NUR NOCH EIN JAHR
Meine Freunde, die Überlebenden unter euch genügen mir, noch ein Jahr zu leben
nur noch ein Jahr.
Ein Jahr genügt mir,
daß ich hundert Frauen liebe
und tausend Städte,
ein einziges Jahr genügt mir, daß ich der Idee die Gestalt einer Lilie verleihe
und daß irgendein Land irgendein Mädchen bewohnt,
mit dem ich zu irgendeinem Meer aufbrechen werde,
wo es mir auf seinen Knien
den Schlüssel geben wird zu allen Orten.
Ein einziges Jahr genügt mir, daß ich mein ganzes Leben
lebe auf einen einzigen Schlag,
in einem einzigen Kuß,
in einem einzigen Schuß,
der alle meine Fragen abschafft
und auch das Rätsel der Verwirrung der Zeiten.
Meine Freunde, sterbt nicht, wie ihr zu sterben pflegtet.
Ich bitte euch, sterbt nicht,
wartet noch ein Jahr auf mich,
nur noch ein Jahr.
Vielleicht könnten wir ein begonnenes Gespräch beenden
oder eine begonnene Reise.
Vielleicht könnten wir die Ideen vertauschen mit einem Spaziergang auf der Straße.
Frei von Uhr und Fahnen.
Haben wir jemandem verraten,
daß wir jeden Spatzen ein Land nennen
und jedes Land außerhalb der Wunde einen Schaum
und uns vor dem Summen fürchten?
Vielleicht könnten wir die Sprache schützen
vor einem Sinn, den wir nicht beabsichtigt hatten,
und einer Hymne, die wir nicht sangen
für die Priester.
Meine Freunde, meine Märtyrer, die ihr steht auf meinem Bett,
auf der Taille eines Mädchens, das ich noch nicht gekostet habe,
auf dessen Beinen ich mein Gebet noch nicht erhoben habe
zum Gott des Jasmins.
Geht ein wenig weg von mir,
denn wir haben ein Recht,
den Kaffee mit Zucker zu verkosten und nicht mit Blut,
die Stimme unserer Hände die weinenden Rebhühner zu uns heranziehen zu hören
und nicht das Hinstürzen der Pferde.
Und wir haben ein Recht, die Arterien zu zählen,
die kochen vom Sturm überkommender Lüste.
Und wir haben ein Recht, dem Flaum zu danken,
der den milchweißen Bauch überzieht,
und den Rhythmus der religiösen Gesänge zu brechen.
Meine Freunde, meine Märtyrer,
sterbt nicht, bevor ihr euch entschuldigt bei einer Rose
und Ländern, die ihr nicht gesehen habt,
und Ländern, die ihr nicht besucht habt,
und euch entschuldigt bei einer Lust, die ihr nicht erreicht habt,
und bei Frauen, die an eure Hälse nicht die Ikonen des Meeres hängten
und die Tätowierung des Minaretts.
Sterbt nicht, bevor wir fragen, was die auf Erden Überlebenden nicht fragen werden:
Warum ähnelt die Erde einer Quitte?
Warum ähnelt die Frau dem, dem die Erde nicht ähnelt?
Warum ähnelt sie den Versagungen der Liebenden
und einem Fluß aus Nelken,
und warum haben sie mich erkannt,
gerade als ich starb?
Warum haben sie mich verleugnet,
als ich lebend von der Reise zurückkam?
O Gott, meine Leiche hat auf mich gezeigt
und hat sie zu mir zurückgebracht.
Wie einen Kamin haben sie sie unter sich errichtet.
Meine Freunde, meine Märtyrer,
denkt ein wenig an mich
und liebt mich ein wenig.
Sterbt nicht, wie ihr zu sterben pflegtet.
Ich bitte euch, sterbt nicht,
wartet auf mich noch ein Jahr,
nur noch ein Jahr.
Sterbt jetzt nicht, verlaßt mich nicht.
Liebt mich, damit wir dieses Glas trinken,
damit wir erkennen, daß die weiße Welle keine Frau ist
oder eine Insel.
Was tue ich nach euch?
Was tue ich nach den letzten Begräbnissen?
Warum sollt ich das Land lieben, das die Betenden bedeckt
und das Minarett erhöht?
Zu wem sollte ich Samstag abends gehen?
Wer würde mein Herz den Katzen öffnen?
Für wen werde ich diesen sauren Mond über dem Mittelmeer loben?
Und zu wem trage ich die Dinge der zauberhaften Frauen, die vorübergehen?
Und wem lasse ich diese tägliche Langeweile?
Was bedeutet mein Leben,
wenn mein eigener Schatten mich an die Mauer meines Schattens lehnt,
wenn ihr gegangen seid?
Wer wird mich zu mir bringen und mich überzeugen, bei mir zu bleiben?
Sterbt nicht, ich beschwöre euch, wie ihr zu sterben pflegtet.
Zieht mich nicht weg vom Apfel namens Weib zum Buch der Trauer
und den Ritualen der süchtigen Tränen.
Mein Herz gehört mir nicht, daß ich es zu euch würfe wie einen Gruß.
Mein Körper gehört mir nicht, daß ich einen neuen Sarg machen könnte oder ein Testament.
Meine Stimme gehört mir nicht, daß ich diese auf einem Gewehr erhobene Straße
überqueren könnte.
Habt also Mitleid mit mir, meine Freunde, habt Mitleid mit der Mutter der
Freudentriller, die einen neuen Triller sucht für die Geburt eines Spiegels
aus den Bombensplittern.
Habt Mitleid mit den Arbeitern in der „Karmel“-Druckerei,
mit den Wänden, wenn sie sich sehnen nach Gras,
mit den Schriftstellern in den Nachrufen.
Habt Mitleid mit einem Volk, dem wir den Zugang zur Rose durch die Tür
der bitteren Asche versprochen haben.
Geht jetzt nicht wie der Dichter, der im Hut des Zauberers verschwindet.
Wer wird die Rose der Märtyrer pflücken?
Wartet meine Freunde, und habt Mitleid mit uns,
denn wir haben anderes zu tun als ein Grab zu suchen und ein Trauergedicht,
das sich vom vorhergehenden unterscheidet.
Wie klein sind diese Rosen,
wie groß ist dieses Blut.
Wie schön seid ihr, meine Freunde,
wenn ihr die Erde vergewaltigt inmitten des Wunders der Schöpfung
oder die Quelle in den Felsen der möglichen Abhänge entdeckt.
Meine Freunde, die Überlebenden unter euch genügen mir, noch ein Jahr zu leben,
nur noch ein Jahr.
Ein Jahr genügt mir, daß wir miteinander spazieren gehen,
daß wir den Fluß um unsere Schultern werfen wie die Zigeuner,
daß wir gemeinsam den noch verbliebenen Tempel zerstören
Stein um Stein
und die Seele zurückholen aus ihrem Exil,
wenn wir miteinander fortgehen,
wenn wir einen kleinen Streik ausrufen
bei der Anbetung der Bilder.
Und wenn ihr jetzt von mir geht, meine Freunde,
um den Nebel des Schädels zu bewohnen,
werde ich euch nicht rufen und kein Trauergedicht auf euch verfassen,
kein einziges Wort werde ich über euch schreiben,
denn ich kann jetzt über niemanden Trauergedichte verfassen.
Über Heimat in einem Körper
oder einen Körper in einem Schuß
oder einen Arbeiter in der Fabrik des vereinigten Todes,
über niemanden,
niemanden.
Diese Hymne soll
der Abschluß der Tränen über euch alle sein, meine verratenen Freunde,
und ein vorbereitetes Trauergedicht auf euch alle.
Also
sterbt nicht, meine Freunde, sterbt nicht jetzt.
Es gibt keine Rose, die teurer wäre als Blut in dieser Wüste.
Ihr habt keine Zeit.
Tanzt hier jetzt nicht.
Tanzt nicht, es gibt keine
unabhängigen Sklaven
oder versklavte Unabhängige.
Also
sterbt nicht, wie ihr zu sterben pflegtet.
Ich bitte euch, sterbt nicht,
wartet noch ein Jahr auf mich,
nur noch ein Jahr.
Die Überlebenden unter euch genügen mir, noch ein Jahr zu leben,
ein Jahr genügt mir,
daß ich hundert Frauen liebe
und tausend Städte.
Ein Jahr genügt, daß ich zu meiner traurigen Mutter gehe
und sie anrufe:
Gebäre mich von neuem,
daß ich die Rose von ihrem Anfang an sehe
und die Liebe von ihrem Anfang an liebe
bis zum Ende der Hymne.
Ein Jahr genügt mir, daß ich mein ganzes Leben
lebe auf einen einzigen Schlag,
in einem einzigen Kuß,
in einem einzigen Schuß,
der alle meine Fragen abschafft,
nur noch ein Jahr,
nur noch ein Jahr,
ein Jahr…
Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš
Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).
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