10. IWAN, DER BERGMANN
Iwan der Bergmann, bricht schwersten Stein.
Die Metaphysik der Hades-Tiefen
Ist ihm wie keinem anderen vertraut,
Ob ober- oder unterhalb des Horizonts –
Dies spielt hier keine Rolle. In der Tiefe
Ist er das Wesen, das am klarsten denkt.
Doch über Tage sieht es anders aus.
Fettbäuchige Regierer zahlen
Kein Geld für die getane Arbeit.
Iwan macht weiter – wohl aus Gewohnheit,
Nach Tradition, sich seinem Schicksal beugend,
Mag auch sein: aus purem Anstand.
Iwan macht weiter, er ist wie ein Schaf,
Jedoch erbost über die Hirten.
Ist es erneut soweit? Wie hieß es mal im Westen?
Friede – den Hütten, Krieg – den Palästen?
Ilia Kitup, geboren 1964 in Vilnius, Litauen, ist Künstler, Dichter, Comicautor, Musiker und Herausgeber. Seit 1998 lebt er in Berlin. Er studierte russische Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität Moskau und ist seit Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre auf der künstlerischen und poetischen Szene aktiv. Er nahm an mehreren Gruppenausstellungen Moskauer und internationaler Künstler teil, unter anderem im Rahmen der Tätigkeit der Künstlergalerie Трёхпрудный переулок, einer inzwischen legendär gewordenen Institution in der Geschichte der modernen russischen Kunst (vgl. Djogot 1999, Kulik 2005). Im Rahmen von Einzelausstellungen wurden Ilia Kitups Werke (Malerei, Zeichnungen, Linolschnitte u.a.) in Moskau, Berlin und anderen Städten präsentiert. Im künstlerischen Schaffen von Ilia Kitup treten Text und Bild in eine vibrierende, befruchtende Beziehung miteinander.
In diesem Sinne setzt seine Kunst gewissermaßen die Tradition des Moskauer Konzeptualismus der 70er und 80er Jahre fort, der sich durch seine Text-orientiertheit und Textbezogenheit auszeichnete und zu dessen Vertretern nicht nur visuelle Künstler, sondern auch Dichter und Schriftsteller, wie z.B. Dmitri A. Prigov und Vladimir Sorokin, zählten (vgl. Kovalev 2006). Auf die Interaktion von Text und Bild und die Überschneidung der Themen im visuellen und dichterischen Schaffen des Autors wird im Weiteren noch eingegangen werden.
Seit 1991 betreibt Ilia Kitup den eigenen Verlag Propeller, in dem er Gedichtbände, Prosawerke, Zeitschriften etc. herausbringt. Zu den Veröffentlichungen gehört auch die Reihe „Kitup’s Own PROPELLER Comics“, eine der ersten Comiczeitschriften in Russland, die seit 1993 existiert und inzwischen über 20 Hefte zählt. Zu den Autoren, deren Werke bei Propeller Verlag erschienen sind, gehören neben Ilia Kitup selbst solche Dichter und Schriftsteller wie Arkadij Bartov, Babi Badalov, Alex Galper, Fridolin Ganter, Salah Yousif, Wolfgang Fehse, Lassi Hyvärinen, Priit Ruttas u.a. Viele Veröffentlichungen stellen zweisprachige Ausgaben dar, in denen neben den Originaltexten in Russisch, Finnisch, Estnisch, Arabisch deren Übersetzungen ins Deutsche oder Englische publiziert werden.
Der Gedichtband 1998 und der Skopos der Übersetzung
Die Gedichtreihe 1998 umfasst 11 kurze Gedichte, die während und unter dem Eindruck der Bundestagskampagne aus dem titelgebenden Jahr entstanden sind. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Künstler erst seit kurzem in Deutschland und ließ sich von den frisch gewonnenen Eindrücken, dem eigenen Vorwissen und den in Russland verbreiteten Stereotypen über Deutsche und Deutschland inspirieren. Sein Vorgehen ist dabei nicht dokumentalistisch, im Gegenteil, es handelt sich um Verallgemeinerung und Typisierung als künstlerisches Verfahren. Kitup beschreibt gern Typen, dieser Zyklus im Rahmen des Projekts „Neue Proletarische Kunst“ ist ein gutes Beispiel dafür. Die typisierten Gestalten, unter denen auch ein Roboter und eine Meerkatze zu finden sind, werden prägnant und bildlich beschrieben, mit einer etwas höhnischen und zugleich naiven Tonalität, die jedoch niemals in Zynismus übergeht. Vielmehr nimmt der Autor die Position eines Außenstehenden ein, eines Wissenschaftlers, der eine ihm unbekannte und erst zu erforschende Erscheinung unter die Lupe nimmt, mit großer Sorgfalt und Liebe fürs Detail. Die Naivität und der etwas kindliche Blick erzeugen dabei einen komischen Effekt und verleihen der dichterischen Herangehensweise eine kindliche Unmittelbarkeit, sodass ernsthafte, komplexe Themen aus der Gesellschaft und Politik ihrer „Komplexität“ beraubt und mit der Direktheit eines Kindes hinterfragt werden. Der Kunstgriff des „kindlichen“ Blicks wird von Ilia Kitup nicht nur in der Dichtung verwendet: Die scheinbare Einfachheit seiner Bilder birgt eine filigran verdeckte Mehrdeutigkeit und wirft Fragen auf, die alles andere als unverfänglich sind (vgl. Rudyk 2007). Das, was auf den ersten Blick als ein naives Kinderspiel erscheint, „entfaltet eine ungeheure Kraft“, denn „gerade in einem solchen Infantilismus nahm auch die große russische Avantgarde-Kunst ihren Anfang“ (Kovalev 2006).
Der „naive“ Blick verstärkt den Kontrast zwischen der Leichtigkeit des Stils und der Ernsthaftigkeit der angesprochenen Themen, welche, obwohl in Deutschland des Jahres 1998 verortet, einen durchaus epischen und allgemeingültigen Charakter haben. Der rote Faden, der sich durch den ganzen Band durchzieht, ist das Thema des Proletariats in allen möglichen Bereichen und deren Hierarchien. Ein Beispiel hierfür ist folgendes Gedicht, das einen „Proletarier des Extremismus“ beschreibt:
Детлеф, слесарь
А это – Детлеф, слесарь. Он – фашист.
Он сильно ненавидит иностранцев.
И DVU, в которой состоит он,
Его сие стремленье разделяет.
Он Гитлера читает по ночам,
Генона, Чемберлена, оккультистов.
Правительство, известно, бздит фашистов,
Поэтому и Детлеф на свободе.
Он тоже пролетарий – экстремизма,
А как ещё поднять адреналин?
Detlef, der Schlosser
Und das ist Detlef: Schlosser, Neonazi.
Den Ausländern gilt sein ganzer Hass.
Er ist Parteimitglied der DVU,
Deren Gesinnung er vollkommen teilt.
Nachts liest er Hitler, Chamberlain und Okkultisten,
René Guénon gehört zu der Lektüre.
Da die Regierung Schiss vor Nazis hat,
Ist unser Detlef noch auf freiem Fuße.
Ein Proletarier er – des Extremismus.
Wie kommt man sonst auf sein Adrenalin?
(Kitup 2017: 16–17)
Natalia Maximova, aus Natalia Maximova: Weg vom Wort und zurück zu ihm: Erkenntnisse aus der eigenen Erfahrung als Übersetzerin der Gedichte von Alex Galper und Ilia Kitup“, 2017
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