Ingeborg Bachmann: Poesiealbum 350

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Ingeborg Bachmann: Poesiealbum 350

Bachmann/Klimt-Poesiealbum 350

FRÜHER MITTAG

Still grünt die Linde im eröffneten Sommer,
weit aus den Städten gerückt, flirrt
der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag,
schon regt sieh im Brunnen der Strahl,
schon hebt sich unter den Scherben
des Märchenvogels geschundener Flügel,
und die vom Steinwurf entstellte Hand
sinkt ins erwachende Korn.

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß
und reicht dir die Schüssel des Herzens.

Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.

Sieben Jahre später
fällt es dir wieder ein,
am Brunnen vor dem Tore,
blick nicht zu tief hinein,
die Augen gehen dir über.

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken.

Schon ist Mittag, in der Asche
krümmt sich das Eisen, auf den Dorn
ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen
uralten Traums bleibt fortan
der Adler geschmiedet.

Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.

Lös ihr die Fessel, führ sie
die Halde herab, leg ihr
die Hand auf das Aug, daß sie
kein Schatten versengt!

Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt,
sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen,
eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt.

Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land:
schon ist Mittag.

 

 

 

Ingeborg Bachmann

Ihre Erfahrungen mit der Welt waren vor allem die Verkümmerungen des Menschseins: das Einander-nicht-Verstehen, das Nicht-Verstanden-Werden, die vergebliche Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe. Kühn und rückhaltlos stellt sie in ihren Gedichten dieses defizitäre Erleben dar, um mittels und in der Poesie zu (über)leben. Sie griff Bastionen des Patriarchalen an, siegte und scheiterte in einem. Ihr Schmerz, durch die gesellschaftliche Wirklichkeit der Nachkriegszeit katalysiert, ist – bei allem dramatischen Bekenntnis von Angst, Verlorenheit, Krankheit, Verzweiflung – stets genau gestaltet.

Ankündigung in Alfred Grünewald: Poesiealbum 349, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2019

Stimmen zur Autorin

Sie war eine brillante Intellektuelle, die in ihrer Poesie weder Sinnlichkeit einbüßte noch Abstraktion vernachlässigte.
Heinrich Böll

Sie ist die vielleicht bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin unseres Jahrhunderts.
Marcel Reich- Ranicki

Zu den Autorinnen der „inneren Emigration“ oder zu denen, die nach dem Kriegsende mit vielbeachteter Lyrik im Anschluß an die Moderne hervortraten, gehören Ingeborg Bachmann und andere sowie später Ilse Aichinger.
Gisela Brinker-Gabler

In ihren Gedichten schwingt immer so eine Leidenschaft mit, ein Gefühl. Sehr oft ist sie trotzig, niemals ist sie kitschig. Immer ist sie irgendwie radikal.
Janine Rumrich

Ingeborg Bachmann war nicht irgendeine Dichterin, sondern die „kapriziöse Prinzessin des Literaturbetriebs“, eine große, visionäre Lyrikerin.
Joachim Kaiser

Adornos Diktum, daß es barbarisch sei nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, widerlegte Bachmann als erste Frau der Nachkriegsliteratur des deutschsprachigen Raumes, die mit radikal poetischen Mitteln das Weiterwirken des Krieges, der Folter, der Vernichtung in der Gesellschaft, in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen beschrieben hat.
Elfriede Jelinek

Ingeborg Bachmanns Humor, ihre Begabung zur Freundschaft, ihre Vielsprachig- und Weitläufigkeit, ihre Lust an Inszenierung, an Weiblichkeit und Intellektualität und schließlich die enorme Kraft, die von ihrer Persönlichkeit ausging, können offenbar erst jetzt richtig entdeckt werden.
Eva Menasse

Sie schrieb ohne Rahmspritze.
Hans Magnus Enzensberger

Ihre Gedichte gehören zum gesicherten Kulturgut deutscher Poesie und haben längst Einzug in Anthologien und Schulbücher gefunden; sie zerren immer noch an den Nerven der Leser, sie rühren an und packen uns mit ihrer inneren Spannung, durch welche die subtilen poetischen Bilder ihre Faszination behalten. Nicht umsonst wurde immer wieder vom „Nachkriegston“ der Bachmann gesprochen. Zugleich beschäftigte sich ein großer Teil der Rezeption, die oft restaurativen Tendenzen unterlag, sehr gerne mit dem scheinbar zeitlos Schönen ihrer Gedichte, um sich nur nicht mit den brutalen geschichtlichen Erfahrungen des Faschismus herumschlagen zu müssen, dessen Hinterlassenschaft für die Autorin so unerträglich gewesen ist.
Ria Endres

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2019

Poesiealbum 350

Als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts stand es Ingeborg Bachmann zu, ein optimistisches Welt- und Selbstverständnis gnadenlos zu den Utopien zu legen. Sie geriet zur Ikone, zum Mythos und war gleichsam eine von unerfüllbaren Träumen überwältigte und überwältigende Realistin.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2019

 

Nachmittagstee in der Via Bocca di Leone

I. B. deutete lachend auf meine lila, hellgrün und rosa gemusterte Tunika: Wir sind komplementär! sagte sie und zog ihre, beide Hände am Saum, zum Beweis in die Länge, so daß sie dastand wie Sterntaler mit der Schürze. Als könnten Sätze hinabstürzen und sie reich machen.
Aber es war ein sehr heißer Julitag, der schwieg, still wie die Wüste, die Sonne hoch am Himmel. Rom vibrierte, das sah man an den Oleanderblüten, die, bei völliger Windstille, kaum wahrnehmbar zitterten: im Takt der Stadt.
Auf dem porösen, gepflasterten Terrassenboden verdunstete gerade ein Gedicht: Ich hab’s mit dem Wasserschlauch geschrieben, sagte I. B. und wies auf den langen Gartenschlauch, der wie eine zusammengeringelte Anaconda in der Ecke lauerte.

zwischen Rosen und Schatten in einem fremden Wasser mein Schatten

In fünf Minuten, spätestens; wird die Sonne es gelöscht haben. I. B. schüttelte ihr Haar. T’immagini!
Es lichtet sich, sagte ich und trat zum Tisch, weg von den Rosen unter meinen Füßen. Aber es kehrt mit jedem Regen zurück.
Wir setzten uns an den kleinen Tisch, der auf sehr dünnen Beinen die dickbauchige Teekanne und Zuckerdose stemmte und bei jedem Umrühren die Knie durchdrückte, standhaft. Eigentlich, sagte ich, herrscht hier ein Licht wie in Kärnten, so – I. B. beugte sich zu mir und leerte einen gehäuften Löffel Zucker in meine Tasse – so großzügig, so mit vollen Händen ausgeschüttet.
Rationiert wird in diesem Land nichts, das stimmt, und wenn Sie statt Kärnten Carinzia sagen, dann gebe ich Ihnen recht.

Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen.

Manchmal, I. B. lächelte, schaute prüfend, manchmal hilft das Ausweichen in einen eingeborenen Klang, der nicht der angeborene ist.
Ich lächelte zurück, auf unseren Scheiteln brannte die Sonne, wir schlürften den heißen Tee aus den Porzellantäßchen mit aufgemalter mittelalterlicher Städteansicht – ein Fachwerkhaus, ein Marktplatz, ein Brunnen – ist das nicht ein Pretext, eine Ausrede, fragte ich, ach, sagte I. B., Asyle unterscheiden sich natürlich, die englischen sind vielleicht nicht so gastlich. Und die echten Behausungen – die, die wir nur ahnen, die, die wir gerne bieten würden, die, die nicht nur Herberge, sondern auch Bollwerk wären, ja, die… Sie machte eine Handbewegung in Richtung des verschwundenen Gedichts.
An den Fingerkuppen schmolz die Schokolade der Kekse, sie sahen aus wie kleine Mohrenköpfe. Wir müssen die biscotti verschlingen! rief I. B., von wegen zweimal gebacken, alles zerrinnt. Sie machte auf der weißen Serviette ordentliche Fingerabdrücke, ich auch, und dann verglichen wir sie, tauschten die Servietten: mal sehen, was das Schicksal dazu sagt!
Was machen Sie beruflich? Tee wurde nachgeschenkt.
Ich dolmetsche, antwortete ich, trank in weniger vorsichtigen Schlucken den mittlerweile lauwarmen Tee aus dem Brunnentäßchen, in Rom bin ich zum Vergnügen, vacanze, Leere. Ein gutes Gefühl.
Man kann doch nicht über dem Herumziehen in allen Sprachen und Gegenden das Weinen verlernt haben, I. B. schaute mich über den Tassenrand an, als fordere sie Verzweiflung anstelle von Wendigkeit, die Farben der Tunika leuchteten in ihrem Gesicht wider, beinah zornig.
Aber auch an einem Ort zu bleiben hilft ja nichts – ich stellte meine Tasse heftig ab – hat ja keine Bedeutung. Grenzen trennen, Grenzen schützen. Utopie, Traum: Überschreitung der Grenzen, Trauma: Mißachtung der Grenzen: Alles müssen wir selbst laden, irgendwie, gut oder schlecht, die Pole sind frei, ein semantisches Niemandsland.
I. B. nickte ein bißchen, ja, das ist alles noch gar nicht lange her, das wildgewordene Arbiträre und das höllisch Zwingende, das es, im Anschluß, ergab. Sie zeigte wieder auf die in der Sonne längst gedörrte Textstelle, soll ich ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten? Dann doch lieber dolmetschen! Man kennt sich nicht aus, und das gibt man mit auf den Weg, tutte le direzioni – nicht schlecht als Orientierung.
Als wir uns mit einer synchronen Bewegung eine Haarsträhne hinters Ohr legten, mußten wir lachen, und I. B. fragte: Schreiben Sie eigentlich mit? Sind Sie mehr eine Leserin? Oder haben Sie einen Auftrag?
Das, erwiderte ich, weiß ich selbst nicht so recht, vermutlich muß ich auf alle Fragen mit Ja antworten, dann ist es schon beinah die ganze Wahrheit. Bei Nein käme übrigens dasselbe heraus.
Über dem Oleanderbusch mit seinen dolchspitzen, dunkelgrünen Blättern taumelte eine Schar Schmetterlinge, gelblich die meisten, einige mit wild-psychedelischer Musterung auf den Flügeln – eine Musterung, die zu unseren Tunikas paßte. Wie zufällig ließen die Schmetterlinge sich, wenn sie sie streiften, kurz auf den Blüten nieder – daß sie mit ihren Rüsseln Nektar saugten, geschah unsichtbar geschwind: vor unseren Augen, für unsere Augen war es bloß ein Tanz, ein Juli-Fest, eine Sommer-Liturgie.
Daß sie sich nicht fürchteten in der Straße des Löwenmauls!
Haben Sie Feuer? fragte I. B. und stieß einen langen Seufzer aus – als wollte sie den Abstand zur letzten Zigarette damit messen.
Nein, ich rauche nicht.
Dann machen wir es wie gehabt. Sie stand auf, ich sah sie durch die Terrassentür in die Küche treten, dann verlor ich sie im Dunkel des dahinterliegenden Raums. Wenig später trat sie wieder hinaus in das gleißende Licht, die Augen zugekniffen! Hier! Sie wedelte mit einem Blatt Papier, ich sprang auf, als gäbe es Anlaß, alarmiert zu sein.
Damit entzünden wir sie, sagte I. B. und reichte mir das Blatt.

BOTSCHAFT

Aus der leichenwarmen Vorhalle des Himmels tritt die Sonne
Es sind dort nicht die Unsterblichen
sondern die Gefallenen, vernehmen wir.

Und Glanz kehrt sich nicht an Verwesung. Unsere Gottheit,
die Geschichte, hat uns ein Grab bestellt,
aus dem es keine Auferstehung gibt.

Ich nahm die Botschaft, wir gingen gemeinsam in die Küche, räumten Zeitschriften und Zeitungen weg aus der unmittelbaren Nähe der Herdplatte und stellten sie auf die höchste Stufe. Als sie rot glühte, rollte I. B. das Gedicht wie ein Papyrus auf und begann den Rand zu verkohlen. Erst kroch die Hitze ohne Flammen, wie der Gilb antiker Spuren, von Strophe zu Strophe, schließlich züngelten blaßbläuliche Flämmchen, und I. B. hielt die Zigarette hinein, inhalierte tief, sagte, ein gutes Gedicht, die Falten von der Nase zu den Mundwinkeln scharf im Seitenlicht, wie Gräben, die man als Fluchtwege entlang der Hauptstraßen zieht. Das große schwarze Z der Zuckerschachtel auf dem Regal über unseren Köpfen sah bedrohlich aus, wie die Warnung vor einer fatalen Seuche: P für Pest, C für Cholera, D für Depression. Man könnte das Alphabet spielend damit füllen.
Parla italiano?
Bevor ich antworten konnte, winkte sie ab, trat auf die Terrasse hinaus und hielt sich diesmal statt der Augen die Ohren zu, dort, wo die Sprachbrüche stattfanden.
Ich auch, so what? Sie klopfte die Asche ab, wir setzten uns nebeneinander, das Gesicht zur tieferstehenden Sonne gewandt, die Arme matt auf den Lehnen, die Tunikas müde.
Jetzt, da wir schwiegen, trommelte Rom, jetzt, da wir schwiegen, wisperte Galicien. Jetzt, da wir schwiegen, hörte man die Schmetterlinge.
Zum Glück sind die Dolmetscher entlassen.
Sagte ich? Sagte sie? Wer will das schon unterscheiden auf einer Terrasse in Rom, im Juli, mitten im Leben, die grünen Fensterläden heiter, vom Beschatten nicht im geringsten erschöpft.

Dagmar Leupold, aus Reinhard Baumgart und Thomas Tebbe (Hrsg.): Einsam sind alle Brücken, Piper Verlag, 2001

Ingeborg Bachmann

Vor zehn Jahren kam Ingeborg Bachmann an die große Glocke, die von der Gruppe 47 geschwungen wird. Ein nahezu unbekanntes, schüchternes Mädchen erhielt den Literaturpreis der bekannten selbstbewußten Interessengemeinschaft, die sich damit qualifizierte. Denn im folgenden Jahrzehnt bekam Ingeborg Bachmann vier weitere Preise, schwoll ihr stiller, aber obstinater Ton zur Unüberhörbarkeit an. Dieser Ton wurde kolportiert und kopiert; die Quantität der Lobpreisungen überragt die Quantität der gepriesenen Arbeiten erheblich. Tant de bruit sur une omelette! Aber gute Omelettes sind selten. Zwei dünne Bändchen sind die Lärmquelle, phantastisch und doch präzise Warnungen, die intensive und bündige Beschreibung der Gefühlswelt vor Wandlung oder Untergang. Inzwischen ließ Ingeborg Bachmann jahrelang auf neue Gedichte warten; sie reiste viel und erklomm zum Wintersemester 1959/60 als erste den Lehrstuhl für Poetik in Frankfurt am Main. Dort dozierte sie über „Literatur als Utopie“:

Und der verändern wollende Dichter, wieviel steht ihm frei und wieviel nicht?… Es gibt ein Drama für ihn, das erst unserer Zeit ganz offenbar geworden ist: Weil er das ganze Unglück des Menschen und der Welt im Auge hat, scheint es, als sanktioniere er dieses Unglück, scheint es, als verfehle er die gewünschte Wirkung. Weil er den Blick auf das ganze Unglück verstattet, scheint zugelassen, daß auch das Veränderbare nicht verändert wird. Man sieht den Schaum vor seinem Mund und man applaudiert ihm. Nichts rührt sich, nur dieser fatale Applaus. Und ich vermute, daß durch die vielen spielerischen Schocks die einem Publikum seit Jahren zugefügt werden, eine Gewöhnung eingetreten ist, eine Abstumpfung oder eine Sucht, wie nach einer Droge, ein wenig schockiert zu werden. Nur der größte Ernst und der Kampf gegen den Mißbrauch ursprünglicher großer Leiderfahrungen könnten uns helfen, es aus seiner phantastischen Lethargie zu wecken. „Das Volk braucht Poesie wie das Brot“ – diesen rührenden Satz, einen Wunschsatz wohl, hat Simone Weil einmal niedergeschrieben… Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen.

Die Welterklärung Ingeborg Bachmanns ist teils gereimt, teils ungereimt, so logisch wie unlogisch, stets lyrisch, auch wenn sich die Texte als Erzählungen oder Hörspiele geben. Die beiden Versbände sind im wesentlichen auf die gleiche raunende Tonart gestimmt: sibyllinische Beschwörung, Versuch der Bannung per Spruch, Schwermut und Trauer.
Das Hauptreservoir der Metaphern liefert die Natur, die auch als Schutzmacht und Trösterin auftritt:

Was auch geschieht: die verheerte Welt
sinkt in die Dämmerung zurück,
einen Schlaftrunk halten die Wälder bereit…

Diese Haltung kulminiert in Pan-Anthropomorphismus:

Wir waren leicht als Vögel, schwer als Bäume,
kühn als Delphin und still als Vogelei.

Die Metaphern neigen dazu, assoziativ ineinander zu gleiten. Vögel sind wichtige Requisiten; am beliebtesten ist die Eule. Die Landschaften sind panisch, die Ortsangaben ungenau: Süden und Norden, Nebelland, Scherbenhügel, Küsten, Seen, Inseln, ein toter Hafen. Objektive Bezeichnungen wie Neapel, Harlem, Rom, Apulien werden subjektiv aufgeladen und dadurch Vehikel jener prekären Gefühlswelt.
Die Themen der beiden Versbände ähneln einander:

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

[Die gestundete Zeit]

O Zeit gestundet, Zeit uns überlassen!
Was ich vergaß, hat glänzend mich berührt.

[Anrufung des großen Bären]

Die Auseinandersetzung mit der „Nachgeburt der Schrecken“ tritt in der Anrufung zurück, der erste Band enthielt direktere Satire. Neuerdings wird der Untergang in allgemeineren Wendungen beschworen. Es blieb die gleiche Fatalität: „Wir wissen, / daß wir des Kontinentes Gefangene bleiben“ [Zeit], „ohne Hoffnung, denn ich soll nicht entkommen [Anrufung]. Die Liebe rückt ins Zentrum, auch in Abarten. Und immer wieder wird „das Wort“, beschworen. „Mein Wort, errette mich!“ [Anrufung]. Verstärkt sind auch die Hoffnungs-Töne, meist als Aussicht auf eine Mission: „Wir werden Zeugen sein“ [Anrufung]. Mit diesem Motiv klingt der zweite Gedichtband aus:

Doch das Lied überm Staub danach
wird uns übersteigen.

So eigenartig auch der Klang, ist Ingeborg Bachmann doch nicht aus der Tradition gefallen. Schwache Anklänge an Loerke, Benn, Trakl, Hofmannsthal, Lasker-Schüler machen sich bemerkbar.
Die späteren Gedichte sind nicht mehr so informell wie die frühen, doch der Anschein der Natürlichkeit ist meist gewahrt. Die kunstvoll natürliche Verbindung zwischen Intellektualität und Poesie ist immer wieder erstaunlich. Zunächst gab es fast nur sinngemäße Phrasierungen, die Zeilenbrechung wurde vom Inhalt, nicht von Hebungen und Senkungen bestimmt. Wo Versmaß auftaucht, wird es später recht regelmäßig gehandhabt, auch der relativ umständliche Daktylus [„Scherbenhügel“]. Wenn gereimt, dann meist alternierend, wobei Reimträger meist stumpf [katalektisch] enden. Ein komplizierteres Reimschema taucht in „Am Akragas“ auf [abbaa]. Klingende Zeilenenden werden gern assonant. Statt Reime manchmal Wortwiederholungen; sie wirken lapidar [in „Lieder von einer Insel“].
Formal und inhaltlich eng verwandt sind die Prosaarbeiten. Grenzfälle, paradigmatische Ausbruchsversuche sind sozusagen das kleinste gemeinschaftliche Vielfache. In den beiden Hörspielen wird Vergessen gesucht, ein neuer Robinson und ein Liebespaar treten aus der Gesellschaft aus. Beide Male ein unhappy end: den Entlaufenen holt seine Frau; die Liebende wird vom Ordnungshüter dem „guten Gott“ umgebracht, doch der Liebhaber bleibt am Leben, weil er „plötzlich… Lust verspürte… zu denken, wie er früher gedacht hatte, und zu reden, wie er früher geredet hatte an Orten, die ihn nichts angingen und zu Menschen, die ihn auch nichts angingen“. Auch beim Hörspiel zeigt sich ein Fortschritt zum Komplizierten. Beide Male noch der probate Erzähler. In den „Zikaden“ als Komplikation nur streng parallelisierte Zwischenspiele; im „guten Gott“ nimmt die Konstruktion an der vermehrten Bedeutungsfülle teil: purgierender Aufstieg aus der Unterwelt [der Grand Central Station] ins Zwischenreich des 57. Himmels der Liebe [alias Stockwerk des Hotels].
Auch die Revolten in den sogenannten Erzählungen scheitern. Mit einem lockenden „Komm“ endet die Lossagung der Undine. Der Richter verzweifelt daran, die Wahrheit zu finden. Die Pianistin findet nach lesbischer Verlockung ins gewohnte Leben zurück. Der Stammtischler beschließt, Verzweiflung, Rachsucht und Zorn für immer zu verbergen. Der Vater wird künftig wieder Kinder erziehen, „wie die Zeit es erfordert, halb für die wölfische Praxis, halb auf die Idee der Sittlichkeit hin“. Der Dreißigjährige akzeptiert sein Los.
Natürlich hätte diese femme revoltée die Revolten auf dem Papier siegen lassen können, sie hätte damit bei normalen Lesern größere Befriedigung ausgelöst. Dem stand sicher ihre Ehrlichkeit entgegen. Hier ringt unbewältigte Gegenwart um Ausdruck. Dabei wird der Stil, stets ein untrügliches Reagenz, unrein, der Geschmack unsicher. Die Geschichten gleiten gelegentlich aus der Poesie in den Kitsch; der Feinsinn kann zum ganz zart gesponnenen Quatsch werden.

Und plötzlich hält er die Schneeglocken in der Hand, die er nicht kaufen wollte – er, der mit leeren Händen gehen wollte! Die Schneeglöckchen beginnen wild und lautlos zu läuten, und er geht hin, wo ihn sein Verderben erwartet. [„Das dreißigste Jahr“].

Auch in den Gedichten rutscht manchmal eine Zeile aus:

Bis zur Weißglut
lieb ich und danke mit englischen Grüßen.

Manches erscheint gesucht und nicht gefunden:

Er schüttelte und trat die tauben Nüsse,
den Hummeln schlug er schärfre Töne vor…

[Anrufung]

Wenigstens im Ansatz ist alles bedeutend. Ingeborg Bachmann wagt hohe Einsätze. Auf diesem Niveau liegen Gelingen und Mißlingen dicht beieinander. Das meiste ist ihr gelungen. Sie sucht den archimedischen Punkt, von dem aus sie die wankelmütige Zeit durch Deutung beschwören kann. Aus der Galgenfrist soll Ewigkeit werden. „Es ist auch mir gewiß, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen“, sagte sie einlenkend in der Dankesrede für den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene das Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an.

Hans Daiber, aus Schriftsteller der Gegenwart. Dreiundfünfzig Porträts. Herausgegeben von Klaus Nonnenmann, Walter-Verlag, 1963

 

DAS MEER (2)
Hommage für Ingeborg Bachmann

Alles ist da: Hoffnungen,
Und Wasserleichen, versenkte
Schiffe, Treibgut Glück. Auch der weiße Schrei
Aus Möwenhals und der Himmel
Gebläht bis zum Äußersten. Stetig rinnen mir
Durch die Finger versprengte
Sekunden, doch es sind Jahre. Geduldig warten
Wir am Strand, suchen hinter dem Wasser
Den Horizont ab, das andere

Böhmen vielleicht, an das wir grenzen,
Und in der Muschel
Das entsiegelte Wort. Dem Wind,
Der uns mitnimmt, folgen wir
Aufs Meer. Leise nur werden wir
Murren und schwimmen, dann still sein
Wie Wackersteine und müde
In des Kreises Zirkelpunkt
Auf Grund gehen!

Horst Samson

 

HIDDEN CHIEF
(mit Ingeborg Bachmann, Landnahme) 

leer-liegender stiefel
umgeknickte halme, die feuerstelle

hier kocht ein sommer langsam
seine medizin. scheuchen aus

pappe, bekritzelt, geschminkt
kinder probieren sich so aus.

gedanken, die einander auslöschen
überströmen.

das land, das wir gewonnen haben
kann ich es halten –

halb erde, halb traum
hebt es sich, senkt sich.

jede nacht stürzt mein land ins dunkle wasser
an seinen steilküsten.

und jeden morgen sammelt die sonne
mein land wieder auf

das leittier, wie es längst in den sternbildern grast
hinter umgeknickten halmen

doch das land hofft.
wenn es auf der leine trocknet, hofft das land

wenn es das milchgewicht toter herden spürt
hofft das ganze ausgewaschene, verblasste land

die scheuchen hoffen
auf den einsamen schuh

hofft das land, als es verschwindet
fortrollt, wie ein ball

in eine zukunft, eine neue gestalt:
das land, das wir gewonnen haben.

ich kann es nicht halten.

Birgit Kreipe

 

DRESDEN, 17.10.2023
ZUM FÜNFZIGSTEN TODESTAG VON INGEBORG BACHMANN

Die Treppe hochwärts riech ich an der Zeitung
Sie hat den Fleur der alten Druckerei
Ne Doppelseite Bachmann ist dabei
Am Ende Rom: In die Verbitterung

Andreas Paul

 

IN ÄGYPTEN
Für Ingeborg

Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser.
Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.
Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noëmi! Mirjam!
Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst.
Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.
Du sollst zu Ruth und Mirjam und Noëmi sagen:
Seht, ich schlaf bei ihr!
Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.
Du sollst sie schmÜcken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi.
Du sollst zur Fremden sagen:
Sieh, ich schlief bei diesen!

Paul Celan

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Bachmann  Loops von Tim van Jul

Stimmen zu Ingeborg Bachmann

Hermann Burger: Abend mit Ingeborg Bachmann
DU, Heft 9, 1994

Peter K. Wehrli: Unverbunden in Zürich
DU, Heft 9, 1994

Uwe Johnson: Good Morning, Mrs. Bachmann
DU, Heft 9, 1994

Inge Feltrinelli, Fleur Jaeggy, Toni Kienlechner, Christine Koschel, Inge von Weidenbaum: Römische Begegnungen
DU, Heft 9, 1994

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ingeborg Bachmann

Uwe Kolbe: Über den Nachteil. Dichtung, Liebe, Größenwahn und die „Lieder auf der Flucht“. Eine Art Rede für Ingeborg Bachmann.

Heinz Bachmann: „Die Ärzte wollten dringend wissen, ob es irgendwelche Medikamente gab“
Die Welt, 5.9.2023

Ria Endres: Es kommen härtere Tage
textor.online, 25.7.2024

Ria Endres: Die härteren Tage
textor.online, 21.8.2024

Ria Endres: Auf Widerruf (III)
textor.online, 27.8.2024

 

 

 

 

 

 

Ingeborg Bachmann erhält den Georg-Büchner-Preis 1964. Dankesrede und kurzer Fernsehbericht über sie inklusive Interview. Außerdem Rezitation des Gedichts „Die große Fracht“.

 

 

 

 

 

 

Zum 10. Todestag der Autorin:

Christa Wolf: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar
DU

Zum 30. Todestag der Autorin:

Rolf Löchel: Es schmerzte sie alles, das Leben, die Menschen, die Zeit
literaturkritik.de, Oktober 2003

Zum 40. Todestag der Autorin:

Jan Kuhlbrodt: Zum 40 Todestag von Ingeborg Bachmann
signaturen.de

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Susanne Petersen: „Keine neue Welt ohne neue Sprache“
Sonntagsblatt

Diemut Roether: Ein Ungeheuer mit Namen Ingeborg
die taz, 23.6.2001

Otto Friedrich: Zum 75. Geburtstag von Ingeborg Bachmann
Die Furche, 20.6.2001

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Evelyne von Beime: „Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen“
literaturkritik.de, Juni 2006

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Ria Endres: „Es kommen härtere Tage“
faustkultur.de, 15.6.2016

Hans Höller: Ingeborg Bachmann: Phänomenales Gedächtnis ganz aus Flimmerhaar
Der Standart, 25.6.2016

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Hans Höller: Die Utopie der Sprache
junge Welt, 26.6.2021

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Hannes Hintermeier: Horror vor der Sprache der Bundesdeutschen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2022

Edwin Baumgartner: Bachmann für Verehrer
Wiener Zeitung, 24.11.2022

Ingeborg Bachmann: Eine poetische Existenz auf der Rasierklinge
Kleine Zeitung, 16.10.2023

Hans Höller: Kriminalgeschichte der Autorschaft
junge Welt, 17.10.2023

Claudia Schülke: Elementare Grenzgängerin
Sonntagsblatt, 11.10.2023

Paul Jandl: Vor fünfzig Jahren starb Ingeborg Bachmann an schweren Brandverletzungen. Dann gab es Gerüchte über einen Mord, und es entstand ein Mysterium
Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2023

Teresa Präauer: Nur kurz hineinlesen – und nächtelang hängen bleiben
Die Welt, 17.10.2023

Andrea Heinz: Erinnerung an eine Unvergessene: Vor 50 Jahren starb Ingeborg Bachmann
Der Standart, 17.10.2023

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + InstagramForumIMDb +
ÖMKLG + Archiv 1, 2, 34 + Internet Archive + Kalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Interview
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Bachmann, der“.

 

 

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