„DIE VÖGEL BEGINNEN ZU SINGEN, WENN ES NOCH FINSTER IST“
– Auszug aus einem Gespräch mit Ilse Aichinger im Anschluß an eine Neueinspielung des Hörspiels Die Schwestern Jouet. –
Manuel Esser: Das Hörspiel Die Schwestern Jouet handelt von der Erschaffung und Gestaltung der Welt aus Wörtern und Begriffen. Rosalie erfindet sich Menschen, Tiere und seltsame Geschehnisse. Auch eine Giraffe, ein mißratenes, Rosalie lieb gewordenes Wesen, bewohnt diese ihre Welt. Können Sie mehr erzählen von der Giraffe: der Rücken ist zu kurz, die Beine stimmen nicht…
Ilse Aichinger: Ich habe eine Zuneigung zu den Alten, Schwachen und etwas Mißglückten. Und Giraffen sehen ja auch von Natur aus etwas mißglückt aus. Ich mag sie sehr. Ich habe nur noch Schweine lieber. Und Elefanten. Ich verbinde mit ihnen dieses Ausgeliefertsein, dieses Nicht-Stimmen, das man sogar bei stimmenden Giraffen manchmal sehen kann. Irgendwas ist da daneben geraten, was ja dem Lieben Gott ziemlich oft passiert. Aber bei der Giraffe ist es eben sehr schön daneben geraten.
Esser: Gibt es eine Erinnerung an die Zeit von 1967, als dieses Hörspiel von Ihnen geschrieben wurde?
Aichinger: Es tauchen Bilder auf. Ich war einmal kurz in Afrika, und dieses Hörspiel hat mit dieser Reise zu tun.
Esser: Stimmen sind ein Bereich, der für Sie sehr wichtig ist. Es ist kein Zufall, daß Sie auch für den Hörfunk geschrieben haben?
Aichinger: Der Hörfunk läßt die Worte bei sich selber oder bringt sie zu sich selber, nicht wie die Television, die alles ins Bild übersetzt, gut oder schlecht. Aber das ist hier nicht die Frage, sondern daß aus den Worten das Bild entsteht. Daß die Worte das Primäre sind und dann ganz aus sich heraus das Bild entstehen lassen. Das ist deshalb nicht weniger visuell, sogar visueller, glaube ich, weil die Phantasie genug Platz hat.
Esser: In welchem Raum entstehen diese Stimmen?
Aichinger: Sie tauchen einfach auf. Als mir der erste Satz von den Schwestern Jouet einfiel – „Was hat Rosalie gesagt?“ – wußte ich noch nicht einmal, wie die anderen heißen, oder zu wem sie das gesagt hat, oder wer gesagt hat „Was hat Rosalie gesagt?“, sondern es setzte sich dann in der Sprache fort bei der Arbeit.
Esser: Würden Sie heute ein anderes Medium wählen?
Aichinger: Ich glaube nicht. Ich würde es genauso hinschreiben, selbst wenn es kein Medium dafür gäbe.
Esser: Was bedeutet der Raum, in dem diese Stimmen leben? Ist er eine Art Heimat?
Aichinger: Ja, ein dichteres Hervorholen des Gewesenen, das dann wieder heutig wird. Die Figuren sind mir wieder sehr nahe und helfen mir.
Esser: Welche Bedeutung hatte das Hörspiel in den 50er, 60er Jahren?
Aichinger: Die war äußerlich viel größer. In den Zeitungen wurden oft ziemlich ausführlich Hörspiele besprochen. Die Leute haben sich darüber unterhalten wie heute über das Fernsehen. Es ist jetzt etwas zurückgewichen, aber man sagt, es kommt wieder.
Esser: Sind Sie traurig über diese Veränderung?
Aichinger: Eigentlich nicht. Es hindert mich nicht.
Esser: Ich würde gern nochmals zurückkehren zu der Hohlweggasse, Kleistgasse, Fasangasse in Wien, dorthin, wo Sie aufgewachsen sind. Haben Sie sie diese Gassen besucht in der Zwischenzeit?
Aichinger: Ich hab sie nach dem Krieg besucht. Da aber das Haus durch eine Brandbombe getroffen war, bin ich nicht bis in die Küche gekommen, man durfte nicht weiter. Ich bin schon in das Stockwerk gelangt, wo meine Großmutter gewohnt hat. Wir haben noch die Tapeten gesehen in der alten Wohnung und den Abriß von dem Ofen also seine Silhouette. Das war schon viel wert.
Esser: Waren Sie in den letzten Jahren noch einmal dort?
Aichinger: In den letzten Jahren nicht. Immer nur, wenn man über den Rennweg fährt – dort fährt man nämlich entweder auf dem Weg zum Flugplatz oder zum Friedhof, das fällt zusammen in Wien – dann schaue ich hinüber. Dann sehe ich immer das Haus.Und ich sehe auch immer den Bahnhof, in dem meine Großmutter deportiert worden ist. Und die Züge, die ich immer gezählt habe, die Waggons. In einem von ihnen war sie dann auch drinnen.
Esser: Können Sie von den letzten Tagen zusammen mit Ihrer Großmutter berichten?
Aichinger: Da war sie krank. Es war der 12. Mai, an dem sie deportiert wurde. Ich hatte von einem Ordner erfahren, daß die Gegend, in der sie wohnte, ein Massenquartier, im Augenblick gefährlich sei. Und ich bin hingegangen und habe gesagt, sie sollen alle zu meiner Mutter und mir kommen. Wie ich aber am Mittag nach Hause gekommen bin, war in unserer Wohnung niemand. Ich bin in die Wohnung meiner Großmutter gelaufen; da waren sie alle. Dann habe ich gefragt, ob sie alle verrückt geworden sind nach allem, was ich ihnen gesagt habe. Meine Mutter hat gesagt: „Die Mama hat Lungenentzündung und ich kann sie ja nicht aus dem Bett zerren.“ Dann bin ich wieder weg. Und wie ich um fünf wieder hingekommen bin, war alles schon vorbei. Da hatten sie sie schon geholt und weggeführt. Das Lager, in dem zuerst alle gesammelt wurden, war über den Brücken im früheren Ghetto, eine ehemalige Schule; es ist jetzt auch wieder eine Schule. Und da mußte man in den Lastwagen, in denen sie dann abtransportiert wurden, endgültig, über eine Brücke fahren. Dort bin ich gestanden und habe sie gesehen, mit einem Kopftuch. Und irgend jemand hat gerufen, schau, hier ist die Ilse. Aber sie hat sich nicht umgedreht.
Esser: Sie waren selbst auch bedroht, ähnlich wie Ihre Großmutter?
Aichinger: Man wußte von einem Tag zum andern nicht, wie es weitergeht. Meine Mutter war geschützt durch mich, weil mein Vater nicht jüdisch war. Aber dieser Schutz war so aufhebbar wie eine Feder. Aber wir hatten keine Angst damals. Die ist erst viel später gekommen, als alles vorbei war. Ich dachte immer, wenn die Männer die Mutter holen, gehe ich mit. Wie durch ein Wunder haben sie meine Mutter nicht geholt und mich auch nicht. Wir sind also noch einmal davongekommen, wie es bei Thornton Wilder heißt. Aber nicht ganz, man ist das nie los, dieses Gefühl, daß die andern weg mußten und man zurückgeblieben ist.
Esser: Wie war der Tag der Befreiung für Sie? Was war mit der Angst, die vorher da war?
Aichinger: Die ist noch nicht gleich zurückgekommen. Damals war es nur eine leichte Enttäuschung, daß die Befreiung nicht schöner war. Es war so absurd. Und für uns sind die Russen ja wirklich als Befreier gekommen. Aber es war im Krieg, und sie haben nicht gefragt, wer auf welcher Seite im Krieg war. Es waren schon fürchterliche Dinge, die sich da abgespielt haben. Wir dachten, Monate später, wir können unsere Großmutter wieder holen. Und erst als uns klar geworden ist, daß davon keine Rede sein kann, ist die Angst gekommen und hat uns eigentlich überwältigt für eine gewisse Zeit.
Esser: Wie fühlt sich diese Angst heute an?
Aichinger: Sie ist unauslotbarer geworden, unrationalisierbarer.
Esser: Sie haben sich einmal als Mischling bezeichnet –
Aichinger: Wenn man zum Beispiel Lebensmittelkarten holen mußte, stand auf den normalen nichts, auf den jüdischen ein großes J, und da war auch fast nichts drauf. Und auf meiner stand ein E, so rot und groß. Das hat sich mir sehr eingeprägt. Und die Rolle, die man hier auf der Welt überhaupt als Mensch spielt, hat etwas von diesem Mischlingsdasein an sich. Deswegen hat es mir nichts gemacht, daß ich ein Mischling war.
Esser: Sie hatten einen Vater, kann ich das so sagen, der sehr in Bücher verliebt war?
Aichinger: Mein Vater hatte eine große Leidenschaft zu Büchern und konnte mit ihnen nicht fertig werden. Meine Mutter war städtische Ärztin, hatte also auch eine Stellung. Aber es hat alles nicht gereicht für die Unsummen, die er für Bücher ausgegeben hat. Man hat auch gar keinen Platz mehr gehabt, so daß meine Mutter eines Tages meinem Vater sagen mußte: also entweder die Kinder und ich oder die Bücher. Da hat er sich ganz rasch, wenn auch nicht ohne Schmerz, für die Bücher entschieden.
Esser: Sie haben aber später Ihren Vater wiedergesehen?
Aichinger: Ja, immer wieder.
Esser: Wie kam es zu dem Roman Die größere Hoffnung?
Aichinger: Ich wollte zuerst nur einen Bericht schreiben darüber, wie es wirklich war. Das ist dabei herausgekommen, aber doch auf eine ganz andere Weise, als ich es mir vorgestellt habe. Und wie ich damit fertig war, war ich ins Schreiben geraten.
Esser: Mögen Sie den Roman heute?
Aichinger: Ja, ich würde ihn natürlich nie mehr so schreiben. Aber ich möchte auch nichts davon zurücknehmen.
Esser: In welchem Rahmen spielte sich Ihr Debut als Schriftstellerin ab? Gab es Freundschaften, Zirkel?
Aichinger: Es gab den Hans Weigel, der sich damals sehr der jungen Autoren angenommen hat, auch meiner. Er hat das Manuskript, ohne daß ich es wußte, den Fischers gebracht, als sie in Wien waren. Dadurch bin ich zum Fischer Verlag gekommen. Es gab in Wien durch Hans Weigel verschiedene andere Kreise und Freunde, unter anderem auch die Ingeborg Bachmann. Mit ihr war ich noch lange sehr befreundet, nur die letzte Zeit nicht mehr.
Esser: Was waren die Gründe dafür?
Aichinger: Ich weiß nicht. Ihre Freunde. Es war so fremd für mich, diese Welt, in der sie sich bewegt hat.
Esser: Wie kamen Sie zur Gruppe 47?
Aichinger: Ich habe damals bei Inge Scholl, Schwester der Geschwister Scholl, die in Ulm eine Volkshochschule und später eine Hochschule für Gestaltung gegründet hat, gearbeitet. Da hat eines Tages Hans Werner Richter einen Vortrag gehalten und hat mich eingeladen. Ich wollte gar nicht. Aber Inge Scholl hat mir zugeredet und gesagt, du siehst ein Stück von Deutschland, die zahlen dir die Reise, fahr mal hin.
Esser: Wie war es, vor dieser Gruppe zu lesen?
Aichinger: Mir ist es eher komisch vorgekommen. Die Komik war ja überhaupt das Beste an der Gruppe 47 und hat mich bewogen, immer wieder hinzufahren. Und wie sie oft gegen sich selbst ausgesucht hat. Es war wirklich ein Phänomen. Das ist das, was der Hans Werner Richter und sonst niemand hat hervorbringen können.
Esser: 1977 war die letzte, symbolische Tagung der Gruppe 47. Da haben Sie neben wenigen anderen auch etwas gelesen. Was war der Grund dazu?
Aichinger: Das ist so unerfindlich wie alles, was der Hans Werner Richter getan hat.
Esser: Auf einer der Tagungen haben Sie auch Günter Eich kennengelernt. Wie hat das Ihr Leben verändert?
Aichinger: Total. Aber nur zum Guten. Ich dachte bei der zweiten Tagung, auf der ich war: ich weiß nicht, aber diesmal ist es nicht so schön wie das letzte Mal. Wahrscheinlich nur Zufall. Irgend etwas fehlt. Und dann habe ich plötzlich den Günter Eich den Strand entlanggehen sehen und da wußte ich, was gefehlt hat. Und von da ging alles sehr rasch.
Esser: Wie waren dann die ersten gemeinsamen Jahre?
Aichinger: Sie waren sehr überdeckt durch die Kinder; durch das, was sich einfach ergibt, wenn man eine Familie gründet. Wir haben dann jeder ein Hörspiel geschrieben an ein und demselben Tisch in einem Bauernhaus. Und das war eigentlich sehr schön. Wir hatten nicht einmal das Geld für die nächsten Zigaretten. Aber es ist sich dann doch immer wieder ausgegangen, merkwürdigerweise.
Esser: 1963 zogen Sie dann nach Großgmain in das Haus, das eine große Bedeutung bekommen hat für sie beide.
Aichinger: Ja. Wir haben immerhin 21 Jahre dort gelebt, und mein Mann ist dort auch krank geworden. Es ist ja fast ein Menschenalter, wenn man 21 Jahre in einem Haus lebt. Mein Mann hat immer gesagt, er wohnt nicht so gern in einem Schlößchen, er zieht lieber in eine Mönchszelle.
Esser: In Wien waren die Friedhöfe für Sie sehr wichtig, die für Sie vieles ersetzt haben, auch ersetzen mußten –
Aichinger: Es war offiziell den Juden und jüdisch Versippten, wie das so schon geheißen hat, verboten, sich auf Bänke und in Parks zu setzen, in den Wiener Wald zu gehen, das engere Stadtzentrum zu verlassen. Mein Großvater liegt auf dem jüdischen Friedhof. Da sind wir oft hingegangen zu seinem Grab. Das war so ein merkwürdiger Picknickort, aber doch ein sehr überzeugender. Und so viel Hoffnung, wie ich dort gehabt habe, habe ich in meinem Leben sonst selten gehabt.
Esser: Haben Sie sich wohlgefühlt dort, in diesen „Totenreichen“?
Aichinger: Ja, manchmal mehr als in den lebendigen Reichen.
Esser: In der Wiener Schule „Sacré-Cœur“ fragte ich nach Ihnen; Sie hatten diese Schule besucht. Man verleugnete Sie dort zunächst, bis nach einer halben Stunde Gespräch doch zugegeben wurde, daß Sie diese Schule besucht hatten.
Aichinger: Das liegt zum Teil an der Zeit, die ja doch seither vergangen ist. Zum Teil vielleicht auch daran, daß ich mich einmal geweigert habe, etwas über das „Sacré-Cœur“ zu schreiben, das hat seine Gründe gehabt. Aber es war trotzdem ein sehr großer Zauberort und ein sehr zentraler Kindheitsort. Und daß ich jetzt nicht dort gewesen sein soll, das überzeugt mich noch mehr davon.
Esser: Fast scheint es, als wären Sie bemüht, möglichst keine Spuren zu hinterlassen?
Aichinger: Das hat mein Mann geschrieben: „Nur keine Spuren hinterlassen“.
Esser: Gilt dieser Satz auch für Sie?
Aichinger: Ich hoffe.
Esser: Oder wäre es wichtig, Spuren zu hinterlassen?
Aichinger: Nein, wenn man keine hinterläßt, hinterläßt man sie.
Esser: Wie läuft das ab, wenn Sie eine Geschichte beginnen?
Aichinger: Ein Satz, von dem ich das Gefühl habe, daß er weiterführt. Es fallen einem auch genug ein, die nicht weiterführen.
Esser: Was geschieht mit denen?
Aichinger: Ad acta!
Esser: Was regt Sie vor allem an, etwas zu schreiben?
Aichinger: Es sind meistens Orte. Ich bin wahnsinnig mit Orten konfrontiert, sie können mich zur Verzweiflung bringen und wegzerren von mir selbst; aber sie können mich auch eben dorthin bringen, wo ich unbedingt hin möchte.
Esser: Es gibt auch viele Häuser, zu denen Sie einen starken Bezug haben. Welchen Ort würden Sie zuerst aufsuchen in einem Haus?
Aichinger: Die Küche. Als nächstes vielleicht, wo ich schlafe.
Esser: Wie ist es mit den Speichern, den Kellern?
Aichinger: Die sind sehr wichtig. Aber die kommen ohnehin von selbst auf einen zu.
Esser: In der Erzählung „Wo ich wohne“ geht es darum, daß eine Person in einem Mietshaus Etage für Etage langsam immer tiefer wandert.
Aichinger: Das ist die Geschichte einer alten Wiener Wohnung, in der ich viele Jahre gewohnt habe und in der sich für mich eigentlich die Geschichte auch erfüllt hat – so, daß man zum Schluß ganz im Keller ist.
Esser: Können Sie das erläutern?
Aichinger: Ich fürchte, nein. Meine Schwester hat nur einmal gesagt: das Unheimliche an Häusern ist nicht, wie viele fälschlich annehmen, ihre Vergangenheit, sondern ihre Zukunft.
Esser: Und als Sie im Keller angelangt waren?
Aichinger: Also normalerweise steigt man ja aus Kellern wieder heraus, obwohl ich nicht weiß, ob es immer richtig ist.
Esser: In Ihren Texten kommen Dinge vor, die ich umschreiben möchte mit Bedrohung, Angst, auch Verunsicherung. Woher kommen diese Dinge?
Aichinger: Sie kommen wahrscheinlich von sehr tief. Und ich glaube, sie kommen von vielen Generationen her. Die Angst kommt von der Verfolgung. Abgesehen davon, daß sie schon ein Urphänomen aller Menschen ist, kommt sie doch in speziellen Fällen von Erlebnissen her, die sich weitergeben. Aus den Ghettos. Man soll die Angst nicht unterbewerten, denn sie bewirkt vieles. Sie kann auch Gutes bewirken. Aber auch viele Mißverständnisse und immer neue Ängste, die sich immer weiter selbst zur Welt bringen. Man muß versuchen, damit fertig zu werden. Aber das ist vielleicht überhaupt die Aufgabe in diesem Leben.
Esser: Wodurch setzt sie sich fort über die Zeit?
Aichinger: Ich weiß nicht; ich habe von ganz niederen Tierarten gehört, die immer im selben Licht herumschwirren, um ihr Futter zu bekommen, obwohl das Futter nicht mehr dort ist. So kann ich mir vorstellen, daß auch die Angst bei den höheren Tierarten sich fortpflanzt.
Esser: Im Hörspiel Knöpfe gibt es ein Geräusch hinter der Wand. Was bedeutet es?
Aichinger: Es taucht immer auf, wenn das Phänomen der Verwandlung sich vollzieht: die Verwandlung in etwas Unvorstellbares; in etwas, das nicht mehr wechseln kann, nicht mehr leben kann, in Knöpfe eben.
Esser: Hilft es, dies zu beschreiben?
Aichinger: Ja, das kann erlösend sein.
Esser: In „Meine Sprache und ich“ sprechen Sie sehr nah von Ihrer Sprache.
Aichinger: Meine Sprache ist etwas, was ich fast persönlich nehme, weil sie so auf mich gestoßen ist, mich aus allen Berufs- und Zukunfts- und sonstigen Plänen verdrängt hat und mir eigentlich nur die Wahl gelassen hat, sie anzunehmen oder nicht. Inzwischen bin ich ihr dankbar geworden und langsam nimmt dieses Gefühl zu.
Esser: Welche Eigenheiten hat sie?
Aichinger: Nicht auf Wünsche einzugehen. Und genau zu sein. In einer Art, die ich mit Definieren bezeichnen würde, wenn Definieren nicht schon zu sehr definiert wäre. Aber ich habe Schreiben immer als Definieren empfunden, das heißt: ohne Auslassung zu sagen was eine Sache ist.
Esser: Und Ihre Sprache ist immer da, bei Ihnen?
Aichinger: Sie läßt mich absacken, wo sie kann. Sie kommt nur dann wenn ich sie gerade nicht brauchen kann.
Esser: Eine widerborstige Sprache, die mich an ein willensstarkes Kind erinnert.
Aichinger: Ja, das ist ein guter Vergleich.
Esser: Wie ist es heute? Arbeiten Sie mit der Sprache?
Aichinger: Ja, oder sie mit mir.
Esser: Müssen Sie auf sie warten? Ist Schreiben schwieriger geworden?
Aichinger: Doch, oft. Es ist eine ungeheure Umwandlung im Gange. Es ist alles viel ungenauer geworden. Und da das Schreiben auf Definition und Genauigkeit beruht, wird das immer schwerer. Es ist eine ungeheuer unscharfe Zeit geworden. Es ist auch eine weniger naive Zeit als zum Beispiel die 50er Jahre. Vielleicht weil weniger auf bestimmte Hoffnungen gründet.
Esser: Die Geschichte „Herodes“ gehört sicher zu den Geschichten mit den eigensten Farben. Wie ist sie entstanden?
Aichinger: Wie jede meiner Geschichten: mit dem ersten Satz. Und dem zweiten und dritten und vierten Satz, wo man immer vorsichtiger werden muß, weil man merkt: das ist schon Schicksal, diese Sätze. Ich habe manchmal zu meinem Mann gesagt, ich weiß nicht, was der Herodes in dieser Voralpenlandschaft soll, er irrt immer im grünen Schlafrock über so halb mit Schnee bedeckte Hügel und er gehört ja eigentlich in die Wüste und zwischen Palmen, Königspaläste. Und dann hat sich diese Geschichte geneigt. Aber ich wußte nicht ob es der Herodes ist, von dem jeder Mensch weiß, oder nicht. Dann ist mein Mann für kurze Zeit nach Spanien gefahren. In Frankreich hat er in einem Hotel einen Prospekt gefunden von einem romanischen Kirchgang. Am nächsten Tag ist er dahin gefahren, und der alte Mönch, der ihn herumgeführt hat, sagte abschließend: Und außerdem ist das hier der Ort wo Herodes mit seiner Frau verbannt war und gestorben ist. Und es war genau diese Voralpenlandschaft, die ich geschildert habe.
Esser: Das erfuhren Sie erst, nachdem die Geschichte bereits fertig war?
Aichinger: Ja, lange danach. Und das hat mir sehr zu denken gegeben.
Esser: Kinder spielen eine sehr große Rolle in Ihrem Werk – das Kind, das erst durch den Tod zum freien Spiel, zur Freiheit, gelangt. Was bedeuten für Sie Kind und Spiel?
Aichinger: Die Höhepunkte der Existenz. Deshalb halte ich den Verlust der Kindheit für einen viel größeren Verlust als das normale Altern. Das hat alles seine Schwierigkeiten und Tragiken. Aber der Verlust der Kindheit ist damit nicht zu vergleichen. Weil das Spielen und die Kindheit die Welt erträglich machen und sie überhaupt begründen. Wahrscheinlich tauchen deshalb so viele Kinder bei mir auf: weil es ohne sie unerträglich wäre.
Esser: Was bedeutet dann das Altern?
Aichinger: Es ist ein geringerer Verlust.
Esser: Wenn Sie zurückblicken: rundet sich für Sie etwas?
Aichinger: Zurück zur Kindheit rundet sichs.
Esser: Wie empfinden Sie die heutige Zeit, die 80er Jahre?
Aichinger: Ich habe mich vor den 80er Jahren immer gefürchtet. Die 70er waren noch so gemütlich dagegen. Die 80er Jahre sind eine schwierige, schon von der Zahl her bedrohliche Zeit, kommt mir vor. Aber da kann man sich ja irren. Aber sie sind schon eine besonders hervorgehobene Zeit und ich werde froh sein, wenn es auf die 90er zugeht.
Esser: Ist heute diese Bedrohung, die in Ihren Texten spürbar wird, näher gerückt?
Aichinger: Nein, diese erste Bedrohung ist eine andere Bedrohung. Es ist eine viel schwerere Bedrohung an ihre Stelle getreten. Die Bedrohung der Auflösung, was man jeden Tagen sehen kann.
Esser: Was ist Ihre größte Angst für die Zukunft?
Aichinger: Daß die Jugend keine Hoffnungen mehr hat.
Esser: Und Ihre Hoffnung?
Aichinger: Daß die Jugend Hoffnung hat.
Esser: In Ihren Geschichten spielt der Tod eine große Rolle: als ein Akt der Befreiung, ein Akt hin zum Leben-Können.
Aichinger: Ja, ich fürchte mich nicht davor. Das Weggehen der anderen ist die viel größere Furcht als das eigene. Ich hoffe, die Weggegangenen helfen mir. Aber das ist eine Hoffnung.
Esser: Sie haben geschrieben, daß es möglich ist, die Toten ein zweites Mal sterben zu lassen, wenn man sich nicht ihrer erinnert.
Aichinger: Der Satz ist nicht vollständig. Denn unsere Erinnerung genügt nicht; die Toten müssen sich an uns erinnern, darauf kommt es an. Wir erinnern uns natürlich auch an die Toten, aber es muß ein Gegenspiel sein.
Esser: Und wenn das nicht geschieht?
Aichinger: Da muß man den Mut haben, sich ins unbetretene Gebiet zu begeben.
Esser: Was bedeutet für Sie „Schweigen“?
Aichinger: Das Schweigen gehört für mich zum Wichtigsten auf der Welt, weil es nicht etwas Leeres, sondern etwas Erfülltes ist. Es hängt eng mit dem Tod zusammen, mit einem erfüllten Tod. Es hat auch mit dem Schreiben sehr viel zu tun. Jeder Satz, den man schreibt, muß durch ungeheuer viel ungeschriebene Sätze gedeckt sein, weil er sonst gar nicht dasteht.
(Das Gespräch wurde 1986 in Frankfurt und Stuttgart anläßlich eines Fernsehporträts geführt. Mit Ilse Aichinger sprach Manuel Esser. Textredaktion: Samuel Moser.)
aus Ilse Aichinger – Materialien zu Leben und Werk, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990
Einleitung
– Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen
– Ilse Aichinger: Rede an die Jugend
I Begegnungen mit Ilse Aichinger
– Ilse Aichinger: Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist
– Heinz F. Schafroth: Gespräche mit Ilse Aichinger
– Hermann Vinke: Sich nicht anpassen lassen
– Luzia Stettler: „Stummheit immer wieder in Schweigen zu übersetzen, das ist die Aufgabe des Schreibens“
– Manuel Esser: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“
II Bildteil
– Einundzwanzig Fotos
III Gesamtdarstellungen
– Werner Weber: Ilse Aichinger
– Karl Krolow: Laudatio zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises 1971
– Elisabeth Endres: Ilse Aichinger
IV Originalbeiträge
– Ilma Rakusa: Die Fremdsprache der Ilse Aichinger
– Hanna Johansen: … aber das ist wohl nicht möglich. Beim Lesen von Ilse Aichinger
– Peter Horst Neumann: Fünf Zeilen Prosa. Ein Gedicht von Ilse Aichinger
– Richard Reichensperger: Orte, Untergänge. Zu Ilse Aichingers Gedicht „Außer Landes“
V Rezensionen
Über „Die größere Hoffnung“ (1948)
– „Die größere Hoffnung“ (schr.)
– Friedrich Sieburg: „Die größere Hoffnung“
– Walter Maria Guggenheimer: Das Feuer hat Hunger
– Karl August Horst: In extremis
– Walter Jens: Ilse Aichingers erster Roman
– Peter Härtling: Ein Buch, das geduldig auf uns wartet
– Joachim Kaiser: Freundschaftlicher WiderspruchÜber „Der Gefesselte“ (1953)
– Christoph Rahmer: Ilse Aichingers „Poesie“
– Erfassung des Unfaßbaren? (wm.)Über „Zu keiner Stunde“ (1957)
– Hans Egon Holthusen: Im Rücken des Todes
– Günter Blöcker: Zwischen Andersen und KafkaÜber „Wo ich wohne“ (1963)
Wolfgang Monecke: Auf grünem Grund
Jürgen P. Wallmann: „Wo ich wohne“Über „Eliza Eliza“ (1965)
– Wolfgang Hildesheimer: Der Querbalken
– Rainer Lübbren: Die Sprache der Bilder
– Heinz Piontek: Über die Poesie in Ilse Aichingers Prosa
– Elisabeth Endres: „Eliza Eliza“
– Hans Bender: Magie einer ungewohnten Stimme
– Christine Brückner: „Eliza Eliza“Über „Auckland“ (1969)
– Heinz F. Schafroth: Spiele zum HineinfallenÜber „schlechte Wörter“ (1976)
– Samuel Moser: Da flog das Wort auf
– Wolfgang Weyrauch: Entsetzen und Verzweiflung
– Heinz Ludwig Arnold: „schlechte Wörter“
– Peter Horst Neumann: Genauigkeit im Ungewissen
– Heinz Politzer: Ilse Aichingers todernste Ironien
– Jürgen Becker: An den Rändern der Existenz
– Elsbeth Pulver: Genaue Ahnungen
– Lilly Spring: „Queens“
– Klaus Hoffer: Die RäuberinÜber „verschenkter Rat“ (1978)
– Gisela Lindemann: Poetische Phantasie
– Michael Krüger: Morgenröte unter Schnee
– Heinz F. Schafroth: Gedichte vom Überleben um keinen Preis
– Hilde Spiel: Eh die Träume rosten und brechen
– Erich Fried: Über Gedichte Ilse AichingersÜber „Kleist, Moos, Fasane“ (1987)
– Elsbeth Pulver: Die äußerste Bedrängnis – die äußerste Geborgenheit
– Joachim Kaiser: Wunder-Worte
– Peter Horst Neumann: Ein anderer Fleiß ist das Warten
– Urs Bugmann: Schreibendes Wiederbeleben der Kindertage
VI Anhang
– Vita Ilse Aichingers
– Preise
– Bibliographie der Werke Ilse Aichingers
– Ausgewählte Sekundärbibliographie (mit Quellennachweisen)
– Danksagung
Schnee fällt nicht Knall auf Fall, sondern langsam, d.h. nach und nach, will sagen flockenweise zur Erde.
Robert Walser
Ilse Aichingers Bedeutung ist unbestritten. Aber es ist still um sie. Sie ist die große Außenseiterin der deutschen Literatur. Sie gehört keiner Schule an. Schule zu machen hat sie längst aufgehört. Frühe Erzählungen sind in die Schulbücher eingegangen und haben eine Flut von Interpretationshilfen ausgelöst. Wer die Literaturverzeichnisse durchgeht, wird aber auch bemerken, wie bald schon Aichinger-Texte nicht mehr in Sammlungen aufgenommen wurden. Texte, deren Leser auch lernen mußten, ohne Lesehilfen auszukommen. „Sie hat Leser und Zuhörer, die gebannt ihrer Stimme lauschen, doch aus der literarischen Diskussion ist sie ausgeklammert“, schreibt Hans Bender. Ilse Aichinger hat das nie geschadet. Die literarische Debatte aber hätte ihr Einbezug wohl in vielen Fällen komplexer und feiner gemacht. Viele der Aichinger-Kritiken, die im Schatten der „großen“ Ereignisse entstanden sind, gehören zum Subtilsten und Differenziertesten von dem, was Feuilletons bieten.
Als Ilse Aichinger nach dem Krieg zu schreiben begann, hatte sie kaum Erfolg. Die größere Hoffnung war nicht der Kriegsroman, den man erwartet hatte und auf den man gefaßt gewesen wäre. Und natürlich gab es auch die Grobiane, die ihre Rezensionen mit „Prosa für den Psychiater“ betitelten. Gute Gegner hat Ilse Aichinger nie gehabt. Es gab solche, die ihre Mühe mit diesem von Anfang an singulären Werk als Argument gegen dessen Qualität ins Feld zu führen versuchten. Sie sind verstummt oder haben gelernt, Fragen zu stellen. Die Anhänger Ilse Aichingers sind deswegen nicht lauter geworden. Über sie zu schreiben hieß nie triumphieren, sondern erkennen – gerade auch, daß dieses Werk keine Anhänger und schon gar keine lauten will. Zu konsequent ist es gegen jede Form von Gefolgschaft und Einverständnis geschrieben. Zu unüberhörbar ist seine eigene Lautlosigkeit – ein Paradox, das das Schreiben über Ilse Aichinger auch nicht einfacher macht.
Aber durch alle Schwierigkeiten hindurch sprechen Ilse Aichingers Sätze unbeirrbar an, suchen noch im Selbstgespräch den Leser. Ohne um seine Gunst zu betteln. Ilse Aichingers Vorliebe für Hörspiel und Dialog ist nicht zufällig. Sie entspringt ihrer Liebe zu den Stimmen: zum Wort, das aus dem unbekannten, leeren Raum kommt und wieder in ihm verschwindet. Am Anfang war das Wort – warum sollte für die Poesie nicht gelten, was für die Schöpfung gilt; selbst dann, wenn es diese Poesie immer wieder in Widerspruch zu ihr bringt?
Diese Poesie kann zum Schwatzen neigen, zum „Nebenbeisprechen“, zu den Nebensachen. Sie läßt das Wort dem Gedanken vorauseilen. Immer aber ist sie zersetzt und durchsetzt vom Schweigen, aus dem sie erwächst und dem sie sich verdankt: „Um wieder notwendig zu werden, müssen sie die Lautlosigkeit zurückgewinnen, aus der sie notwendig entstanden“, schreibt Ilse Aichinger über die Wörter in ihrem Joseph Conrad-Aufsatz. Unbeschwert und belanglos sind solche Wörter nie. Daß dies für die Leser Folgen hat, ist nicht erstaunlich:
Zu den Autoren, die uns Sekundärliteraten die Zunge lösen, gehört Ilse Aichinger nicht. Wer sich dem Eindruck ihrer Sprache aussetzt, könnte seine Fähigkeit zu geläufigen Sätzen verlieren. (Peter Horst Neumann)
Aichinger-Texte wollen vorab betrachtet und bedacht sein. Was sie sagen, läßt sich anders nicht sagen. Ihrem Gebot des Weglassens oder Nichthinzufügens hat sich auch der Leser zu unterziehen. So bleibt ihm oft nur das Nachsprechen und Meditieren wie in Ilma Rakusas Aichinger-Lexikon mit dem Titel: „Die Fremdsprache der Ilse Aichinger“. Aichinger-Texte produzieren immer neue Texte. Lesen und Schreiben kommen sich unendlich nahe. Ungefährlich ist dies für beide nicht. Die Qualität einer Rezension ist in jedem Fall daran zu messen, inwiefern sie nicht weg-, sondern an das Werk heranzuführen vermag.
Die wenigsten Aichinger-Rezensionen gehen darauf aus, die Texte zu erklären. Die meisten berichten von der Suche nach dem richtigen Umgang mit ihnen; einem Umgang, wie ihn Lebewesen erfordern. „Ein Buch, das geduldig auf uns wartet“ betitelte Peter Härtling sein Nachsinnen über die schwierige Rezeption der Größeren Hoffnung.
Die Kontroverse mit Joachim Kaiser dreißig Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans belegt, daß selbst unter den glühendsten Verehrern Ilse Aichingers keine Einigkeit herrscht. Zu herrschen braucht. Nicht auf Schubladisierung hat die Größere Hoffnung ja gewartet. Alle Versuche, Ilse Aichingers Werk einzuordnen, sagen ohnehin mehr über die Bedürfnisse des Einordners selber aus als über die Texte. Vieles läßt sich auf diesem Gebiet behaupten – und von vielem wieder das Gegenteil. Ein Materialienband über einen Schriftsteller ist ebenso einer über die Literaturkritik, ihre Stärken und ihre Schwächen. Nicht für alle braucht sie sich im Falle Ilse Aichingers zu schämen.
Gewartet hat die Größere Hoffnung auf den distanzierten Leser, der diese ins Untergehen verliebte und das Leben feiernde Prosa nicht nur als Ärgernis, sondern als poetischen Gewinn aufzufassen vermag. Spätere Prosatexte Ilse Aichingers haben noch mehr von diesem „Fleiß des Wartens“ (Neumann) auf eine nicht dem Entschlüsseln und Übertragen verschriebene, sondern dem Konkreten und Wörtlichen verpflichtete Lesart. „Bei Ilse Aichinger gibt es nichts zu deuten“, schreibt Wolfgang Hildesheimer. Daß das Nicht-Deuten die schwierigere Arbeit ist als das Deuten, ist neu und unerwartet. Eine Arbeit, nicht einfach „eine Tätigkeit wie Holzbearbeiten, sondern so etwas wie ins Feuer springen“, wie Ilse Aichinger das Schreiben beschrieben hat. Sie verlangt das Standhalten, den Widerstand gegen alle Fluchtversuche; auch gegen die in „höhere Sphären“, ins Jenseits von Raum und Zeit.
Wenn die Größere Hoffnung anfänglich auch kaum den Durchbruch schaffte, so wird Ilse Aichinger heute doch noch vor allem mit diesem Roman identifiziert. Viele Kritiker beginnen immer wieder mit ihm. Aichinger-Rezensionen haben die Tendenz zum Gesamtporträt. Wer über Aichinger schreibt, kann und will nur wenig voraussetzen bei sich und den anderen. Aber es gibt auch tiefere Gründe: Man möchte den Menschen, der so spricht, dingfest machen. Der autobiographische Roman bietet sich da zuerst an. Die Präsenz der Autorin ist aber auch in der späteren Prosa nicht geringer. Nur ungewöhnlicher. Wer dem Rhythmus ihrer Sprache, dem Wechsel zwischen Sprechen und Schweigen folgt, wird darin das Atmen der Autorin verspüren. Noch die zerklüftetsten Aichinger-Texte erzählen Geschichten. Aber oft durch das, was sie auslassen. Richtig ist allerdings auch, daß Ilse Aichinger die Spuren des Ichs wieder zu verwischen sucht. „Nur zusehen – ohne einen Laut“, dieses Ziel des Schreibens, bedeute nicht, „aus dem Spiel zu bleiben, sondern im Spiel sich selbst aus dem Spiel lassen“, heißt es im Joseph Conrad-Aufsatz. Es gibt kaum ein Werk, in dem das Ich des Autors so ungeschützt und gleichzeitig so im Abseits gehalten ist.
Ein anderer Grund für den Hang zum Gesamten im Schreiben über Ilse Aichinger: Ihre eigene poetologische Position läßt nichts anderes zu, als jeden Text für das Ganze zu nehmen. Jedes Buch, das man schreibe, sei der Versuch, jenes einzige Buch zu schreiben, das man schreiben wolle, sagt sie im Gespräch mit Heinz F. Schafroth. In den Rezensionen des Bandes verschenkter Rat wird es angesprochen: Die Gedichte lassen sich kaum datieren. Eine Entwicklung gibt es kaum. Jedes Gedicht enthält die anderen. Ilse Aichinger hat keine Themen. Sie hat eine Sprache. Und sie hat nur eine Sprache. Die Sprache, der sie mißtraut. „Wir kommen gegen unseren Willen weiter“, heißt es in Meine Sprache und ich. Die eigene Sprache ist eine Fremdsprache. Da läßt sich nichts auseinanderdividieren, in den Gedichten sowenig wie in den Erzählungen. Jede Geschichte Ilse Aichingers ist auch ein poetologischer Text. Und umgekehrt. „Schnee“, das bislang letzte Prosastück, erzählt die Geschichte von jemandem, der auszog, Wörter zu suchen. Es ist Ilse Aichingers eigene Geschichte.
Frühe Erzählungen sind mit den späten Texten dennoch kaum mehr zu vergleichen. Was sich in der Lyrik beobachten läßt, hat für die Prosa nicht immer in dem Maße gegolten. Wenn auch viele Sätze aus der Größeren Hoffnung durchaus in späteren Texten stehen könnten. Dieser Glaube an den Stern, dieses Glühende der aus der Angst herausgeschlagenen Hoffnung ist mit der knappen, deswegen aber nicht weniger folgenreichen Formulierung „Es gibt nicht viele Wörter“ („Schnee“) nicht mehr zu vereinbaren. Die Sätze sind einfacher geworden. Die Zeiten nicht. Wörter sind für die Poetin Aichinger nicht weniger lebensnotwendig als das Visum oder der Stern für Ellen in der Größeren Hoffnung.
„Es gibt nicht viele Wörter“: Eine erschütternde Bilanz und ihre Formulierung hätte deshalb leicht pathetischer ausfallen können. Auch endgültiger. Sie ist aber alles andere als abschließend; kein letztes Wort – eher ein letztes Schweigen. Hier macht sich jemand mit dieser Einsicht erst auf. Mit dieser Einsicht und mit zwei Wörtern, mit zwei Leichtgewichten erst noch, mit „Schnee“ und „Heu“. Das heißt: mit „Schnee“ vor allem, denn „Heu“ ist fast schon wieder zuviel, zu verwertbar. „Schnee“ dagegen bleibt ein Wort. Schnee ist nicht einmal Schnee. Nur noch Robert Walser verstand es, sich sowenig einfallen zu lassen zum Schnee, in dem er schließlich tot liegen blieb. Der Weg, den Ilse Aichinger in frühen Erzählungen vorgezeichnet hat, ist hier kein Programm mehr. Er ist zurückgelegt. Gegen Ende der Spiegelgeschichte standen die Sätze:
Das schwerste bleibt es doch, das Sprechen zu vergessen und das Gehen zu verlernen, hilflos zu stammeln und auf dem Boden zu kriechen…
Zur Auflösung und damit zum Anfang hingeführt hat ein Weg unendlicher Assoziationen und Kompositionen. Die Erschaffung der Welt aus dem Spiel. Vom Hundertsten ins Tausendste und vom Tausendsten zum Einen, Universalen, finden diese Texte ihren Weg wie die Satiren eines Horaz. Mit „Schnee“ beginnt es, und mit Noah endet es. Und dabei ist man nicht einmal vom Anfang weggerückt:
Wenn es zur Zeit der Sintflut geschneit und nicht geregnet hätte, hätte Noah seine selbstsüchtige Arche nichts geholfen.
Eine Definition, die tatsächlich „unterhöhlt“. Und dabei einige Fragen offen läßt; die letzten vor allem, die nach Adam und Eva und die Gottesfrage vielleicht. Es ist ein zorniger und böser Satz, enragiert und sinnlos zugleich. Dem Gelächter preisgegeben. Und das weiß niemand besser als die, die ihn sagt. Darüber kann sie dann lachen. Oder kichern. Ilse Aichinger ist nicht auf schallendes Lachen aus. Ihr Witz ist Vorwitz, eine Mischung aus entwaffnender Respektlosigkeit und „unergründlicher Heiterkeit“ (Die größere Hoffnung). Eine Form der Gewitztheit, der prudence. Ob er speziell den Frauen eigen ist und Ilse Aichinger somit „Frauenliteratur“ schreibe, darf immerhin gefragt werden.
Vorwitzig wagt sich Ilse Aichinger da vor, wo es um die letzten Dinge geht – und macht aus ihnen die vorletzten. Humor ist, wenn man deswegen lacht. Humor als Prüfstein des Ernstes. Er entspringt dem Willen zum Lachen; dem Willen, jedes Pathos zu unterlaufen. Galgenhumor statt Zynismus. Er sucht nicht die Position der Stärke, sondern erklärt die Schwäche zur Position. Er beansprucht nicht das Recht für sich, sondern die Utopie. Aber während das Lachen noch Gründe hat, behält sie das Kichern für sich. Es ist dem Schweigen verwandt; gehört zu den Kindern und zu den Alten, zu den Skeletten am Ende des Hörspiels Gare maritime. Und zu den Zwergen. Zu denen, die noch nicht oder nicht mehr Teil der Realität sind, an die wir uns gewöhnt haben. Ilse Aichingers Humor hat nicht vergessen, daß er mit dem Niedrigen zu tun hat, mit dem Humus, mit Anfang und Ende.
So hat er auch teil an dem, was Ilse Aichinger den Geist nennt, der in unserer Welt weder vorhanden noch völlig abwesend ist. Er gehört zu den „genauen Ahnungen“. Genau, weil die Ahnung nicht etwas betrifft, was man nur ungenau weiß. Der Geist ist unserem Wissen nicht mehr oder noch nicht zugänglich – schwierig für die, die „es“ gerne wissen und die Ilse Aichinger auf einen handgreiflichen Nenner bringen möchten. Für die, die wie Wolfgang Monecke hoffen, der „grüne Esel“ sei am Ende doch nicht grün, sondern hoffnungsvoll grau.
Die Kindheit ist in Ilse Aichingers Werk seit der Größeren Hoffnung mehr als ein Stück Erinnerung. Das Zurückblicken wird zum Blick nach vorn, wird Erinnerung an den Tod. Es führt zur Erkenntnis, daß Anfang und Ende zusammengehören. Ilse Aichingers Grunderfahrung ist die Ambivalenz. Der biblische Imperativ „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ erfordert auch das Erwachsensein. Ilse Aichinger nimmt das Spiel der Kinder in die Pflicht. „Der Schnee“ rufen sie und kassieren dafür scharfe Kritik:
… das ist ungenau. Das führt zu mein Schnee, dein Schnee, unser Schnee, zu diesen vielen besitzanzeigenden Ungenauigkeiten, die einem die Lust nehmen, den Mund aufzumachen.
Kinder sind nicht gerettet. Sie sind gefährdet durch das, was wir Genauigkeit nennen: die Macht, die Ein-Teilung der Welt, die Bezeichnung und Beanspruchung der Dinge. Ilse Aichingers poetisches Engagement ist wie kaum bei einem andern Schriftsteller ein politisches: das Entgegenschreiben gegen die beherrschende Sprache, die die herrschende ist. Um Vorsilben geht es da, um ver- oder be- beispielsweise:
Be-, be-, dieses eingesackte be, das mit dem Leiden eines Pudels schon kaum etwas zu tun hat, hat nicht viel weniger zu tun mit dem Fallen, mit dem Liegenbleiben des Schnees. Verschneit kann ein Dorf sein und auch ein Schulhaus, beschneit ist für mich nichts. („Schnee“)
Ilse Aichingers Engagement ist nicht zeitbedingt, sondern zeitbezogen. Es bringt unsere Sprache nicht zum Verstummen, aber zum Schweigen – „eine Hilfe, aber keine Hilfe, kein Trost, aber ein Trost.“ („Baumzeichnen“)
Was also können Materialien zu Leben und Werk im Falle Ilse Aichingers sein? Mehr als eine Sammlung bio- und bibliographischer Daten, Rezensionen, Essays und erhellender Äußerungen des Autors? Eher weniger. Denn von dem allem gibt es zu Ilse Aichinger nicht viel. Weniger als es geben müßte. Und doch ist das richtig so. Materialien zu einer Autorin, die sich Günter Eichs Devise „nur keine Spuren hinterlassen“ zu eigen macht, müssen ohnehin allesamt Verdacht erwecken. Materialien zu der Welt, „die wir nicht kennen“, hinter der Ilse Aichinger her ist, sind zweitens nicht aufzutreiben. Und zum Banalen, zum Allgemeinen schließlich, in das Ilse Aichinger jene andere Welt immer wieder zurückholt, braucht es keine. „Flecken“ bleiben bei ihr Flecken. Wir fallen immer wieder auf den „Boden der Realität“ (Heinz F. Schafroth). Das Schwierige im Umgang mit Ilse Aichingers Texten ist es, dies zu akzeptieren.
Samuel Moser, Vorwort
P. S.: „Und wäre die Welt anders ohne diese Flecken? Das ist eine müßige Frage. Sie wäre anders. Sie wäre ohne diese Flecken.“ („Flecken“) Und wäre die Welt anders ohne Ilse Aichingers Bücher? Das ist schon beantwortet. „Da ist ein anderes sehr musisches Wesen: Ilse Aichinger. Aber sie läßt nichts von sich hören. Sie wird es nicht leicht haben, denn sie ist eine Hoffnung. Man ist gespannt auf ihr nächstes Buch, aber wann kommt es?“ Dies schrieb Annette Kolb. Wann?
Daß Ilse Aichinger eine der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der Nachkriegszeit ist, weiß man längst. Dennoch besteht eine große Unkenntnis ihrem Werk und ihrer Person gegenüber. Dieser Band will dazu beitragen, neue Leser an das Werk dieser großen Autorin heranzuführen, indem er Verständnishilfen zu ihren einzelnen Büchern und zu ihrer Poetik zusammenfaßt. Er veröffentlicht „Aufruf zum Mißtrauen“, den frühesten Text von Ilse Aichinger, und ihre 1988 gehaltene „Rede an die Jugend“. In Interviews gibt die Autorin Auskunft über sich selbst; außerdem enthält der Band zum größten Teil unveröffentlichte Fotos.
Die Gesamtdarstellungen gehen ein auf ihr Werk, das aus Hörspielen und Erzählungen, Gedichten, Essays und einem Roman besteht; während die verstreut publizierten Rezensionen einzelner Werke auch die Geschichte der Literaturkritik erzählen. In den Originalbeiträgen von Hanna Johansen, Peter Horst Neumann, Ilma Rakusa und Richard Reichensperger wird auf die Entwicklung der Autorin und auf die Bezüge innerhalb ihres Werks eingegangen. Den Band beschließen eine ausführliche biographische Skizze, eine Primärbibliographie und eine ausgewählte Sekundärbibliographie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1990
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ilse Aichinger
Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für I. A.
Peter Hamm: Gedenkblatt für Ilse Aichinger
Gegenwartsproof: Ilse Aichinger – Es sprechen Sonja vom Brocke, Margret Kreidl und Ferdinand Schmatz mit Theresia Prammer über die Bedeutung des Werkes von Ilse Aichinger.
Karl Krolow: Laudatio zur Verleihung des Nelly Sachs-Preises 1971
Ein Gespräch zwischen Michael Braun und der Literaturwissenschaftlerin Simone Fässler über das Werk von Ilse Aichinger.
Ein Gespräch zwischen Michael Braun mit dem Lyriker Levin Westermann – über Ilse Aichinger, Poesie und Schweigen und die Unheilsengel der Geschichte.
im Literarischen Colloquium am 31.10.1996. Moderation: Hajo Steinert. Gesprächspartner: Richard Reichensperger.
Einleitung: Hajo Steinert stellt die Autorin Ilse Aichinger vor.
Gespräch I: Richard Reichensperger spricht mit Ilse Aichinger über ihre Jugend.
Gespräch II: Wie war das Leben 1945?
Gespräch III: Das Wesen der Erinnerung, oder: Wie sind Ilse Aichingers Bücher entstanden?
Gespräch IV: Fällt Ilse Aichinger das Schreiben leicht?
Lesung IV: Ilse Aichinger liest kurze Gedichte.
Andreas R. Batlogg: Dass es den Ort einer anderen Existenz gab
Die Furche, 8.11.2001
Peter Mohr: Alles Komische hilft mir
literaturkritik.de, November 2006
Sabine Rohlf: Es geht immer um Genauigkeit
Frankfurter Rundschau, 1.11.2011
Paul Jandl: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur
Hamburger Abendblatt, 1.11.2011
Peter Mohr: Das Komische macht mich glücklich
titelmagazin.com, 2.11.2011
Anja Hirsch: Unerkundbar, undurchschaubar
Deutschlandfunk, 1.11.2011
Susanne Stephan: Verse, verborgen
poetenladen, 2016
Bettina Steiner: Ilse Aichinger: Es gilt das genauere Wort
Die Presse.com, 30.10.2016
Helmut Böttiger: Die Seufzer der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2021
Christian Schacherreiter: Die subtile Poesie der Verhängnisse
OÖNachrichten, 30.10.2021
Michael Braun: Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin Ilse Aichinger
Badische Zeitung, 29.102.2021
Tilman Krause: Die Frau, die als erste über den Holocaust schrieb
Die Welt, 1.11.2021
Peter Mohr: Schreiben ist kein Beruf
literaturkritik.de, November 2021
(auch im titel-kulturmagazin.net, 1.11.2021)
Christian Metz: Schreiben müsste punktueller sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2021
Magnus Klaue: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Der Tagesspiegel, 1.102.2021
Günter Kaindlstorfer: Ilse Aichinger und die machtvolle Ohnmacht der Worte
Deutschlandfunk, 1.11.2021
Michael Wurmitzer: Ilse Aichingers 100. Geburtstag in Linz: Widerstand mit Worten
Der Standart, 23.10.2021
Gerhard Zeillinger: Ilse Aichinger: Schreiben als existenzielle Verflechtung
Der Standart, 1.11.2021
Matthias Greuling: Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film
Wiener Zeitung, 1.11.2021
Teresa Präauer: „Autorinnen feiern Autorinnen“: Ilse Aichinger
Die Furche, 3.11.2021
Achim Engelberg: Schreiben nach Auschwitz – zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger
piqd.de, 1.11.2021
Es begann mit Ilse Aichinger 1921–2021. Erzählen vom Ende her und auf das Ende hin
Onlineausstellung kuratiert von Christine Ivanovic und Sugi Shindo
100 Jahre Ilse Aichinger. Mit Thomas Wild, Nikola Herweg und Ulrich von Bülow
Nach Lektüre einiger Nachrufe ein paar Notizen zur Rezeption ihres Werks von Teresa Präauer.
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