– Zu Thomas Klings Gedicht „Manhattan Mundraum Zwei“ aus Thomas Kling: Sondagen. –
THOMAS KLING
Manhatten Mundraum Zwei
Omneis mors variis casibus obruit
Nullo nobilis ordine.
Uns alle – verschiedenste fälle – senkt er hinab:
Der tod, der rangfolgenlose.
JACOB BALDE, CHOREAE MORTUALES – TOTENTÄNZE
… die / ruinen, nicht hier, die / die zähnung zählung der / stadt!,
zu bergn, zu verbergn!
MANHATTAN MUNDRAUM
1
toter trakt, ein algorithmen-wind.
und alles wie paniert.
in tätigkeit
stetig das loopende auge.
2
ein loop kann eine
schraube oder lupe sein;
die schraube schraubt
sich aus dem off
direkt in dies
3
hinein, in diese zungen-, in
manhattan-zeugenschrift. alles aus
alles so gut wie aus
erster aus geloopter hand
4
die zungnmitschrift also:
blanke listen.
auszug:
schwert aus licht
rache-psalm-partikel
lichtsure niedrig und
saßen alle alle fest –
palms auf autoheck:
septemberdatum dies
das gegebene,
dies ist die signatur
von der geschichte;
verwehte wehende unverwehte
loopende wie hingeloopte
augn-zerrschrift
5
von augen ja!
die augn voller tätigkeit so
saßen wir im hohen ofen fest
im kopf im kopf!
6
konnten nicht weiter und saßen fünf
die lagen auf mir drauf ich ruf wieder an
kam auch schon die
decke
runter
7
wir lagen an den wassern des hudson
und weineten lichtsure niedrig; aus-
geschlossen es sprechen. null-
sicht, hatten nullsicht
8
… und siedelten in der luft
9
licht ging weg nur noch krach
und siedelten so in der luft
wir auf einer insel
unverweht
und allein
10
als kurzes mehl
11
ein kurzes mehl, dann, unterm profil, darin die zeugenvorschrift,
der vorname, und der gelegentlich fotografierte wird ein engel
genannt; ein luftsiedler; stylitinnen – wie hier steht. eine äugende
(glimmende), eine geloopte schrift. in die passant ein helfer oder
retter sogenannter augenzeuge nur so ebenhin, vorübergehend –
laufstop eher – DAS DATUM eingegeben hat; auf autoheck die
zahlenreihe: DAS GESCHICHTSBILD MANHATTANS TO-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaTER TRAKT
12
das tanzt – partikeltanz – vor diesen
glimmenden geloopten augen
13
ACH der stumme finger ist der pilger, der vorüberhastet, der sich einzuschreiben
weiß ins leise lack-zerkratzen, ins todten mehl, ach! in dies totnmehl hinein.
14
nothelfer
15
neue kryptografie. Listen.
nachbildbeschleunigung.
flügel sichtbar und
spürbar der flügelgeschraubte kopf;
und zwar partikelkopf: das limbische system
schlägt zu; memoria-maschinchen angefacht.
ihr unglücklichen augen
16
lichtsure niedrig,
niedrig preussag und münchner rück
17
es geht der wind übers gelände. gepfählter granit. die loopenden
partikel. oder zungen, die in schlünde sinken in erstickter
schlucht. um einfach auszuruhen; um augen zu spülen; die
wäsche zu wechseln; überhaupt die wohnung zu betreten,
wieder. endlich.
18
dies alles mundraum
19
stylitenwald
sinkt und sinkt auf viele
schultern, daumendick.
20
dies bittere mehl, darüber wind geht,
leiser algorithmen-wind
der wind von
manhattan
21
aaaaaaaaaaaaaach! vom hudson wehend
kommt der wind
„Manhattan Mundraum Zwei“, ein Gedicht aus 21 nummerierten Teilen, leitet Thomas Klings umfangreichen Gedichtband Sondagen ein.1 Erstveröffentlicht wurde es in der Zeitschrift manuskripte.2 Die Zwei im Titel kennzeichnet das Gedicht als Anschluss an ein bereits existierendes Gedicht, was ein Selbstzitat als zweites Motto erneut unterstreicht.3
… die / ruinen, nicht hier, die / die zähnung zählung der / stadt!,
zu bergn, zu verbergn!
„MANHATTAN MUNDRAUM“4
Nach einem Motto aus Jacob Baldes Totentänzen (17. Jahrhundert), das den Anlass des Manhattangedichts, das Attentat vom 11. September, erraten lässt, folgt dieses Zitat aus Klings Band morsch. Es entstammt dem 12-teiligen „Manhattan Mundraum“, das in morsch ebenfalls ganz zu Beginn abgedruckt ist. Die Wiederaufnahme des Titels stellt auch das zweite Gedicht unter das Zeichen des Mundraums. „Manhattan Mundraum“ handelt von der Stadt New York, von ihren Stimmen und Geräuschspuren und vom Sprechen über die Stadt. Dass als Motto ein Auszug gewählt wird, in dem das Wort „ruinen“ vorkommt, schafft einen Rückbezug und lässt das erste „Manhattan Mundraum“ wie eine Vorhersage der Katastrophe erscheinen.
Wie noch gezeigt wird, bezieht sich der Text aus Sondagen immer wieder auf seinen Vorgänger. Dem Leser des ersten Textes begegnet ein Sprecher, der seine Wahrnehmung Manhattans zu einem Text bündelt, der mit einiger Mühe entziffert werden muss. „Manhattan Mundraum Zwei“ ist eine Reflexion über die vornehmlich medial vermittelten Ereignisse des 11.9.2001 vor der häufig hindurchschimmernden Folie des „Manhattan Mundraum“-„Eins“-Erlebnisses. Auch im zweiten ,Manhattan-Gedicht‘ steht das Thema der Sprache zentral, ist Manhattan ein „Mundraum“, durch den verschiedenartiges Sprechen hindurchgeht.
1
toter trakt, ein algorithmen-wind.
und alles wie paniert.
in tätigkeit
stetig das loopende auge.5
Konkrete Bilder und enigmatische Wortkonstellationen, rhythmischer Fluss und abruptes Nebeneinander unterschiedlicher Sprachregister: Bereits im ersten Teil zeichnet sich ab, was für das gesamte Gedicht charakteristisch ist. „toter trakt“ führt direkt zum Anschlag auf das World Trade Center, „alles wie paniert“ weist auf die grau-weiße Schicht aus Betonstaub, die nach dem Einsturz der Türme alles bedeckt. Mit diesen konkreten und salopp formulierten Hinweisen auf den Gedichtgegenstand kontrastieren der rätselhafte „algorithmen-wind“ und „das loopende auge“. Beide Bilder ziehen sich als Leitmotive durch „Manhattan Mundraum Zwei“, die bis zu einem gewissen Grad mit anderen Elementen konnotiert werden können, aber auch eine hermetische Seite wahren. Die fachsprachlichen Termini ,Algorithmus‘ und ,loopen‘ werden durch ihre Verbindung mit traditionell poetischem („wind“) und gehobenem Vokabular („stetig“) in eine Sphäre des Metaphernähnlichen überführt. Gerade die Begriffe aus Wissenschaft und Technik werden uneindeutig gemacht. Unter einem Algorithmus versteht man ein „Verfahren zur schrittweisen Umformung von Zeichenreihen“, einen „Rechenvorgang nach einem bestimmten [sich wiederholenden] Schema“.6 Benutzt werden Algorithmen in Mathematik und Datenverarbeitung. Der ungreifbare „wind“ kann als vorsprachliches Urgeräusch gelesen werden, als göttlicher Sprachfluss, als Dichtersprache, als Luft, die durch den „Mundraum“ strömt, um Sprache zu erzeugen.7 Im „algorithmen-wind“ verschmilzt Kontradiktorisches: Computersprache mit Dichterwort. Der Wind ist zugleich eine ganz konkrete Tatsache: Auf der Halbinsel, in den geradlinig verlaufenden Straßen und vor allem in Flussnähe, kann er sehr stark sein, und am 11. September 2001 bläst er in Manhattan in den Rauch und Staub.
,loopen‘ stammt vom englischen ,loop‘ (Schleife) und wird im Deutschen in der Flugwissenschaft (,loopen‘ = einen Looping ausführen) sowie im Computerjargon und im Bereich der elektronischen Musik verwendet (der Loop, loopen, geloopt). Ein Loop, eine Schleife, bezeichnet dort eine kurze Sequenz von Tönen, Signalen, Zeichen oder Arbeitsschritten, die mehrmals wiederholt wird.8 So evoziert „in tätigkeit / stetig das loopende auge“ ein Schauen, das sich überschlägt oder das immer wieder dasselbe Blickfeld abmisst, oder auch eine Kamera, die wiederholt zum gleichen Ausgangspunkt zurückschwenkt. Im ersten Manhattan-Gedicht ist von einem „rudern“ der „blicke“ die Rede, das auf ähnliche Weise die Aktivität des Schauens einem Takt angleicht. Einen eigenen Rhythmus bringt das „loopende auge“ in die Klangstruktur des Gedichts: Die freien Verse sind nicht ohne erkennbaren Formwillen aufgebaut. Im ersten Teil fällt die Häufung des Konsonanten ,t‘ auf. „toter trakt“ erhält durch vier ,t‘ einen harten Klang und erinnert an Ernst Jandls Lautgedicht „schtzngrmm“.9 Dessen letzte Zeile – „t-tt“ – suggeriert das Wort ,tot‘, das bei Kling ausgesprochen und durch die weiteren ,t‘ intensiviert wird. Das Wort „stetig“ erscheint wie als Echo auf „tätigkeit“ komponiert. Dieser dritte Satz – die elliptischen Wortfolgen sind durch Punkte als Sätze markiert – durchbricht den Rhythmus der beiden ersten, in denen jeweils auf eine Hebung eine Senkung folgt. „in tätigkeit / stetig das loopende auge“ nimmt ab der zweiten Silbe einen daktylischen Duktus an, der den Vorgang des ,Loopens‘ in der Wiederholung einer dreisilbigen Sequenz plastisch werden lässt. Phonetische Effekte stehen hier von der Struktur her in einem Korrespondenzverhältnis zum Inhalt der Wörter. Im zweiten Teil werden diese Assoziationen in eine andere Richtung gelenkt. Dort wird nämlich das Wort ,Loop‘ durch eine normalsprachlich falsche Übersetzung ,erklärt‘.
2
ein loop kann eine
schraube oder lupe sein;
die schraube schraubt
sich aus dem off
direkt in dies
3
hinein, in diese zungen-, in
manhattan-zeugenschrift. alles aus
alles so gut wie aus
erster aus geloopter hand10
Ein „loop“ kann im Englischen in vielerlei Hinsicht eine Schleife sein: ein Looping eines Flugzeugs, eine Schlinge, eine Öse, ein Metallring, ein Kreislauf, eine Flussschleife oder eine Ringstraße. Die Bedeutung „Schraube“ oder „Lupe“ – assoziieren lässt sich auch ,Zeitlupe‘ – hat dieses Wort nur im Gedicht. ,Schraube‘ im Sinne einer Rotation im Flug, beispielsweise beim Sport, kann allenfalls noch in die Nähe von ,Looping‘ gebracht werden. Die Assoziation von Flugzeug und Schraube – wie sich eine Schraube in eine Wand bohrt, schraubt sich das Flugzeug in den Turm – entsteht im 15. Teil erneut: „der flügelgeschraubte kopf“ heißt es dort. „helicopter“ sind im ersten Manhattan-Gedicht „nervöse libellen“. Dieser Vergleich von Flugzeug und Insekt ist auch im zweiten Gedicht wirksam, in dem Flugzeug, fliegendes Tier und Schraube in einen Bildkomplex gefasst werden. Parallel spricht ein zweiter Diskurs vom medial vermittelten Ereignis. Die „lupe“ als Homophon von „loop“, das Vergrößerungsglas oder auch der Zoom der Kamera, bringt das Geschehen näher vor Augen. „die schraube schraubt / sich aus dem off“: Der Zuschauer am Bildschirm sieht das Flugzeug „aus dem off“ kommen, von jenseits des gefilmten Ausschnitts, bisher unsichtbar und eventuell von der Stimme des Sprechers aus dem Off angekündigt. Dann „schraubt“ es sich „direkt in dies“. Dort hält der Text kurz inne. Der zweite Teil nennt den Referenten von „dies“ nicht explizit, dem Zuschauer mag das Geschehen allzu unwahrscheinlich scheinen. Dass der Satz jedoch nicht zu Ende und „dies“ nicht (nur) der Turm ist, erklärt Teil 3. Dieser spielt mehrmals mit dem Effekt des Enjambements. „alles aus“ ist das erste Fazit, das wiederholt, nuanciert und auch ein wenig zurückgenommen wird: „alles so gut wie aus“. Nach einer Leerzeile erscheint die Doppelkodierung des Wortes „aus“. Es bezeichnet nicht nur ein Ende, eine Katastrophe, sondern ist zugleich der Beginn einer Fügung: ,aus erster Hand‘. Diese erste Hand ist indes „geloopt“ und „alles“ wird lediglich „so gut wie“ aus erster Hand, also nur aus zweiter Hand, erfahren oder wahrgenommen. Direkte Zeugenschaft wird in zwei Richtungen relativiert. Die Begriffe aus dem Medienbereich zeigen, dass Fotografen und Kameraleute auch die Nichtzeugen, die Zuschauer am Bildschirm, zu Augenzeugen, zu „so gut wie“ Zeugen machen. Zugleich haben die ,wirklichen‘ Zeugen das Geschehen mit einem Film verglichen und so kann der Text auch als Perspektive derer gelesen werden, die den Anschlag vor Ort verfolgen, denen er aber ,unwirklich‘ vorkommt. Das Ereignis wird in zweifacher Hinsicht medialisiert.
Die „schraube schraubt / sich […] in diese zungen-, in / manhattan-zeugenschrift“ hinein. Die Schrift ist auch eine mündliche, eine „zungen-“ Schrift. Mündliche und schriftliche, auch immaterielle und materielle Aspekte der Sprache sind eng verknüpft. In einem Kommentar zu mehreren Gedichten aus dem Band morsch, darunter auch zum ,ersten‘ „Manhattan Mundraum“-Text, geht Peter Waterhouse auf „zwei Ableitungen“ von „Zunge“ ein: „An einen Ort, der als Landzunge zu beschreiben wäre und der zugleich voller Sprache ist, begibt sich irgendwann Thomas Kling“.11 Auch in den Zusammensetzungen „zungen-“ und „manhattan-zeugenschrift“ ist die Zunge neben mündlicher Sprache und Sprache im Allgemeinen die Landzunge Manhattan. Die Formulierung „die schraube schraubt / sich […] in dies // hinein, in diese zungen-, in / manhattan-zeugenschrift“ kann außerdem auf einen Lesevorgang deuten. Die „schraube“ weist als „loop“ zurück auf das „loopende auge“ aus Teil 1, aus dem sie ein sich nunmehr ,hineinschraubendes‘ Auge macht. Das zur Schraube gewordene Auge blickt konzentriert hin; es schraubt sich in die „manhattan-zeugenschrift“ hinein und liest sich fest. Die Schrift besteht dabei nicht nur aus dem Gesprochenen und Geschriebenen – der „zungenschrift“ –, sondern enthält auch die oben erwähnten Bilder, die durch Zeichencodes, mit Hilfe einer Schrift also, an den ,Leser‘ am Bildschirm übermittelt werden.
4
die zungnmitschrift also:
blanke listen.
auszug:
schwert aus licht
rache-psalm-partikel
lichtsure niedrig und
saßen alle alle fest –
palms auf autoheck:
septemberdatum dies
das gegebene,
dies ist die signatur
von der geschichte;
verwehte wehende unverwehte
loopende wie hingeloopte
augn-zerrschrift12
Das Wort „zungnmitschrift“ verweist darauf, dass die Zunge, die Sprache, das Ereignis auf ihre Weise verarbeitet: Sie hält es in der Schrift fest. Daneben werden auf einer Metaebene eine oder mehrere „zungn“ mitgeschrieben: Verschiedene Arten des Sprechens werden im Gedicht gezeigt und bestimmen seine Sprechweise mit. Dass die Mitschrift auch eine „zungnmitschrift“, eine Mitschrift des Mündlichen ist, artikuliert das Wort selbst: In „zungn“ wird das Schwa13 analog zur gesprochenen Sprache, in der es häufig ganz verschwindet, elidiert. Dieses Mittel, das im zweiten Kapitel bereits ausführlich dargestellt wurde, wird hier zurückhaltend eingesetzt und nur viermal begegnet dem Leser ein verschliffenes ,en‘: „zungnmitschrift“, „augn-zerrschrift“, „augn“ und „totnmehl“.14
Auch nach dem Versuch, das Wörternetz aus vielfältigen Verknüpfungen im vierten Gedichtteil zu entwirren, bleibt vieles unverständlich, so etwa die Rolle der „palms auf autoheck“. Die Bruchstücke haben allesamt mit Sprache und Schrift zu tun, ergeben aber kein klares Bild, sondern eine in der letzten Zeile benannte und auch metalyrisch zu lesende „augn-zerrschrift“.
In den Kontext der Schrift gehören die „blanke[n] listen“, Listen, die noch nicht mit Namen ausgefüllt sind – die also noch gar keine Listen sind, aber zu solchen werden sollen. Auch „auszug“ steht in Bezug zur Schrift, wenn man darunter einen Teil aus einem längeren Text versteht. Auszüge aus religiösen Referenztexten sind „rache-psalm-partikel“ und „lichtsure“. Das „schwert aus licht“ ist in diesen Texten nicht direkt enthalten, das Wort ,Schwert‘ kommt im Koran kein einziges Mal vor, in der Bibel dagegen sehr oft, aber nicht als ,Schwert aus Licht‘. Im Neuen Testament steht ,Schwert‘ für den Streit, der durch Glaubensunterschiede verursacht wird.15 Das Wort ,Schwert‘ in Klings Gedicht ist neben dem Feuer, das aus dem Turm schlägt und mit einem „schwert aus licht“ assoziiert werden kann, in diesem Sinne Symbol für Religionskrieg. Als Wort Gottes interpretiert, kann das „schwert aus licht“ auch ein Gottesurteil bedeuten. „Manhattan Mundraum Zwei“ weist durch Stichwortnennung auf solche Diskurse hin, interpretiert aber selbst den 11. September keineswegs aus religiöser Sicht. Indem der Text durch die beiden Wörter ,Psalm‘ und ,Sure‘ auf die Schriften der drei großen monotheistischen Religionen hinweist, deutet er auf den Diskurs derer, die den 11. September und seine Folgen als einen Kampf im Namen des Glaubens betrachten. Eine Form der Schrift wird angesprochen, die manchen als Offenbarung und Gesetz gilt. „rachepsalm-partikel“ spielt auf den Gedanken einer religiösen Legitimation von Rache an, wie er beispielsweise im zweiten Teil des 137. Psalms vorhanden ist, wo Vergeltung als Tugend besungen wird.16 ,Lichtsure‘ wird die 24. Sure des Korans, „An-Nur / Das Licht“, genannt. „An-Nur“ handelt nicht vom Dschihad oder von den Differenzen der Religionen, sondern von islaminternen Regeln, vorwiegend zu Kleiderordnung und zum Umgang mit „unzüchtigem“ Verhalten. Mehrere Einschübe betreffen das Bild vom göttlichen Licht als einziger Quelle für menschliche Erkenntnis,17 stehen aber nicht in einem direkten Zusammenhang mit den anderen Versen. Andere Suren benennen das Thema des Religionskrieges, das hier nicht wirklich gestreift wird. Eher als diese bestimmte Sure bezeichnet „lichtsure“ also irgendeinen Korantext und spielt auf die radikal-islamistischen Attentäter an. Die von verschiedensten Denkrichtungen, von Religion, Mystik und Aufklärung für sich beanspruchte Lichtmetapher kann auch allgemein gemeint sein; so steht das „schwert aus licht“ letztlich wohl für den Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein und diese mit Gewalt verkünden zu wollen.
Im dritten Absatz des vierten Gedichtteils bezieht sich „saßen alle alle fest“ auf die Menschen in den Türmen und klingt durch die Wiederholung des Wortes „alle“ wie die Wiedergabe einer von Betroffenen selbst gemachten, verzweifelten Aussage in direkter Rede. Weiter werden dort „palms“ erwähnt. „palms“ ist ein Anagramm zum kurz vorher auftauchenden „psalm“, was einen Nachdruck auf das Sprachmaterial des Gedichts legt und den „Mundraum“ des Titels wieder in den Vordergrund rückt. Ein Palm ist ein tragbarer Rechner, ein Computer für die Handfläche.18 Wie schon bei „algorithmen“ und „loop“ wird Wortschatz aus der Informatik gewählt. Vorstellbar ist, dass das „septemberdatum“ nach dem Doppelpunkt zunächst eine Assoziation zu den „palms“ ist, auf deren Anzeige, ob sie als Terminplaner, Taschenrechner oder Kommunikationsmittel dienen, das Datum zu lesen ist. Was wie eine Notiz beim zufälligen Blick auf den Taschencomputer dargestellt wird – die Zeitangabe –, wird im Wissen darum festgehalten, dass es sich zur Chiffre, zur „signatur“ entwickeln wird. Der terroristische Anschlag geht nicht wie ein Territorialkrieg mit einer Ortsbezeichnung, sondern mit einer Zeitangabe, einer Zahl, mit dem „septemberdatum“ in die Geschichte ein. „die signatur von der geschichte“ erinnert wegen des „von“ an Stelle eines Genitivs an die Formel „die Moral von der Geschicht“.19 So erhält die Formulierung etwas Spruchähnliches, obwohl darin gerade keine ,Weisheit‘ steckt. Es gibt nur die „signatur“, die Bezeichnung des Ereignisses, ohne einen Sinn, der daran festgemacht werden könnte.
Die „augn-zerrschrift“ im letzten Vers wird mit paradoxen Attributen ausgestattet, die wie eine spielerische Variation auf den „wind“ anmuten: „verwehte wehende unverwehte“. Im Kommentar zum ersten Teil wurde auf die metaphorische Bedeutung des Windes hingewiesen, der als göttlicher Sprachfluss und als Dichtersprache verstanden werden kann. Wie der „algorithmenwind“, der diese Bedeutung transportiert und zugleich annuliert, wird auch im 4. Teil durch die „verwehte wehende unverwehte […] augn-zerrschrift“ die traditionelle Geist-Metapher aufgehoben. Das Bild vom naiven, inspirierten Dichter wird gleich mitdestruiert. Die Wörter „verwehte wehende unverwehte“ heben sich semantisch gegenseitig auf. Sie weisen dabei auf den Wind als Zeichen für Vergänglichkeit hin. Eine Schrift wird benannt, die zugleich vergänglich, in Bewegung und dauerhaft ist. Die Schrift ist außerdem eine „loopende“ und „hingeloopte“. Konkret sind diese Eigenschaften nicht auszulegen. Auf der Metaebene könnten sie bedeuten, dass sich das Gedicht in gewissem Maße selbst als eine solche Schrift bezeichnet; es besteht aus ,Loops‘, aus Motiven und Wörtern, die wiederholt werden – wie hier ,Wind‘, ,Schrift‘, ,Loop‘ und ,Augen‘. „augn-zerrschrift“ kann auch darauf abzielen, dass eine unverzerrte, leicht lesbare ,augn-schrift‘ oder „zungnmitschrift“ dieses Geschehens nicht möglich ist.
5
von augen ja!
die augn voller tätigkeit so
saßen wir im hohen ofen fest
im kopf im kopf!
6
konnten nicht weiter und saßen fünf
die lagen auf mir drauf ich ruf wieder an
kam auch schon die
decke
runter20
Emphatisch wiederholt wird das Wort „augen“. Wieder sind die Augen „voller tätigkeit“, was einen artifizielleren Beiklang hat als eine Wendung wie ,in Bewegung‘. In abgewandelter Form aufgenommen wird überdies die Zeile aus dem 4. Teil „saßen alle alle fest –“. Und auch im 6. Teil wird das Festsitzen angedeutet: „konnten nicht weiter und saßen […]“. An dieser Stelle überschlagen sich die Aussagen. Aus dem zu erwartenden Wort ,fest‘ wird „fünf“ und die Verschlimmerung der Situation im Innern des Gebäudes bis zum Einsturz des Turmes wird mitgeteilt. Das Einstürzen der Decke enthält neben seiner konkreten Bedeutung den Gedanken daran, dass auch ,bildlich‘ für viele Menschen die „decke“ eingebrochen ist: dass sich ihr Weltbild mit dem 11. September verändert hat. Der brennende Turm wird als Ofen bezeichnet:
saßen wir im hohen ofen fest
im kopf im kopf!
Anders als der Hochofen, die Produktionsstätte, ist dieser „hohe […] ofen“ für die Gesellschaft Ort des Thinktank, des Braintrust. Das World Trade Center ist der „kopf“ der Wirtschaft und die Wirtschaft „im kopf“.
Im 5. Teil erscheint erstmals das Personalpronomen „wir“. Vom 5. bis zum 9. Teil, genau über eine der vier Doppelseiten, über die sich das Gedicht im Band Sondagen erstreckt, reicht ein Passus, der ein ,Wir‘ und im 6. Teil einmal ein ,Ich‘ zum Subjekt hat. Der gesamte übrige Text führt keinen Sprecher vor. Auch dort, wo nun ein ,Wir‘ oder ein ,Ich‘ auftaucht, wird nicht der Eindruck vermittelt, es handle sich um eine lyrische Sprecherfigur, die sich plötzlich in das Gedicht einschaltet. Mehrere Indizien sprechen dafür, dass die unbestimmte Aussageinstanz fremde – gehörte, gelesene oder erdachte – Stimmen in den Text integriert, ohne diese wirklich selbst sprechen zu lassen: Die Passagen aus der Wir-Perspektive sind neben der sie ankündigenden Zeile „saßen alle alle fest –“ sämtlich im Imperfekt gehalten, wogegen der übrige Text entweder verblos oder im Präsens verfasst ist. Das hebt diese Stellen zunächst als Einschub von Aussagen eines anderen Sprechers hervor, der im Nachhinein seine Erlebnisse erzählt. Doch gleichzeitig suggeriert „ich ruf wieder an“ Unmittelbarkeit und bildet einen Kontrast zur Vergangenheitsform. Wenn diese auf eine Vorzeitigkeit in Bezug auf den Anruf hinweist, ist die panische Hektik, mit der die Bruchstücke einander folgen, nicht zu erklären. „im kopf im kopf!“ kann auch bedeuten, dass ein Sprecher imaginiert, was mit den Menschen in den Türmen geschieht, dass er „im kopf“ mit den Opfern im Turm sitzt. Schließlich fällt an der Sprechweise des ,Wir‘ auf, dass sie an die sprachlichen Eigenheiten und die Motive der anderen Gedichtpassagen angepasst ist, so zum Beispiel „augn voller tätigkeit“. „augn“ erinnert an die anderen Wörter ohne Schwa, „tätigkeit“ an die Wortwahl im ersten Teil. Die Zeilen, die wie direkte Rede klingen, sind nicht collagiert, sondern konstruiert. Hinter ihnen steht die Aussageinstanz, die auch als Sprecherinstanz des übrigen Textes fungiert. Ihr sind allein über ihre Sprache und die Art ihrer Verarbeitung der Thematik gewisse Eigenschaften und Haltungen zuzuschreiben.
In den Kontext der Vermitteltheit der Wir-Perspektive passt der Umstand, dass in den Teilen 7, 8 und 9 bekannte Texte erinnert werden, in denen ein Wir spricht. Es ist dort jeweils ein kollektives Wir, das sich im ,Mundraum‘ Manhattan übergangslos mit dem Wir in den Türmen verbindet.
7
wir lagen an den wassern des hudson
und weineten lichtsure niedrig; aus-
geschlossen es sprechen. Null-
sicht, hatten nullsicht
8
… und siedelten so in der luft
9
licht ging weg nur noch krach
und siedelten so in der luft
wir auf einer insel
unverweht
und allein21
„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten“, klagt das nach Babylon deportierte Volk Israel.22 Mit einem ,a‘ in der Aussprache des Wortes „hudson“ wird die Manhattan-Klage poetisiert; vier ,a‘ in der ersten Zeile verleihen ihr einen liedhaften Klang. Diese lautliche Parallelisierung bewirkt eine Sinnintensivierung: Die Klage erscheint noch ,klagender‘. Das ,e‘ in „weineten“ akzentuiert, dass dieser Satz auf einer schriftlichen und alten Quelle gründet. Das ausgetauschte Wort ,Babel‘, das nicht genannt wird, aber durch den intertextuellen Verweis stark präsent ist, evoziert indirekt den Turmbau von Babel, Symbol der menschlichen Hybris, und dessen Bestrafung. Angespielt wird auf den Diskurs derer, die auch die Twin Towers als Zeichen der Überheblichkeit einer Weltmacht interpretieren. Auch das Bild, das in der Offenbarung des Johannes von der Stadt Babylon gezeichnet wird, das Bild vom reichen Handelszentrum und von der ausschweifenden, verruchten Stadt, die „in einer einzigen Stunde“ untergeht, situiert sich in diesem Rahmen.23 An den Bibelverweis schließt sich abermals der Ausdruck „lichtsure niedrig“ an. Wie im ersten Fall – „rache-psalm-partikel / lichtsure niedrig“ – wird auf die religiösen Schriften hingewiesen und auch diesmal wirft das Wort „niedrig“ Rätsel auf.24
Die Wortkonstellationen des 7. Teils betonen den engen Konnex zwischen syntaktischen und typografischen Merkmalen einerseits und semantischen Assoziationen andererseits. Die hohen Türme bieten keine weite ,aus-sicht‘ mehr, sondern in ihnen herrscht „null-sicht“. Die zwei Zeilenenden auf „aus-“ und „null-“ sind an sich schon bedeutungstragend. Zugleich mit dem Hinweis auf ein Ende oder ein Nichts enthalten sie durch den Bindestrich die Vermutung, dass der Text und das Sprechen nicht an einem Ende angekommen sind. Die Wortfolge „aus- / geschlossen es sprechen.“ zeigt ebenfalls auf sich selbst und impliziert einen derartigen Widerspruch. Die selbstständig gewordene Deklinationsendung „es“25 oder das Pronomen „es“ ermöglichen im Zusammenspiel mit der mehrere Anknüpfungen gestattenden Partikel „aus-“ die Lektüre: ,Es aussprechen ist aus-geschlossen.‘ Und auch ,ausgeschlossenes Sprechen‘ artikuliert eine mit der „nullsicht“ vergleichbare Sprachlosigkeit, eine Sprachunfähigkeit, die aber gerade diesen vielseitigen Sprachexperimenten nicht zu drohen scheint. „geschlossen“ deutet auf das Festsitzen in den Türmen. Und ,geschlossenes Sprechen‘ kennzeichnet „Manhattan Mundraum Zwei“ poetologisch: Obwohl sich beim Lesen des Gedichts zahlreiche Bedeutungen erschließen, hat es eine hermetische Komponente.
Im Anschluss an die splitterhaften Bemerkungen zum Thema des Sprechens verschränken sich heterogene Sprechweisen. „nullsicht“ ist ein bei der Feuerwehr und im Flugverkehr benutztes und hier also mehrfach aktuelles Wort; „licht ging weg nur noch krach“ ist umgangssprachlicher Ton. Ganz anders die zweimal formulierte Aussage: „und siedelten in der luft“. Sie erinnert an eine Zeile aus Paul Celans Gedicht „Todesfuge“: „wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“.26 ,Wir‘, das sind die Juden im Konzentrationslager, deren Aufseher dieselbe Formulierung benutzt:
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Aus diesem intertextuellen Bezug ergeben sich miteinander nicht zu vereinbarende Lektüremöglichkeiten. Erstens: „Manhattan Mundraum Zwei“ zieht eine Parallele zwischen den Amerikanern, dem Volk der Siedler – „siedelten […] auf einer insel“ –, von dem mehrere Tausend Menschen bei einem terroristischen Anschlag von in den USA nie gekanntem Ausmaß umgekommen sind, und dem jüdischen Volk im Zweiten Weltkrieg. Der Text vergleicht den Tod in brennenden und einstürzenden Wolkenkratzern mit dem „Grab in den Lüften“ nach dem Gaskammertod und mit millionenfachem Sterben. Ist dies eine Parallelsetzung, so ist sie unangemessen. Oder zweitens: Der Text vergleicht nicht den 11. September mit etwas anderem. Der Autor ist sich der Problematik des Sprechens über jede Art des Grauens bewusst. Er verarbeitet disparate Sprachpartikeln aus anderen Texten und aus verschiedenen Sprachregistern und Anwendungsbereichen, da ihm nicht eine Form des Sprechens zur Verfügung steht. So begegnen sich Elemente aus der Bibel, dem Koran, einem Gedicht Paul Celans und Goethes Faust,27 und so trifft Alltagssprache – „kam auch schon die / decke / runter“ – auf Fachwortschatz aus dem Bereich der neuen Medien. Aufgegriffen werden Sprechweisen, an die die Aussageinstanz bei ihrer Beschäftigung mit dem Thema des 11. Septembers denkt, kombiniert mit einem ständigen Reflektieren über Wahrnehmungs- und Aufschreibeprozesse und eingefasst in einen bruchstückhaften, bilderreichen Stil. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist der Celan-Intertext ein Erinnern an Celans Sprechen, ein Erinnern freilich, das nicht den Anspruch erhebt, sich mit diesem zu vergleichen.
Neben der Erinnerung bekannter Texte stecken im 7. und 8. Teil Selbstzitate. In Klings Gedicht „löschblatt. bijlmermeer“,28 das über einen Flugzeugabsturz spricht, lautet die letzte Zeile: „und siedelten in der luft“. Im darauf folgenden, zum selben Zyklus („autopilot“) gehörenden Text taucht das Wort „nullsicht“ auf. Nicht nur zu „Manhattan Mundraum“ steht „Manhattan Mundraum Zwei“ in zitierendem Verhältnis, sondern auch zu anderen Texten des Autors.
Das Wir, das „in der luft“ siedelt, bezeichnet sich am Ende des 9. Teils als unverweht / und allein“. Daran angefügt wird im sehr kurzen 10. Teil eine enigmatische Formulierung:
10
als kurzes mehl29
Als Ergänzung zum ,Wir‘ ist „als kurzes mehl“ wenig aufschlussreich. „mehl“ als einzelnes, aus seinem syntaktischen Kontext entferntes Wort, gehört in einen Bildkomplex mit „paniert“ (Teil 1) und „ofen“ (Teil 5). Des Weiteren ist im 13. Teil von „todten mehl“ und „totnmehl“ die Rede, was „mehl“ zu einer Metapher für Asche macht. Wie „mehl“ sieht außerdem die weiße Schicht aus, die den Ort des Geschehens bedeckt.30 Die Schreibweise ,Mehl‘ für ,Mail‘, für ,E-Mail‘ also ist im Slang der Internetbenutzer weit verbreitet und sowohl im Femininum als auch im Neutrum anzutreffen. Hier hat auch das Adjektiv ,kurz‘, das in der Verbindung mit Asche keinen Sinn ergibt, eine Funktion. Das Gedicht ist wieder im Bereich der Medien und insbesondere des Computers angekommen. „Ein kurzes mehl“ thematisiert die schnelle Informationsvermittlung und aufs Neue die Schrift.
11
ein kurzes mehl, dann, unterm profil, darin die zeugenvorschrift,
der vorname, und der gelegentlich fotografierte wird ein engel
genannt; ein luftsiedler; stylitinnen – wie hier steht. eine äugende
(glimmende), eine geloopte schrift. in die passant ein helfer oder
retter sogenannter augenzeuge nur so ebenhin, vorübergehend –
laufstop eher – DAS DATUM eingegeben hat; auf autoheck die
zahlenreihe: DAS GESCHICHTSBILDMANHATTANS TO-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaTER TRAKT31
Aus der verwirrenden Mixtur aus bereits bekannten Versatzstücken und neuem Sprachmaterial im 11. Teil sind vage Themenkreise herauszulesen: Unter anderem geht es um eine Fotografie, möglicherweise die eines Opfers – „profil“, „vorname“ „engel“ –, um einen „helfer oder / retter“ und um „DAS DATUM“, das ausgerechnet im 11. Teil wieder erscheint.
Der Text steht in einem dialogischen Verhältnis zu sich selbst. Zahlreiche Wörter stammen aus vorhergehenden Teilen und sind leicht verändert worden: „kurzes mehl“, „geloopte schrift“, „augenzeuge“, „äugend“, „DAS DATUM“, „autoheck“. Das „GESCHICHTSBILD“ nimmt die „signatur / von der geschichte“ wieder auf, „TO- / TER TRAKT“ zitiert die beiden ersten Wörter des Gedichts, aus der „zeugenschrift“ ist eine „zeugenvorschrift“ geworden und „siedelten in der Iuft“ hat sich zu „luftsiedler“ entwickelt. „luftsiedler“ und „stylitinnen“ sind eng verbunden: Ein Stylit,32 ein Säulensteher, wohnt wörtlich in der Luft. Er ist ein Einsiedler und erinnert an mehrere Wörter aus Teil 9: „und siedelten so in der luft / wir auf einer insel / unverweht / und allein“ (meine Hervorhebung). „stylitinnen“ bezieht sich auch auf den ersten „Manhattan Mundraum“-Zyklus. Dort bezeichnen Styliten bei der Stadtbeschreibung die Menschen im beziehungsweise auf dem oberen Stockwerk eines Hochhauses oder die Hochhäuser selbst.33 Warum in „Manhattan Mundraum Zwei“ eine weibliche Variante der Säulensteher auftaucht, bleibt unklar. Neben den aus anderen Gedichtteilen aufgegriffenen Wörtern fallen im 11. Teil weiterhin Begriffe aus dem Medienbereich auf. Das Geschehen und seine mediale Verdopplung werden so ineinander verschränkt dargestellt, dass mitunter alles zum Schriftzeichen wird: „wie hier steht“, „eine / äugende / (glimmende), eine geloopte schrift“, „die zahlenreihe“. In diesem Teil könnte es sich um den – allerdings bereits stark rationalisierten – Bewusstseinsstrom eines Zeitungs- oder Bildschirmlesenden handeln, der Elemente aus Lektüre, Bilderbetrachtung und eigenen Gedanken wild durcheinander wirbeln lässt. Das Ganze ist mit dem folgenden Teil als ,Partikeltanz‘ zu bezeichnen.
12
das tanzt – partikeltanz – vor diesen
glimmenden geloopten augen34
Verglichen mit Paul Celans „Partikelgestöber“35 zeichnet sich das Wort „partikeltanz“ durch einen geringeren existenziellen Ernst aus. Ihm ist ein eher spielerischer Aspekt eigen. In Celans Text erscheint der Begriff „Partikelgestöber“ in einem stark autoreferenziellen Sprechen, und auch Klings „partikeltanz“ ist ein Sprachpartikeltanz: Im 12. Teil sind die Augen „glimmend“ und „geloopt“, im 11. war noch die Schrift „äugend“, „glimmend“ und „geloopt“. Eigenschaften werden ausgetauscht, Sprachelemente „tanzen“ und führen zu neuen Verbindungen. Sie bewegen sich aber stets in denselben Bedeutungsfeldern, weisen auf Schrift, Wahrnehmung und Sprache und sprechen Gedanken aus die auch auf das Gedicht zutreffen. Das Wort „partikeltanz“ selbst exemplifiziert diesen Vorgang: Während dieses Wort die Kompositionsweise des Gedichts und seine Sprache, die „loopende“ Schrift in den Medien sowie die Trümmer und Staubteile bezeichnet, besteht „partikeltanz“ aus schon benutzten ,Partikeln‘: Die Wörter „rache-psalm-partikel“ (Teil 4) und „TOTENTÄNZE“ (erstes Motto) liefern die Versatzstücke für dieses Kompositum.
Der Ausruf „ACH“ leitet den 13. Teil ein und wird in dessen zweitem Vers wiederholt. Vor der Folie des kühlen Tons von „Manhattan Mundraum Zwei“ wirkt das „ACH“ wie ein Bruch. Es klingt nach einem leicht ironisierten Zitat der lyrisch-empfindsamen Tradition, einem Zitat zwischen Pathos und Pose. Zugleich wirft es die Frage danach auf, ob das Gedicht angesichts der Katastrophe, zu deren sprachlicher Beschreibung die Worte fehlen, nicht doch wieder ,ach‘ sagen kann.
13
ACH der stumme finger ist der pilger, der vorüberhastet, der sich einzuschreiben
weiß ins leise lack-zerkratzen, ins todten mehl, ach! in dies totnmehl hinein.
14
nothelfer36
Ähnlich wie der 12. prägt der 13. Teil rätselhafte Bilder aus dem Feld der Schrift. Die Wörter ,Finger‘, ,einschreiben‘ und „lack-zerkratzen“ weisen auf den materiellen Prozess von Schreiben und Gravieren, „lack-zerkratzen“ lässt an die Schrift „auf autoheck“ denken. Geschrieben wird in die Asche und in den Staub, ins ,Totenmehl‘, das als „todten mehl“ und „totnmehl“ in alter Schreibung sowie in lautlich umgeschriebenem Slangstil die Situierung der Schrift in der Zeit vergegenwärtigt. Offen bleibt die Bedeutung des „stumme[n]“ – schreibenden und nicht sprechenden, vielleicht mahnenden – Fingers, der ein Pilger genannt wird. Assoziieren lässt er sich mit dem einzigen Wort des 14. Teiles: „nothelfer“. Soll sich der Leser einen ,vorüberhastenden‘ Helfer vorstellen, der zum Ort des Geschehens ,pilgert‘, in das er sich dann als „stumme[r] finger“ einschreibt, „leise“, ohne Aufsehen zu erregen? Und der dabei am Lack einer glatten Oberfläche kratzt? Oder wird gezeigt, dass der ,Finger Gottes‘, der Heilige Geist, „stumm“ ist, dass hier also jegliche Transzendenz fehlt? Der „stumme finger“ erinnert auch an die Finger, die das Menetekel an die Wand im Palast des babylonischen Königs Belschazzar schreiben.37 Eine durchaus ironische Note hat eine der zahlreichen Anspielungen auf Religiöses im 14. Teil. Dieser evoziert neben den Helfern in New York die vierzehn Nothelfer der katholischen Tradition, die zu allen möglichen Gelegenheiten, jeder Heilige mit einem anderen Zuständigkeitsbereich, angerufen werden. Hier wird deutlich, dass die Nummern der Gedichtteile nicht willkürlich sind; wie im 11. Teil ist die Zahl hier anspielungsreich. Das Menetekel, der „stumme finger“, passt auch zum 15. Teil. Es gibt eine „neue“ ,Schrift an der Wand‘:
15
neue kryptografie. listen.
nachbildbeschleunigung.
flügel sichtbar und
spürbar der flügelgeschraubte kopf;
und zwar partikelkopf: das limbische system
schlägt zu; memoria-maschinchen angefacht.
ihr unglücklichen augen38
„neue kryptografie“ greift außerdem wieder das Thema Schrift auf und deutet auf das Gedicht, das selbst eine Art Geheimschrift ist. In Verbindung mit dem Wort „listen“ verweist die Rätselschrift auch auf die Fahndungen nach den Verantwortlichen des Anschlags. Ein Nachbild ist ein Bild, das man nach dem Schließen der Augen oder nach dem Aufhören eines optischen Reizes noch sieht. Es kann in denselben Farben, in den Kontrastfarben des zuvor gesehenen Bildes oder auch als schattenhaftes Bewegungsnachbild wahrgenommen werden. Im übertragenen Sinne suggeriert „nachbildbeschleunigung“, dass die Bilder den Augenzeugen auch dann noch verfolgen – „sichtbar und / spürbar“, wie es in der dritten und vierten Zeile heißt –, wenn er sie nicht mehr sieht, und dass sie in schneller Folge vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Auf Vorgänge im Gehirn verweisen zwei weitere Begriffe,39 „das limbische system“ und „memoria-maschinchen“. Beim limbischen System handelt es sich um ein „Randgebiet zwischen Großhirn und Gehirnstamm, das die hormonale Steuerung und das vegetative Nervensystem beeinflusst und von dem gefühlsmäßige Reaktionen auf Umweltreize ausgehen“.40 In „Manhattan Mundraum Zwei“ „schlägt“ es „zu“, das Ereignis erzeugt Angst und Panik. Dass der Limbus (lat. Rand, Saum) die Vorhölle bezeichnet, passt in diesen Kontext. Eine rationalisierte Seite der Gehirntätigkeit kommt in „memoria-maschinchen angefacht“ zum Ausdruck: Die Aussageinstanz vergleicht den Erinnerungsvorgang in familiär klingender Diminutivform mit einer Maschine, die zum Arbeiten gebracht wird. Kühl reflektiert sie darüber und spricht dennoch, der Metaphorik des Feuers folgend, von einem ,Anfachen‘. Der Ausruf „ihr unglücklichen augen“ kann ein Produkt solchen Erinnerns sein. Die Aussageinstanz sucht nach Worten, um sprachlich auf das Geschehen des 11. Septembers zu reagieren, setzt ihre ,Erinnerungsmaschine‘ in Bewegung und findet im Gedächtnis: ein Gedicht aus Goethes Faust.41 Im 5. Akt von Faust II blickt der Turmwächter Lynkeus42 in die nächtliche Landschaft und besingt, was er sieht. „Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei wie es wolle, / Es war doch so schön!“43 Gleich nachdem er diese Worte ausgesprochen hat, erblickt er die brennende Hütte des alten Ehepaars Philemon und Baucis und seine Freude wandelt sich in Entsetzen. Im 15. Teil von „Manhattan Mundraum Zwei“ ist die Sprecherperspektive ebenfalls meist die eines Zuschauers, die Blickrichtung verläuft aber umgekehrt: Augen sehen nicht von einem Turm herab auf ein Feuer, sondern von unten auf die brennenden Türme. Das „memoria-maschinchen“ kann auch für das Gedicht selbst stehen, das ein Hilfsmittel zum Sich-Erinnern ist.
16
lichtsure niedrig,
niedrig preussag und münchner rück44
Zum dritten Mal heißt es „lichtsure niedrig“. An dieser Stelle wird die Wendung gedeutet. Die „lichtsure“ ist im Kurs gefallen, wie nun auch die PREUSSAG AG, der weltweit führende Touristikkonzern für (Flug-)Reisen, und der Riesenkonzern Münchner Rück, die Versicherungsgesellschaft für große Risiken (wie Naturkatastrophen), im Kurs fallen. Nach dem Anschlag verliert der Islam, hier metonymisch in der „lichtsure“ benannt, in vielen Kreisen an Wert; oft wird er pauschal diabolisiert. Die Wahl der Namen „preussag“ und „münchner rück“ aus der Fülle der Firmen, deren Aktien nach dem 11. September 2001 sinken, hebt die deutsche und allgemein europäische Perspektive der Aussageinstanz hervor und ist natürlich exemplarisch, da damit die am stärksten betroffenen Wirtschaftszweige benannt werden. Der 17. Teil hingegen zeichnet ebenso gut die Situation der Menschen in New York, die zu Hause ankommen. Das Spülen der Augen antwortet auf die ,Augen voller Tätigkeit‘ und die zahlreichen Formulierungen für angestrengtes Schauen. Der 17. Teil greift schon Besprochenes wieder auf – wie ,Wind‘ oder ,loopende Partikel‘ – und bringt das Bild des Mundraums mit Metaphern für den Tod in Verbindung. Und der 18. Teil fasst „alles“ noch einmal explizit unter den Begriff aus dem Gedichttitel.
17
es geht der wind übers gelände. gepfählter granit. die loopende,45
partikel. oder zungen, die in schlünde sinken in erstickter
schlucht. um einfach auszuruhen; um augen zu spülen; die
wäsche zu wechseln; überhaupt die wohnung zu betreten,
wieder. endlich.
18
dies alles mundraum.46
Die drei letzten Teile sprechen in gedämpftem Tonfall. Sie erschaffen keine komplizierten Bilder und Wörter, sondern wiederholen bereits Gesagtes und kehren ,loopend‘ zum Ausgangspunkt des Gedichts zurück.
19
stylitenwald
sinkt und sinkt auf viele
schultern, daumendick.
20
dies bittere mehl, darüber wind geht,
leiser algorithmen-wind
der wind von
manhattan
21
aaaaaaaaaaaaaach! vom hudson wehend
kommt der wind47
Im 17. Teil sinken Zungen in Schlünde, im 19. Teil sinkt „stylitenwald“, die konkrete Last der Trümmer und die psychische Last des Ereignisses, „auf viele schultern“. Das 21-teilige Gedicht schließt mit dem Wort „wind“, das in den beiden letzten Teilen insgesamt viermal genannt wird, einmal in der Form des „algorithmen-wind[es]“ aus dem allerersten Vers. Einzig im 21. Teil ist die Schrift vom linken Zeilenrand abgesetzt. Das zum dritten Mal klagende „ach!“ setzt nach einer Leerstelle ein. Diese erzeugt ein kurzes Oszillieren zwischen Schweigen und Sprechen. Zu einem Bruch führt sie nicht.
Indra Noël, in Indra Noël: Sprachreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005, Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2007
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