Ilse Aichinger: Poesiealbum 365

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ilse Aichinger: Poesiealbum 365

Aichinger/Schiele-Poesiealbum 365

BEYOND
für Clemens Podewils

Bewahren,
wie die Linien
zwischen Gras
und grasbedecktem Stein
verlaufen,
den Astsprüngen
und den Sprüngen der Verzweigung,
Licht- und Schattenlauten.
Den Trauer- und Freudefesten
auf der Spur bleiben,
den Firsten
und den Rauchzeichen darüber,
solange, bis sie,
eins geworden,
sich im Flug entdecken,
kein Untergang.

 

 

 

Ilse Aichinger

Sie ist als Schriftstellerin bekannt, deren erster und einziger Roman Literaturgeschichte schrieb, sie ist auch Verfasserin pointierter Kurzprosa; als Lyrikerin ist sie weitgehend unbekannt. Dabei sind die Verse, die sie ihr Leben lang schrieb und nur auswahlweise veröffentlichte, poetische Ereignisse. Klang und Sinn treten in ein Spannungsverhältnis ohne Auflösung. Treffend gesetzte Worte sind in ihrer Knappheit einzig und verweigern jede Umschreibung.

Ankündigung in Michael Krüger: Poesiealbum 364, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2021

Stimmen zur Autorin

Alle denkbaren Reduktionen menschenmöglicher Erfahrung werden auf ihren bitteren kleinen Kern durchgespielt,… es herrscht in allen Texten der gleiche strenge, beinahe apodiktische Sprachgestus, mit dem immer neue Paradoxien in die Welt gesetzt und vollkommen ernstgenommen werden.
Gisela Lindemann

Die Stimme, die zu uns spricht, kennt beides: die Erinnerung und ihr Echo in einer erinnerungslosen Welt… dieses plötzliche Hineingleiten in einen poetischen Zusammenhang, über jeden manifesten Inhalt, jeden Sinn und jede Aussage hinweg, in dem Gefühl tiefer Verläßlichkeit.
Michael Krüger

Ilse Aichingers Lyrik verändert sich weniger, als daß sie sich weiterentwickelt in der Radikalität der Frage- und Infragestellung, in der Verweigerung aller vorschnellen Tröstlichkeit, in der Demontage der Gläubigkeit und der Rehabilitierung der Ungläubigkeit.
Heinz Schafroth

… hier ereignet sich, wenn nicht immer, doch immer wieder, das Pfingstwunder der gelösten Zungen, der gehörten Stimmen, der gelungenen Kommunion. Verblüffend ist, wie sie fast allenthalben den Ton durchhält, wie sie mit keinem Wort absinkt, sondern eine Fülle makelloser Sprachgebilde von einheitlicher Substanz und Konsistenz geschaffen hat, die durch keinen fremden Reiz, keinen weit hergeholten Bildungsbegriff gestört sind.
Hilde Spiel

Trotz des fast vollständigen Verzichts auf den Endreim bilden Reimanklänge wie Assonanz und Konsonanz, Binnenreim und Alliterationen ein dichtes Klanggitter, das von gehäuft eingesetzten Lautverbindungen… zusätzlich gestützt wird.
Hannah Markus

Diese Gedichte sind von der Art, die von einigen Überlebenden nach einem Atomkrieg, falls es die gibt und falls sie noch an Gedichte denken, leichter und besser verstanden werden könnten als heute.
Erich Fried

Poesiealbum 365

Aichingers Verse öffnen sich mit einem Arsenal wiederkehrender Wörter oder in Hall und Nachhall von Vokalfolgen. Wieder und wieder gibt es „Schnee“, Jahres- und Tageszeiten hinterlassen Spuren und von bekannten Orten ist Unbekanntes zu erfahren. Ihre Dichtung prägt die Trauer – aber leise, als käme sie aus weiter Ferne. Wo jedes Einverständnis mit der Welt, wie sie ist, aufgekündigt wird, sucht das lyrische Wort nach Halt: jenseits des Sinns, diesseits der Sinne.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 202

 

„Erfüllte Wünsche sind ein Unglück.“

Wer in den neunziger Jahren mit Ilse Aichinger sprechen will, muss sich an einen jungen Mann wenden, der ihre Nabelschnur zur Welt ist: Richard Reichensperger. Ein junger, bei unserem Interview gerade 35 Jahre alter Literaturwissenschaftler, der ihre Werke herausgegeben hat und darüber seit vielen Jahren zum wichtigsten Mann in ihrem Leben geworden ist. Er ist ein leidenschaftlicher Leser, liebt Joseph Brodsky, John Donne, Pascal und – Julien Green. Einmal ist Richard Reichensperger Julien Green nachgefahren, ohne es zu wagen, ihn anzusprechen.
Ilse Aichinger lebt in Wien zu dieser Zeit wie ein Tramp. Sie trägt meist eine unförmige schwarze Jacke und transportiert ihre Habseligkeiten in einer Plastiktüte mit sich herum. Täglich sieht sie sich in den Wiener Kinos mehrere Filme an. Gute Filme wie Auf Wiedersehen, Kinder von Louis Malle oder Der dritte Mann von Carol Reed kann sie sich bis zu acht Mal ansehen. Die Dunkelheit und Abgeschiedenheit der Kinosäle tun ihr gut. Sie schreibt nicht mehr viel, am liebsten kurze Feuilletons und Beobachtungen, die Richard Reichensperger abtippt und den Zeitungsredaktionen anbietet. Das ausführliche Nicht-Schreiben und Über-das-Schreiben-Nachdenken nimmt den weit größeren Teil ihrer Zeit in Anspruch. Ihre Erzählungen und der Roman Die größere Hoffnung haben sie in der Nachkriegszeit neben Ingeborg Bachmann zum Star der Gruppe 47 gemacht. 1953 heiratete sie den Dichter Günter Eich. Das Paar hat zwei Kinder, Clemens und Mirjam.
Als wir uns am 24. Oktober 1996 treffen, ist Ilse Aichinger fast 75 Jahre alt und seit einem Vierteljahrhundert Witwe. Richard Reichensperger hat als Treffpunkt ihr Lieblingscafé, das Café Imperial am Kärntner Ring, vorgeschlagen. Als ich dorthin komme, sitzt sie schon da, umspült vom Klaviergeklimper des Wiener Kaffeehausnachmittags, und strahlt eine ungeheuere Präsenz aus. Sie spricht sehr sanft, ein wenig österreichisch eingefärbt und eher langsam, hier und da plötzlich einen Nebensatz wild beschleunigend, dann wieder tastend fortfahrend. Und obwohl eine große Freundlichkeit von ihr ausgeht, ist das meiste von dem, was sie mir in den folgenden zwei Stunden sagen wird, von äußerstem Pessimismus. Auf die Frage, was das Schönste in ihrem Leben gewesen sei, sagt sie, ohne zu zögern: der Krieg. Denn im Krieg habe es noch Hoffnung gegeben.
Wir trinken Kaffee und Cognac. Gerne hätte sie geraucht, aber das hat sie sich abgewöhnt. Auf manche, allzu direkte Fragen bleibt sie die Antwort schuldig und sagt:

Ich würde Ihnen gerne antworten, aber nicht dem Interview.

Dennoch spricht sie über ihre Fremdheit in der Gegenwart; sie scheint ihr eine Art Übergangszeit zu sein, die man mit Haltung ertragen muss. Die „größere Hoffnung“, von der ihr berühmter Nachkriegsroman erzählt, ist für sie im Alter vollständig aufgebraucht. Im gepflegten, posthabsburgerischen Café Imperial wirkt sie wie von einem anderen Stern.
Nach dem Gespräch gesellt sich Richard Reichensperger zu uns. Zu dritt machen wir einen ausgedehnten Spaziergang durch das nächtliche Wien. Ilse Aichinger erzählt von ihren Kindern und davon, wie sie und Günter Eich die Kinder in dem Landhaus in Großgmain im Salzburger Land gemeinsam erzogen haben. Sie erzählt von ihrer Mutter, die sie bis zu deren Tod gemeinsam mit Richard Reichensperger gepflegt hat. Wir sprechen davon, ob es einen richtigen Zeitpunkt zum Sterben gebe. Und sie sagt, dass sie die jung Gestorbenen beneide. Gefragt, warum, antwortet sie:

Wenn man schon lebt, würde man sich wünschen, so jung zu sterben wie der Georg Büchner oder wie der Hans Scholl, es ist besser, das ist meine Ansicht.

Ich habe diesen Satz damals nicht in das Interview aufgenommen. Im Nachhinein wirkt er gespenstisch: Zwei Jahre nach unserem nächtlichen Spaziergang stürzt Ilse Aichingers Sohn Clemens Eich in Wien und stirbt wenig später an den Folgen des Sturzes im Wiener Allgemeinen Krankenhaus im Alter von 43 Jahren. Sechs Jahre nach dem Tod von Clemens Eich stürzt auch Richard Reichensperger in Wien und stirbt ebenfalls wenig später an den Folgen des Sturzes im Wiener Allgemeinen Krankenhaus im Alter von 43 Jahren. Dieselbe Todesart, derselbe Ort, dasselbe Krankenhaus, dasselbe Alter. Elfriede Jelinek schrieb in ihrem Nachruf auf Richard Reichensperger:

Und Ilse Aichinger hat viele viele Gründe gehabt, dass immer und immer wieder etwas Schreckliches zu ihr und aus ihr gekommen ist.

Iris Radisch: Mit 27 Jahren haben Sie Ihren Roman Die größere Hoffnung veröffentlicht. Danach kurze Erzählungen, Hörspiele, Gedichte. Zuletzt nur noch Sätze. Der letzte veröffentlichte Satz ist: „Zum Kranklachen wäre alles, wenn es nicht zum Totlachen wäre.“ Das war 1985, seitdem beinahe nichts mehr. Was ist geschehen?

Ilse Aichinger: Ich habe das seit jeher für einen sehr schwierigen Beruf gehalten. Und ich wollte nie Schriftstellerin werden. Ich wollte Ärztin werden, das ist gescheitert an meiner Ungeschicklichkeit. Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zu viel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig.

Radisch: Nur einen Satz über den Krieg?

Aichinger: Der Krieg war meine glücklichste Zeit. Der Krieg war hilfreich für mich. Was ich da mit angesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Die Kriegszeit war voller Hoffnung. Man wusste sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute nicht mehr weiß. Der Krieg hat die Dinge geklärt.

Radisch: Liegt es also am Frieden, dass Sie kaum noch schreiben?

Aichinger: Ich kann mich nicht einfach hinsetzen um acht Uhr früh und denken, jetzt schreib ich. Ich muss nicht schreiben. Und gar nicht darüber nachdenken.

Radisch: Langweilen Sie sich?

Aichinger: Natürlich. Das kann tödlich sein. Aber Schreiben hängt mit dem Tod zusammen. Ob es tödliche Langeweile ist oder eine andere Form des Sterbens… Außerdem gehe ich gerne ins Kino.

Radisch: Aus Langeweile?

Aichinger: Das Kino ist eine Form des Verschwindens. Man taucht ins Dunkel, man ist unsichtbar. Ich hatte schon als Kind den Wunsch zu verschwinden. Das war mein erster leidenschaftlicher Wunsch. Ich erinnere mich kaum an etwas anderes außer an diesen wahnsinnigen Wunsch. Der Wunsch ist noch immer da. Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt.

Radisch: Warum?

Aichinger: Was man an Leiden mit ansehen muss. Die Ungerechtigkeiten, die, abgesehen von aller Politik, allein in der Biologie sind. Ich bin ein identischer Zwilling, der ältere, der lebenskräftigere, wir hatten beide schwere Krankheiten, aber meine Schwester war dem Tod immer näher. Der Stauffenberg hatte auch einen identischen Zwilling, aber der ist bei der Geburt gestorben.

Radisch: Das Leben als Zwilling ist noch ungerechter als das Leben ohnehin?

Aichinger: Man begreift dabei, dass die ganze Biologie eine terroristische Überlebensstrategie ist, der man eigentlich gar nicht gewachsen sein möchte. Man wird nicht gefragt. Man wird auch nicht gefragt, ob man sterben will. Ich will tot sein, aber sterben möchte ich auch nicht, weil ich einige Male mit angesehen habe, wie lange das dauern kann. Diese Zumutungen, nicht nur an mich, sondern an jeden, der lebt. Aber zu meinem Erstaunen sind die meisten Menschen vollkommen einverstanden.

Radisch: Mit dem Leben?

Aichinger: Jeder möchte genau der sein, der er ist. Keiner kommt auf die Idee, dass er jemand anderer sein möchte oder gar nicht sein möchte.

Radisch: Den Frauen wird sonst immer nachgesagt, dass sie das Leben bewahren wollen.

Aichinger: Wenn die Mädchen damals auf dem Gymnasium sagten, ich studiere nicht, ich heirate sowieso, war ich empört, wie die sich definieren. Das ist doch furchtbar, dieses Die-Welt-in-Trab-Halten.

Radisch: Sie haben die Welt mit zwei Kindern in Trab gehalten.

Aichinger: Ich hab immer eine große Beziehung zum Nordosten gehabt, den ich nie gesehen habe. Ich wollte nie nach Italien, nach Frankreich. Ostpreußen, das Baltikum, das hat mich wahnsinnig angezogen, die Schweigsamkeit des Nordostens. Wenn ich nicht durch Zufall jemand kennengelernt hätte, der aus dem Nordosten war und sehr schweigsam, jemand, der sich nicht wie alle anderen kritisch geäußert hat oder kaum… Der Nordosten ist mein Schicksal geworden.

Radisch: Neugeborene Kinder strahlen vor Glück und Lebensfreude. Das Erste im Leben ist Glück.

Aichinger: Die müssen älter werden. Und es gibt zu viele. Was geschieht? Im Augenblick ist doch die Karriere das Wichtigste. Keine Karriere machen ist eine Art des Sterbens.

Radisch: Sie haben im Krieg mit Ihrer jüdischen Mutter in einem kleinen Zimmer in Wien notdürftig überlebt. Ihre Großmutter wurde deportiert und kam um. Später schrieben Sie: „Man überlebt nicht alles, was man überlebt.“ Was haben Sie nicht überlebt?

Aichinger: Den Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewissheit, dass meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.

Radisch: Die Zeiten heute sind schrecklicher als damals?

Aichinger: Undeutlicher. Und das macht es schlimmer. Ich liebe Augenblicke der Verdeutlichung. Die sind in Wien so selten, diese Freundlichkeit, dieses Küss-die-Hand, man weiß nie, was dahintersteht.

Radisch: Unfreundlichkeit ist Ihnen lieber?

Aichinger: Ja. Man kennt sich aus.

Radisch: In Ihrem Roman Die größere Hoffnung besteht die größere Hoffnung vor allem darin, dass die Leiden des Menschen nicht vergeblich sind, dass die Opfer belohnt werden.

Aichinger: Diese Hoffnung ist im Krieg immer stärker geworden. Es war wie ein Triumph. Inzwischen bin ich anarchistischer und nihilistischer geworden. Es gibt nur noch eines, woran ich glaube. Das ist die Präsenz der Menschen, manchmal auch der Tiere.

Radisch: Was ist das?

Aichinger: Ich habe einmal ein Gespräch mit einem fremden Menschen abgebrochen und bin weggegangen, weil ich zu müde war. Heinrich Böll war dabei, und ich sagte zu ihm: „Ich habe diesem Herrn nicht gute Nacht gesagt“, und habe ihn gebeten, es für mich zu tun. Und Böll sagte: „Der ist nicht existent, dem muss niemand gute Nacht sagen.“ Existent und nicht existent, das war ein genialer Ausdruck. Dieses Existentsein, ob man schon lebt oder tot ist, ob man schon da war oder nie da war, das ist für mich ein Begriff.

Radisch: Es gibt lebende Menschen, die nicht existent sind?

Aichinger: Die meisten. Aber sie könnten es sein. Es ist natürlich komplizierter, schwieriger, es fordert eine gewisse Askese, existent zu sein. Vor allem eines ist nötig, es zu merken, dass man nicht existent ist. Denn jeder ist bis zu einem gewissen Grad nicht existent. Mit dieser Nichtexistenz zu leben, das ist die einzige Askese, die heute möglich ist.

Radisch: Askese?

Aichinger: Verzicht. Ich habe gelernt, dass die Wünsche das Wichtigste sind. Und dass erfüllte Wünsche ein Unglück sind. Es ist extrem schwierig, ohne unerfüllte Wünsche zu leben.

Radisch: Sehen Sie den Menschen ihre Existenz oder Nichtexistenz auf den ersten Blick an?

Aichinger: Oft.

Radisch: Auch hier im Café Imperial?

Aichinger: Hier besonders. Selbst wenn ich nur den Rücken sehe, die Art zu sprechen oder zuzuhören. Das gibt es heute nicht mehr, heute sprechen immer alle gleichzeitig. Es ist zu Ende.

Radisch: Und die Toten, die Opfer? Die Hoffnung, dass ihre Leiden nicht sinnlos waren, ist verloren?

Aichinger: Sie werden präsent bleiben. Ich glaube an die Präsenz der Lebenden und der Toten. Ich weiß nicht, ob sie wirklich erreichbar sind. Aber ich spüre eine Präsenz. Sophie und Hans Scholl zum Beispiel, dass diese beiden präsent sind, das spüre ich immer. Das gehört zu den wenigen beruhigenden Dingen, die es gibt.

Radisch: Mit der größeren Hoffnung ist etwas Entscheidendes aus der Welt verschwunden. Die jungen Autoren heute schreiben nicht mehr wie Ihre Generation nach der Katastrophe, sie schreiben ohne Katastrophe.

Aichinger: Heute muss man sich zunächst einmal klarmachen, was es für eine Katastrophe ist, ohne Katastrophe zu leben. Dass das Leben, das ich an sich für eine Katastrophe halte, nicht deutlich wird. Man hat das Gefühl, die Umwelt ist undeutlich und man selbst wird undeutlich. Man sieht seinen eigenen Umriss nicht mehr. Auch die Umrisse des Elends sieht man nicht mehr. Sich das klarzumachen ist sehr schwer. Man wird sofort ein Außenseiter. Den Jungen heute – aber man kennt sie ja nicht, es sind ja die Anonymen –, man müsste ihnen sagen, es ist dein Genie, zu bemerken, dass du nichts bist. Die Undeutlichkeit klarzumachen, dazu muss man sehr viel genialer sein, als Zustände eines Weltkrieges klar und deutlich zu machen. Aber die größte Begabung ist doch die, auf der Welt sein zu können. Es auszuhalten, mit einem gewissen Frohsinn.

Radisch: Sie meinen, die größte Begabung ist die, sich nicht umzubringen?

Aichinger: Ja. Zum Sichumbringen gehört wiederum eine gewisse manuelle Begabung. Man denkt sich vor allem, ich habe ein Recht darauf. Es ist kein besonderes Recht, doch wenigstens dieses Recht möchte man haben.

Radisch: Was sollen die jungen Autoren heute machen?

Aichinger: Sich klarmachen, worin die Notwendigkeit liegt. Vor allem, einen anderen Beruf haben. Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müsste man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin. Sich als Autor allein zu definieren ist heute nicht mehr möglich. Egal, ob man Installateur, Krankenpfleger oder im Büro ist. Das ist noch eine andere Welt, auch wenn sie einen anödet. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich „privat“.

Radisch: Was ist für Sie in der Gegenwart das größte Leid?

Aichinger: Die Verlassenheit der Kranken, der Krebskranken, der Schizophrenen, das Allgemeine Krankenhaus in Wien. Niemand hat Anteilnahme, denn Anteil nehmen heißt ja, sich vorzustellen, ich hab das auch. Die Menschen haben kein Bedürfnis mehr, Erfahrungen zu machen.

Radisch: Was täten Sie, wären Sie heute 28 Jahre alt?

Aichinger: Philosophie studieren und daneben etwas tun, was helfen kann, sei es psychisch oder einfach jemandem zuhören.

Radisch: Warum Philosophie?

Aichinger: Um die Begründung der Existenz zu erfahren.

Radisch: Die Antwort auf die Frage, warum sind wir?

Aichinger: Ja.

Radisch: Wissen Sie das nicht schon längst?

Aichinger: Ich möchte es nachlesen, schwarz auf weiß.

Radisch: Sie haben immer wieder gesagt, dass das Schweigen das ist, worauf alle Worte, die sie schreiben, zulaufen. Dass man sich selber und der Welt am besten Schweigen auferlegen sollte.

Aichinger: Auch wenn man spricht, die Währung müsste gedeckt sein durch Stille. Früher hatte man dieses altmodische Wort Betrachtung, das meint: genau hinschauen und lange hinschauen. Immer durch dieselben Straßen gehen und warten, bis man etwas entdeckt. Ich bin nicht für Abwechslung. Ich reise nicht gerne. Betrachtung ist für mich ein äußerst wichtiges Wort. Zu Beginn mag es langweilig sein, weil man es nicht beherrscht. Später kann man erfahren, dass Geist in der Welt ist. Immer die gleiche kleine Menge.

Radisch: Das Schweigen war auch Teil eines literarischen Protestes Ihrer Generation. Es sollte Misstrauen ausdrücken, dem „bleichen Bürger“ die Klischees aus dem Maul reißen, sollte aufklären, aufrütteln. Es war eine ästhetische Revolte, die es nicht nur in Deutschland gab. Während Sie an Ihrem Text „Aufruf zum Misstrauen“ schrieben, veröffentlichte Nathalie Sarraute in Paris ihre Aufsatzsammlung Zeitalter des Misstrauens. Man war überfüttert mit Worten und Zusammenhängen und reagierte darauf, mit Schweigen, mit der Negation jedes Zusammenhangs. Heute leidet der Autor eher an Unterernährung. Er sieht nirgends Zusammenhänge.

Aichinger: Das Leiden dieser Zeit ist die Zusammenhanglosigkeit, auch der Familien. Man merkt es auch an den Bauten. Es ist eine schwache Zeit. Aber man kann nicht einfach drauflosschreiben und künstlich Zusammenhänge herstellen. Die Möglichkeit, im Zusammenhang zu schreiben, kommt sicher wieder. Im Augenblick kann man nur genau begreifen, dass keine Zusammenhänge da sind und dass alles von jedem Einzelnen abhängt, von der Zuwendung jedes Einzelnen zu fremden Schicksalen – das klingt jetzt etwas wie eine Heilsbotschaft.

Radisch: Wenn Sie heute zu schreiben anfingen, wie würden Sie schreiben?

Aichinger: Berichte schreiben, nichts Erfundenes. Genau sein. Kleine Dinge beobachten, Details. Punkte. Das Schreiben müsste punktueller sein. Ich wäre froh, wenn ich etwas schreiben könnte, das deutlich macht, dass diese Welt hilfsbedürftig ist.

Radisch: Keine Revolution der Sprache?

Aichinger: Das ist sehr schwer. Man ertappt sich oft selbst dabei, Banalitäten zu sagen. Es ist schon falsch, zu jemandem zu sagen: „Wie geht es Ihnen“, wenn man es nicht wirklich wissen will. Und wer will wirklich wissen, wie es dem anderen genau geht? Und wer will wirklich sagen, wie es ihm genau geht, oder wer kann es? Da sind die Engländer exakter, indem sie auf „How do you do?“ dasselbe antworten.

Radisch: Kein Engagement der Dichtung?

Aichinger: Es gibt ganz dringende Dinge, die man tun muss. Und das ist nicht zuerst das Schreiben.

Radisch: Das wäre doch die Hölle, ins Leben eingesperrt zu sein, ohne gute Bücher.

Aichinger: Ich brauche sie auch. Ich lese immer wieder Joseph Conrad. Obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im Geringsten interessieren. Aber es ist für mich eine solche Faszination, dass da kein einziger unnützer Satz steht. Bei den Neueren ist es Josef Winkler. Es ist eine unglaubliche, fast fanatische Genauigkeit in seinem Werk.

Radisch: Die Nachkriegsbücher sind in gewisser Weise wirklich in literarischen Ruinen geschrieben worden. Was Sie, was Günter Eich, Ingeborg Bachmann oder Wolfgang Koeppen geschrieben haben, hatte es in deutscher Sprache noch nie gegeben. Nun sind beinahe alle Autoren dieser Generation gestorben. Sehen Sie irgendwo Enkel? Jemand, der diese Literatur weiterschreibt?

Aichinger: Vielleicht gibt es irgendwo im Verborgenen Existenzen, die es nicht wagen, die gar nicht bedenken, dass sie es eigentlich könnten.

Radisch: Der literarische Raum, in dem Sie aufgewachsen sind, ist weg. Galizien als Schreibland, als Kulturland ist Geschichte.

Aichinger: Beim Überfall Hitlers hat mich eine wahnsinnige Traurigkeit ergriffen, weil ich das Gefühl hatte, es gibt Österreich nicht mehr. Da war ich ja doch zu Hause, nicht in dem Staat, in dem Land, sondern, beinahe hätte ich gesagt, in der Befindlichkeit, doch das ist ein schlechtes Wort. In dem geistigen Raum.

Radisch: Und der ist nicht der alpenländische, katholische Darkroom von Elfriede Jelinek?

Aichinger: Sie will mehr verändern. Und glaubt daran. Sie ist auch jünger. Und sie hat recht. Ich glaube, dass Elfriede Jelinek bereit ist, für das einzustehen, was sie schreibt.

Radisch: Elfriede Jelinek, aber auch Ingeborg Bachmann schreibt über das Frausein, über die Wunde Frau.

Aichinger: Ach, die Bachmann! Das ist so feminin, so ungeheuer ergeben. Sie kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass es auch biologische Revolte, Anarchie gibt.

Radisch: Sie haben nie über die Leiden des Frauenlebens geschrieben.

Aichinger: Aber ich habe immer empfunden, dass Frauen benachteiligt sind von der Natur.

Radisch: Warum?

Aichinger: Weil sie Kinder bekommen zum Beispiel.

Radisch: Das könnte man auch als Vorteil betrachten.

Aichinger: Ich finde, dass die Geburtswehen kein Vorteil sind. Das ist biologisch ganz ungerecht. Wieso haben die Männer keine Schmerzen? Selbst die Kühe werden ununterbrochen gequält mit diesen mechanischen Maschinen, die Ochsen nicht. Es könnte alles ganz anders sein. Und alle nehmen es hin, als wär es die einzige Möglichkeit. Ich hatte diese biologische Anarchie schon als Kind. Ich wollte nie ein Frauenleben führen, allerdings als die Kinder dann da waren, war ich glücklich mit ihnen.

Radisch: Sie waren 19 Jahre mit Günter Eich verheiratet und sind jetzt 24 Jahre allein. Fühlen Sie sich unvollständig?

Aichinger: Nein. Mein Mann gehört zu diesen Präsenzen, die nicht weggehen.

Radisch: Gibt es das: den einen Menschen, der der einzig richtige ist und kein anderer?

Aichinger: Ich hätte keinesfalls jemand anderen geheiratet, nur um zu heiraten. Es war eigentlich eine Gegenaktion gegen mich selbst. Und ich habe es mir auch immer eine Spur übel genommen. Aber ich habe es nicht bereut.

Radisch: „Die äußerste Liebe ist die äußerste Einsamkeit“, haben Sie geschrieben. War das so?

Aichinger: So fremd wie das, was man liebt, kann das Ungeliebte nie werden. Es muss extrem sein, sonst ist es banal.

Radisch: Sie werden jetzt 75 Jahre alt. Was sind die wichtigsten Erinnerungen, die Ihnen aus diesem langen Leben geblieben sind?

Aichinger: Es gibt Punkte, die da sind, viel mehr als die Gegenwart. Der Geruch von Weihrauch, gemischt mit Seifenlauge, mit der man die Steinböden in meiner Klosterschule aufgewischt hat. Den rieche ich, obwohl er nirgends mehr ist. Dann dieser Rauchgeruch, dieser Slumgeruch in England. Oder der Geruch von Baldriantropfen in alten Wohnungen. Und gewisse Nebeltage, wenn der Nebel so dicht wird, dass man den Blinden nachgehen muss, denn die gehen richtig.

Radisch: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Aichinger: Dass meine Zukunft nicht mehr zu lange dauert.

Aus Iris Radisch: Die letzten Dinge. Lebensendgespräche. Rowohlt Verlag, 2015

 

Den Mond durch
den Türschlitz schieben
Ach, kleiner Häwelmann!

Für Ilse Aichinger
Brigitte Struzyk

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ilse Aichinger

Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für I. A.

Peter Hamm: Gedenkblatt für Ilse Aichinger

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Ringvorlesung – Auslaufmodell DDR-Literatur – Gast: Roland Berbig

 

Gegenwartsproof: Ilse Aichinger – Es sprechen Sonja vom Brocke, Margret Kreidl und Ferdinand Schmatz mit Theresia Prammer über die Bedeutung des Werkes von Ilse Aichinger.

Karl Krolow: Laudatio zur Verleihung des Nelly Sachs-Preises 1971

Ein Gespräch zwischen Michael Braun und der Literaturwissenschaftlerin Simone Fässler über das Werk von Ilse Aichinger.

Ein Gespräch zwischen Michael Braun mit dem Lyriker Levin Westermann – über Ilse Aichinger, Poesie und Schweigen und die Unheilsengel der Geschichte.

Lesung Ilse Aichinger

im Literarischen Colloquium am 31.10.1996. Moderation: Hajo Steinert. Gesprächspartner: Richard Reichensperger.

Einleitung: Hajo Steinert stellt die Autorin Ilse Aichinger vor.

 

Gespräch I: Richard Reichensperger spricht mit Ilse Aichinger über ihre Jugend.

 

Gespräch II: Wie war das Leben 1945?

 

Gespräch III: Das Wesen der Erinnerung, oder: Wie sind Ilse Aichingers Bücher entstanden?

 

Gespräch IV: Fällt Ilse Aichinger das Schreiben leicht?

 

Lesung IV: Ilse Aichinger liest kurze Gedichte.

 

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Andreas R. Batlogg: Dass es den Ort einer anderen Existenz gab
Die Furche, 8.11.2001

Zum 85. Geburtstag der Autorin:

Peter Mohr: Alles Komische hilft mir
literaturkritik.de, November 2006

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Sabine Rohlf: Es geht immer um Genauigkeit
Frankfurter Rundschau, 1.11.2011

Paul Jandl: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur
Hamburger Abendblatt, 1.11.2011

Peter Mohr: Das Komische macht mich glücklich
titelmagazin.com, 2.11.2011

Anja Hirsch: Unerkundbar, undurchschaubar
Deutschlandfunk, 1.11.2011

 

 

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Susanne Stephan: Verse, verborgen
poetenladen, 2016

Bettina Steiner: Ilse Aichinger: Es gilt das genauere Wort
Die Presse.com, 30.10.2016

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Helmut Böttiger: Die Seufzer der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2021

Christian Schacherreiter: Die subtile Poesie der Verhängnisse
OÖNachrichten, 30.10.2021

Michael Braun: Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin Ilse Aichinger
Badische Zeitung, 29.102.2021

Tilman Krause: Die Frau, die als erste über den Holocaust schrieb
Die Welt, 1.11.2021

Peter Mohr: Schreiben ist kein Beruf
literaturkritik.de, November 2021
(auch im titel-kulturmagazin.net, 1.11.2021)

Christian Metz: Schreiben müsste punktueller sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2021

Magnus Klaue: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Der Tagesspiegel, 1.102.2021

Günter Kaindlstorfer: Ilse Aichinger und die machtvolle Ohnmacht der Worte
Deutschlandfunk, 1.11.2021

Michael Wurmitzer: Ilse Aichingers 100. Geburtstag in Linz: Widerstand mit Worten
Der Standart, 23.10.2021

Gerhard Zeillinger: Ilse Aichinger: Schreiben als existenzielle Verflechtung
Der Standart, 1.11.2021

Matthias Greuling: Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film
Wiener Zeitung, 1.11.2021

Teresa Präauer: „Autorinnen feiern Autorinnen“: Ilse Aichinger
Die Furche, 3.11.2021

Achim Engelberg: Schreiben nach Auschwitz – zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger
piqd.de, 1.11.2021

Es begann mit Ilse Aichinger 1921–2021. Erzählen vom Ende her und auf das Ende hin
Onlineausstellung kuratiert von Christine Ivanovic und Sugi Shindo

 

 

100 Jahre Ilse Aichinger. Mit Thomas Wild, Nikola Herweg und Ulrich von Bülow

 

 

Nachrufe auf Ilse Aichinger: Die Welt ✝ FAZ ✝ Die ZeitDF
literaturkritik 1 + 2

 

 

Nach Lektüre einiger Nachrufe ein paar Notizen zur Rezeption ihres Werks von Teresa Präauer.

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + ArchivIMDb +
KLG + ÖM + Interview 12Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich AutorenfotosKeystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaumdeutsche FOTOTHEK

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00