sonetten, in denen der Dichter seine Geliebte bittet, nicht zu trauern, wenn er tot sein wird. Die Welt würde ja doch nur über diesen Kummer lachen. Er sieht sich selbst als so unbedeutend, daß es töricht wäre, wenn sie nach seinem Tod noch an ihn dächte. Diese tragische und ein wenig makabre Atmosphäre Shakespeares ersetzt Claus durch einen ungezwungenen, relativierenden Ton, noch unterstützt durch auffällige Binnenreime der Anfangsverse [die in die deutsche Übersetzung leider nicht hinüberzuretten sind; die Übersetzerin]:

Wenn dann der Kupfertopf mit der Asche
dessen was ich war verstreut wird
über das geduldige Gras
ach Liebste, reiß dich dann zusammen

Noch stärker ist die Transformation jedoch in den Schlußversen. Bei Shakespeare klingt alles äußerst ernsthaft und voller Selbstmitleid:

For I am shamed by that which I bring forth,
And so should you, to love things nothing worth.

Daraus macht Claus, trivialer, relativierender und heiterer, doch sicherlich nicht weniger echt:

Und lach mich aus, so wie ich war, denk an
mein Schnarchen im Filmpalast
und an die Unterhose, die stets rutschte,

den debilen Witz und den plumpen Gang
Mal um Mal wenn ich zu dir kam
und deine jetzt warme Fülle nahm.

Mit Sonnetten setzt eine neue und vorläufig letzte Blüteperiode ein. Höhepunkte darin und im gesamten Œuvre von Claus sind zweifellos die Bände De Sporen (1993) und Wreed geluk (1999). Es sind Lyriksammlungen, in denen der Dichter alle Errungenschaften, alle Widersprüche und alle Stile, die er sich in einem halben Jahrhundert zu eigen gemacht hat, miteinander kombiniert, aneinanderprallen läßt, ohne eine Einheit oder Synthese anzustreben. Eine der schönsten Charakterisierungen dieser Lyrik stammt von seinem jüngeren Kollegen Herman de Coninck, als dieser schrieb, Claus bereite ein köstliches Gericht aus Trüffeln und Pferdeäpfeln.
Mehr und mehr blickt der ältere Dichter auf sein Leben zurück, zieht die Bilanz seines ungeregelten Lebens und seines verwirrenden Dichtertums. Dabei schont er sich selbst nicht, auch nicht seine früheren Lyrik-Auffassungen. In Gedichten wie „Vijftiger“ und „Cobra“ rechnet er mit viel Selbstironie mit dem Kult des Kindlichen, Naiven und Spontanen aus den fünfziger Jahren ab:

In jener Zeit sagte man über eine Frau
sie sei wie ein Strauch.
Dazu habe ich nun weniger Lust.

Der goldene Schnitt wurde verachtet,
Symmetrie war Verrat, Wissen Ballast
und allerorts tauchten in zittrigem Geschmier
entdoppelte Linie, Gnome auf
die krähend zusammenstießen.

Vielleicht war es ja eine schöne Zeit, die zahlreiche neue Möglichkeiten eröffnete, aber sie konnte nicht andauern, Spontaneität wurde schon bald ein neuer Manierismus:

Bis zu viel Vieh graste,
zu viele Mongoloide brüllten
zu viele Prognathen mit den Zähnen malten.

Ist das Fazit dieser Entwicklung nun die Niederlage? Hat die Welt sich den kindlichen Rebellen einverleibt? Sicherlich, aber doch nicht ganz. Grimmig, gelassen und hartnäckig endet das Gedicht „Cobra“.

Man malte weiter Vogelscheuchen
auf dem ansonsten verlassenen Spielplatz

Vielleicht sagt das auch etwas darüber aus, was in dieser ,Alterslyrik‘ geschieht. Ein Dichter um die 65 spielt hartnäckig und gegen besseres Wissen auf dem verlassenen Spielplatz sein einsames Spiel weiter, während die braven Kinder in ihren Bänken sitzen und folgsam zuhören. Ohne die Naivität der Jugend, jedoch mit noch größerer Verbissenheit, wendet er sich weiterhin gegen alles, was die Freiheit und Autonomie des kreativen Menschen bedroht:

Gegen die Balance
gegen die Scholastik und die Richtung
gegen die besseren Ansichten die besten Konzepte
gegen die Herz- und Gefäßleiden der Metaphysik.

Gegen alles, was beschränkt, eindämmt, gegen Übersicht, Ordnung und Synthese, gegen den guten Geschmack, aber auch für manche Dinge, für das, was durcheinanderbringt, befreit und verstört:

Für wenig. Für das Nächtliche
für die Verstörung
für das unbändige Lachen
für die Furche im Lehm, die auf uns wartet
Hör die Hunde kläffen.

Auch in dem jüngsten Band, Wreed geluk, ist alles gegenwärtig, was Clans’ Lyrik so eigen und ungreifbar macht: Virtuosität, Zitate und Anspielungen, Transparenz und Hermetismus, Bekenntnis und Maskerade, Witze und Possen, Schlichtheit und Arroganz, Verletzlichkeit und Ironie. Man findet prächtige Metaphern, enthüllende oder mitreißende Bilder, aber auch Reimerei und Rederijker-Bravour. Das erste Gedicht, „Worüber sprechen“, ist bereits charakteristisch für den älteren Claus und seine vieldeutige Beziehung zu seinem Land, seiner Zeit, dem Dasein. Was soll man schon sagen, fragt er sich, in so einem Land:

Dieses Land mit seiner komischen Genesis,
seinem klammen Klima, seinen morschen Geschichten
von früher,
seinen Bewohnern, raffgierig bis zu ihrem letzten Fall
zwischen die Blumenkohlköpfe.

Was soll man schon sagen in einem Land und einer Zeit, die ebenso schlapp und voraussagbar sind wie die Alliterationen, mit denen er sie heraufbeschwört? Nichts, außer ein paar „festlichen Federn im Hintern“, „einem Lied im Keller“. Gegen diese ganze Beschränktheit, gegen den Unsinn, aber auch gegen die Absurdität des Daseins selbst gibt es nur eine Möglichkeit des Widerstandes, die gleiche, der wir bereits in dem Sonett begegnet sind, wo der Dichter sich vorstellte, daß der Kupfertopf mit seiner Asche verstreut würde, der Kult des Augenblicks der Liebe:

Und schon beginnt vom reinen Sprechen
dein Partyhütchen schwer zu wiegen
und die Lebenslinie in deiner Hand
zu vereitern,
doch, dennoch, nichtsdestotrotz
die Blüte verehren
der Schatten, die uns bevölkern,
der Schatten, die um Trost betteln.
Und dennoch ihr Schulterblatt streicheln.
Wie den Rücken eines Buckligen.
Dennoch spitz auf ein grausames Glück.

In abwechselnd gelehrten und spielerischen Gedichten ist es immer wieder diese Sicht, die in den Gedichten von Claus durchklingt: Das einzige, das der Mühe wert ist, ist das lebendige Leben, nicht der Gedanke, nicht die Philosophie, nicht die Hoffnung, nicht der Glaube, nur die Liebe, von Augenblick zu Augenblick. In einigen Versen ruft er sogar den Leser unzweideutig auf, sein Dasein selbst in die Hand zu nehmen, ohne auf die Gesetze zu achten, die für jeden Traum ihren Preis fordern. Den Schicksalsgöttinnen, die den Menschen ermahnen, an das Höhere zu glauben, weist er die Tür:

Ach, vergiß es, Schicksalsgöttin,
für dein Liedchen bin ich taub.
Ich hör am liebsten den Gesang
einer Antwerpener Seejungfrau.

Die gleiche Abneigung gegen das Strukturierte und Stromlinienförmige, gegen die Unterwürfigkeit gegenüber jedwedem System spricht auf andere Weise aus dem Zyklus „Ein Affe in Ephesos“, in dem der Dichter über Heraklit, den Philosophen aus Ephesos, alle Ansprüche der Philosophie zurückweist:

Philosophen in ihrem philosophischen Hemd
mit ihrem immanent und ihrem transzendent
möchte ich in Brand stecken.

Nur das Zimmer und der Rauch
und du mit den Pfauenfedern und mir.

Der Mensch, halb Affe und halb Gott, wird in diesen Gedichten beschimpft und lächerlich gemacht, doch nicht nur mit Spott, sondern auch mit Mitgefühl betrachtet. Seine Ambitionen, zu begreifen, was das Leben ist, sein grundloser Stolz, sein Selbstbewußtsein, sie erscheinen in diesen Gedichten als jämmerlich, lächerlich, ärgerlich und rührend zugleich. Im letzten Gedicht des Zyklus führt er darum den Bonobo vor, einen Menschenaffen, der auf seine Sympathie zählen kann, solange seine Seele ebenso einfältig „wie die der Menschen“ ist. Dann kann er „Traurige trösten, / Verletzungen verzeihen. Seine Gedanken / sind zu Mitgefühl imstande“. Doch dann geht es schief, mit einer Anspielung auf das ewige Auf und Ab, das Entstehen und Vergehen bei Heraklit und auf die transzendenten Aspirationen der Religionen und der Philosophie:

Aber dann erfindet er die Leiter
und er klettert die Leiter hinauf und hinab
und tötet seine Jungen.

Worin liegt nun, letztendlich, die Kraft der Poesie von Hugo Claus? Was hält alles beisammen? Nicht die Tiefe der Gedanken, nicht die außergewöhnlich verfeinerte Wahrnehmung oder das delikate Gefühlsleben, nicht einmal die konsequente Entscheidung für die Freiheit – seine Sprachkraft ist es, die alles andere erst ermöglicht. In De Oostakkerse gedichten aus dem Jahr 1955 schrieb er einen Vers, der gleichsam den Kern dieser Ästhetik ausmacht:

Worte öffnen die Betrachtung wie Messer die Haut.

Die Sprache, kreativ, überraschend und mit einem tiefen intuitiven Verständnis benutzt, schneidet das Beschauliche, das Abstrakte auf und läßt es bluten, verletzt es, um das Leben, das sich darunter befindet, wieder spürbar zu machen. So benutzt Claus seine Sprache: als gnadenloser Heiler.

Hugo Brems, Nachwort

 

 

Hugo Claus

blickt nicht nur auf ein großes Roman- und Dramenwerk zurück, er war von den Anfängen schon immer auch Lyriker. Endlich sind Claus’ Gedichte in einer repräsentativen Auswahl auch auf deutsch zu lesen.
Das Echo auf diese Gedichte ist im Niederländischen immer sehr stark gewesen, und faßt man die Einschätzungen zusammen, so ist ein rebellischer Vitalismus wohl das Hauptmerkmal dieser Poesie, der zugleich eine große thematische und formale Vielfalt zugeschrieben wird. Die literarische Moderne, Eliot und Pound, die Mythen der europäischen Tradition – das ist das Material dieser Gedichte. Der vorliegende Band, der die Texte nebeneinander in der Originalfassung und der Übertragung präsentiert, ist eine Auswahl aus dem lyrischen Œuvre von Claus, mit dem Autor zusammen getroffen. Ein kenntnisreiches Nachwort gibt einen Überblick über die Entwicklung der Claus’schen Lyrik und ihre Bedeutung in der niederländischen Gegenwartsliteratur.

Klett-Cotta, Ankündigung

 

 

Trüffel und Pferdeäpfel

Der über siebzigjährige Hugo Claus ist ein Autor von mehr als hundert Büchern. Aber eins davon hängt ihm an wie Günter Grass die Blechtrommel. Es ist dies Het verdriet van België, Der Kummer von Flandern – ein Schelmenroman über die deutsche Okkupation. An dieser Fixierung auf den einen Geniestreich haben einige weitere erfolgreiche Romane – zuletzt Bella Donna und Das Stillschweigen – nichts zu ändern vermocht. Was nicht heißen muss, dass Claus, der ewige Nobelpreiskandidat, in Stockholm nicht doch noch zum Zuge kommt.
Seit seinem Debüt mit achtzehn Jahren wirft Hugo Claus vulkanisch Feuer, Lava und Asche aus. Er tut das als ein furioses Multitalent auf allen erdenklichen Gebieten: als Autor von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken, als Übersetzer von Seneca und Shakespeare, von Georg Büchner und Noël Coward. Claus ließ sich durch Artaud faszinieren und gehörte der Künstlergruppe Cobra an. Also malt und zeichnet er. Er macht Filme und inszeniert seine eigenen Stücke. Und das alles im Wechsel der Stile und Möglichkeiten und mit dem Vorsatz, das nächste Mal das Gegenteil des eben Gemachten zu versuchen. Ein Experimentator aus Temperament, nicht aus System. Die Register, die er zieht, scheinen unendlich, aber oft auch verwirrend.
Registreren lautet 1947 der Titel von Claus’ Erstling, einem Band mit Gedichten. Wie bei Grass ist bei Claus die Lyrik der Quellpunkt seiner Inspiration. Dort erprobt er seine Themen und Motive. Dem Poeten ist dabei der Selbstausdruck seiner Vitalität wichtiger als die Vollendung der Form. Er ist Experimentierer, Selbstsucher und Selbstversucher, nicht Artist. Der Schub der Einfälle muss es bringen, nicht die Arbeit an Strophe und Vers. Wenn Claus auch seine Register wechselte und 1988 mit Sonetten überraschte – man darf das Bekenntnis ernst nehmen, das er in einem seiner späten Gedichte macht:

Zu stark zittert meine Hand. Ich will meine Literatur
nicht vervollkommnen.

Das Zittern der Hand ist Koketterie, aber die Perhorreszierung der Perfektion mehr als bloß die Bedingung einer rastlosen Produktion. Hinter ihr stehen tiefere Motive. Am schlüssigsten kommen sie in einem Text aus seinen Unfrommen Gebeten zum Ausdruck. Dort lässt der Dichter Hekate sprechen, die hilfreiche und unheimliche Göttin, die Herrin von Zauberei und nächtlichem Unwesen:

Allein im Unvollkommenen
ich voll und dick.
Schönheit ist kein Gleichgewicht.

Diese Komponente grundiert alles, was Hugo Claus an Materialien zusammenbringt, ja zusammenrührt. Dass reicht von Vegetationsmythen zu sexuellen Kraftausdrücken, von Rekursen auf Volksromane zu Anspielungen auf populäre Seifenopern. Claus porträtiert Rubens und Rembrandt ebenso wie Lumumba, Italo Calvino oder eine anonyme Rundfunksprecherin. Er schreibt „Randgedichte“ zu Dantes Inferno und liefert „Fünf Polaroidaufnahmen von Jesus Christus“. Er möchte „Philosophen in ihrem philosophischen Hemd“ in Brand stecken, doch wenn er sich in dem Zyklus, aus dem ich zitiere, als „Affe in Ephesus“ geriert, dann ist er selber Philosoph, einer aus der Schule Epikurs. Ob Claus, der Büchner übersetzt hat und ihm in einem seiner Gedichte huldigt, in Dantons Sinn als gröberer oder feinerer Epikureer gelten soll, ist Sache des Lesers. Ist Sache auch der Auswahl.
Der zweisprachige Sammelband Gedichte, mit Übertragungen von Maria Csollány und Waltraud Hüsmert, ist immerhin der zweite Versuch, den Lyriker Claus im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Voraus ging Die Spuren, ein schmaler bibliophiler Band mit Gedichten und Zeichnungen (Kleinheinrich, Münster 1994). Dort lernte man einen harmonischen, fast klassisch beruhigten Hugo Claus kennen: Sei es, weil die Auswahl auf den Dichter selbst zurückging. Sei es, weil man eine Handvoll Sonette las, was für den späten Claus nicht ohne Bedeutung ist.
Auf diese Sonette, die sehr freie Transformationen von Sonetten Shakespeares sind, bezieht sich Hugo Brems in seinem informativen Nachwort zur neuen Sammelausgabe. Er belegt etwa, dass das vierzehnte der Claus’schen Sonette eine Montage zweier Shakespeare-Sonette ist und zugleich die trivialisierende Umkehrung ihrer Tendenz. Freilich findet sich das hier angesprochene und partiell zitierte Gedicht nicht im Textteil, wohl aber in der Auswahl bei Kleinheinrich. Auch zitiert Brems gelegentlich aus Gedichten, die deutsch überhaupt noch nicht in Buchform erschienen sind. Was man, wenn man will, als Bereicherung des Bandes auffassen kann.
Die beiden Übersetzerinnen, die ja nur durch Auswahl und Qualität des Übersetzten argumentieren können, setzen offenbar auf ein Gesamtbild, das auch den frühen, den ungebärdigen, kraftgenialen, den von Cobra beeinflussten Claus angemessen berücksichtigt. Von den Sonetten nehmen sie nur ein einziges auf. Brems wiederum zitiert, gleichsam gegenläufig, die Revokationen des alten Poeten, die selbstironisch mit dem Kult des Infantilen und Spontanen abrechnen. Das Gedicht „Cobra“ endet mit den Zeilen:

Man malte weiter Vogelscheuchen
auf dem ansonsten verlassenen Spielplatz.

Das lyrische Werk von Hugo Claus ist also facettenreich genug, um solche Akzentuierungen nahe zu legen. Die Übersetzerinnen waren klug beraten, formal anspruchsvolle oder wegen des Reimzwangs heikle Stücke auszuschließen. Hugo Claus, der selbst eher lässig ist, gibt ihnen ein gewisses Recht dazu. Schade dennoch, dass mancher wunderbare Reim doch verloren geht. So wird in „Genesis 1,1“ aus

en zocht in zijn hoorbare rede
naar een constructie voor roede en schede

das blass-korrekte:

Und suchte in seiner hörbaren Rede
nach einer Konstruktion für Rute und Scheide.

Hier, im Schöpfungsakt, müssten sich auch die Dinge reimen.
Auch gibt es Stellen, die sich allzu nah ans Wörtliche halten, was wegen der vexierenden Nähe der beiden Sprachen problematisch ist. Warum heißt es „fragmentäres Gewicht“ oder „Papier ist duldsam“ statt geduldig? Diese Bemerkungen sollen das Verdienst dieser ersten umfassenden Präsentation des Dichters nicht schmälern. Sie ist eine interessante Mischung, eine Satura im klassischen Sinn. Etwas drastisch hat das ein jüngerer Dichterkollege von Hugo Claus ausgedrückt: Herman de Coninck schrieb, Claus bereite uns ein köstliches Gericht aus Trüffeln und Pferdeäpfeln. Guten Appetit. Freilich wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Auf dem Teller lassen sich die einzelnen Bestandteile trennen. Anders als einem Restaurantbesucher sieht dem Leser dabei niemand zu.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.3.2000

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin Waltraud Hüsmert
Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin Maria Csollány

 

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Nachrufe auf Hugo Claus: Deutschlandfunk ✝︎ Tagesspiegel 12 ✝︎ Welt

 

Hugo Claus in seinen eigenen Worten – Die Version Claus.

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