ES WAR DIES DIE ZEIT
VOR CHRISTINE LAVANTS GROSSEN GEDICHTEN.
Eines heftigen äußeren Anstoßes sollte es noch bedürfen, einer Leidenschaft, die die gestauten Bilder nach außen kippen konnte. Vorläufig war es mehr als ein Zufall, wenn sie sich nach dem nächtlichen Seiltanz auffing und das Ende der Verzweiflung im Tablettenschlaf erreichte.
Der Klagenfurter Primarius, der Christl Thonhauser vor dem Erblinden bewahrt hatte, bekam von ihr immer wieder Gedichte zugeschickt, und da er mit der steirischen Heimatdichterin Paula Grogger befreundet war, gab er eines Tages die Gedichte an Frau Grogger weiter.
Das Schicksal griff ein.
Bei Frau Grogger war der Stuttgarter Verleger Viktor Kubczak zu Gast. Er prüfte, was ihm zur Prüfung vorgelegt wurde, und tat den ersten entscheidenden Schritt: er schrieb Christine, daß er ihre Verse im Brentano Verlag herausbringen wolle.
Bei nächster Gelegenheit reiste Herr Kubczak auch nach St. Stefan, um die Zettelsammlungen der jungen Frau Habernig einzustecken. Er traf eine – nach meinem Dafürhalten – höchst bescheidene Auswahl für das Buch, ist aber immerhin der Entdecker der Lavant-Poesie. Im Jahr 1949 kamen zwei Bändchen im Brentano Verlag heraus: DIE UNVOLLENDETE LIEBE. Gedichte; DAS KIND. Eine Erzählung.
Christine war jetzt Autorin.
Was aber den größten Umschwung in ihrem Leben hervorrief, war, daß sie einen neuen Namen bekam.
Herr Kubczak, ein altmodischer Verleger, fand Habernig als Autorenname ebenso unpassend wie Thonhauser. Er schlug seiner Autorin mehrere Namen vor. Darunter „Stefan“ nach dem Dorf und „Lavant“ nach dem Fluß.
Der letzte Vorschlag traf zündend in Christines Gemüt. „Er ruft mich nach dem Fluß“ – sagte sie zu mir.
Bis an ihr Lebensende hatte Christine die Diktion des Dialektes beibehalten, ihre gesprochene Sprache hob sich von der geschriebenen ab; nicht nur in der Wahl der Perfektformen und des Vergangenheitstempus lag der Unterschied, sie ignorierte als Sprechende das Regeldenken, dokumentierte eher ein maskiertes Ich.
Sie sagte dick, wenn sie gut aussehend meinte, lustig, wenn es komisch bedeuten sollte, sie sagte rufen statt nennen und heben statt tragen. Wenn ich sie nach dem Namen eines Krauts fragte, bekam ich zur Antwort: „Wir rufen es Beinkraut.“ Man rief sie also von jetzt ab nach dem Fluß.
Die Lavant entspringt an der steirischen Grenze und durchfließt das Nord-Süd-Tal in seinem oberen Teil lebhaft, gegen die Mündung in der Drau zu breit und behäbig.
Ein Siedlungsraum wurde an den Ufern dieses Flusses schon im dritten Jahrhundert erwähnt. Da das Tal im Osten und Westen von Bergen umsäumt und daher vor rauhen Winden geschützt ist, bot es fruchtbare Flächen. Keltische Stämme wanderten hier ein und die Römer besetzten die Orte. Zahlreiche Kriege und Fehden sah die Gegend, Brandschatzung und Zerstörung mußte sie über sich ergehen lassen, Seuchen und Heuschreckenplagen. Im Lavanttal hatten die Spanheimer Herzoge ihren Sitz. Im napoleonischen Zeitalter wurde es von den Ungarn besetzt, in den Türkenkriegen drangen die Krummsäbel in seine Gärten vor.
Im Blute der Bevölkerung könnte man Spuren vieler Rassen nachweisen, zumal das Tal im Süden an Slowenien grenzt und der Grenzverkehr ein offener ist.
Heute haben Industrie und Zersiedelung die gewachsene Einheit von Natur und Menschenbehausung zum großen Teil zerstört. Die Lavant transportiert kein Gold mehr, wird mühevoll von den Abwässern der Fabrik gereinigt. Die wilde Orchidee, die seinerzeit Wiesen überschäumte, ist selten geworden, nur an den Waldrändern duftet noch die kleinblütige Zyklame.
Zur Zeit meiner Freundschaft mit Christine war das, was manche Nachmittage undurchsichtig machte, der vom Fluß aufsteigende Nebel, wenn die kühlere Bergluft auf die Wärme der Talsohle traf, und dieser Nebel roch nach Farnkraut und wilden Spiräen.
Der neue Status der Schriftstellerin verhalf Christine ganz anders zur besseren seelischen Verfassung, als ich es angenommen hätte. Ein neuer Mensch: Viktor Kubczak – war unvermutet in ihr Leben getreten und kümmerte sich um sie. Das war ihr wichtiger als die Herausgabe der Gedichte.
In ihren Briefen über den Verleger tauchte nur das Persönliche auf. Was er trägt, wie er aussieht, was er gerne ißt, wie er spricht; ein nicht alter Mann interessierte sich für sie, das hatte sie bisher noch nicht erlebt, sie genoß es, daß er ihr anscheinend zugetan war.
Auf die Auswahl der Gedichte für den Band nahm sie keinen Einfluß. Als ich von ihr hören wollte, welchen Titel das Buch haben werde, konnte sie es mir nicht sagen, sie versprach aber, sich zu informieren.
Was sie mir, eine Woche später, brieflich mitteilte, sah so aus:
Von Herrn Kubczak ist ein Brief gekommen. Er sagt, daß Dein Verständnis für mich wohl ein wahrer Segen ist und er möchte Dir so gerne ein Buch schenken. Denk also bis zum Montag nach, was Du Dir wünschst. Vielleicht könnte er Dir einen Kassner besorgen?
Gelt, Du denkst nach, weil er es so gerne täte, er ist ein so lieber guter Mensch, gelt, das weißt Du wohl, er macht so gerne Geschenke. (Juni 1949)
Tatsächlich erhielt ich von Herrn Kubczak die lang gewünschte Ausgabe der Tagebücher Kassners, und von Christine erhielt ich immer neue Meldungen über des Verlegers Aufmerksamkeiten für sie. Mit keinem Wort erwähnte sie die zu erwartende Publikation. Der gutmeinende Mensch, der in ihren Gesichtskreis getreten war, stand im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Sie hatte ja jede Hilfe von außen noch bitter nötig.
Die grimmigsten Sorgen waren zwar überstanden, da sie mit ihrem Mann weiterhin in der Dachkammer wohnen durfte; nur durfte sie sich – eigenen Angaben nach – nicht den geringsten Fehltritt erlauben. Kein Verschütten der heißen Asche auf der Holzstiege. Kein Verstoß gegen die Hausgesetze. Der bloße Gedanke, ohne Obdach zu sein, wenn – was nie ausgesprochen wurde – die Hausfrau sie im Zorn vor die Tür setzte, ließ Christine erstarren. Das unbedingte Pünktlichsein war eines der Gesetze, die sie sich selbst auferlegte.
Nach einem längeren Besuch bei mir, nach dem ich sie schon im Laufschritt begleiten mußte, erreichte mich am folgenden Morgen das kaum lesbare Gekritzel:
Ich hab den Zug versäumt und bin gerannt und hab inzwischen Deinen Schnaps getrunken (er war zum Einreiben für Christines schmerzenden Rücken gedacht) und hab gebetet daß das Haus noch nicht abgesperrt ist und einmal hab ich die flache Hand nach hinten gehalten, ganz offen, und hab in die Finsternis hinein gesagt: Tod-Teufel-Engel-aber die Hand blieb leer und offen. Vergib mir alles Wirre und Übertriebene. Ich bin lange dagesessen mit einem Weinkrampf. Das Haustor war gottseidank noch offen, es war ja erst dreiviertel sieben. (undatiert)
Worum handelte es sich bei diesem Sturz in die Verzweiflung? Darum, daß die Hausfrau hätte böse werden können, wenn sie gezwungen gewesen wäre, vom Abendtisch noch einmal aufzustehen, um ihrer Untermieterin das schon versperrte Tor zu öffnen.
Als Überbleibsel aus der Kindheit empfand Christine immer Angst vor den Mächtigen. Die Hausfrau (die später ihre Beschützerin geworden ist) war mächtig. In ihrer Entscheidung lagen Existenzmöglichkeit oder Not.
Da gab es einen Verleger, der Christine die Publikation versprach. Da war ein Geldbetrag (in Gedanken schon mehrfach und die bescheidene Summe übersteigend ausgegeben). Da gab es die Freundin, zu der sie Vertrauen haben konnte, und die Ärzte, die für die Mittellose sorgten. Da gab es Hoffnung.
Doch die Unglückserwartung war stärker.
Ich möchte Dir so gern alles versprechen (steht am Schluß desselben Zettels) aber ich kenne mich ja so gut! Verzeih meinen entsetzlichen Brief! Es zittert noch alles in mir. Denk, wenn ich es doch aushalte, dann ist das Dein Werk. Vergelts Gott, Deine Christl!
Dieses „Vergelts Gott!“, wie oft habe ich es von ihr gehört. Gewisse bäuerliche Redensarten saßen fest in ihrem Kopf und wurden durch kein Vokabular der Bücher, die sie las, verdrängt.
Der Winter des Jahres 1950 ging für Christine mit absoluter Mutlosigkeit und vielen inneren Zusammenbrüchen dahin. Eine Bestürzung löste die andere ab.
Der Verleger Kubczak hatte nicht die Person, sondern die Poesie der Person gemeint. Menschen, von denen Christine glaubte, daß sie sich für ihre Leiden interessieren, trieb die nackte Neugier in die Dachkammer; das Geld, das den Anschein gehabt hatte, vom „Esel streck dich“ herzurühren, war in wenigen Wochen ausgegeben.
Hilfe konnte auch ich nicht leisten.
Oft saßen wir, ohne ein Wort zu reden, nebeneinander. Christine holte dann alles in nächtlichen Aufzeichnungen nach.
Ich höre schon auf mit dem Schreiben – ein ziemliches Stück vom Abend ist ja vorüber und ein einziges – wirklich nur ein einziges Schlafpulver! – wartet auf mich…
Die Schlaftabletten bekam sie vom Arzt verschrieben. Auch gegen den Krampfhusten und die Kopfschmerzen erhielt sie Medikamente. Zu dieser Zeit war die Regelung in den Landapotheken nicht sehr streng, jeder konnte das ihm Verschriebene beliebig oft nachbeziehen. „Erhängen ist so furchtbar“ kritzelte sie an den Rand einer karierten Seite.
Oft hatte ich den Wunsch, sie wäre nicht in mein Dasein getreten. Sie merkte mir diese Gedanken sofort an:
Ich weiß, daß ich noch so lange leben muß, bis ich Dir allen Kummer, den Du mit mir hast, irgendwie abgelten kann…
Ich bekam Schuldgefühle, weil ich wußte, daß sie mich brauchte; ermutigte Christine, mehr und mehr über meine Zeit zu verfügen, schenkte ihr Bücher, in denen vom Leiden und dessen Bewältigung die Rede war, machte mir selbst den Nutzen dieses Einflusses vor.
Ich bin so froh, daß gerade Du am meisten von mir weißt. Bei Dir wird nichts beschädigt oder verringert. Das ist so selten. Wenn ich wirklich noch einen Frühling erlebte und das Kommen der Schwalben… (undatiert)
Die immer größeren Probleme, die Christine mit ihrer Umwelt bekam, rührten von der langjährigen Wirklichkeitsflucht her.
Es wurden ihr andere Unterscheidungsmöglichkeiten signalisiert. Eine Anhäufung von Traumerfahrungen bezeichnete ihr die Wege.
Ouspenskky spricht von Einflüssen des „magischen Zentrums“, denen sensible Menschen zuweilen erliegen. Das führe zu Widersprüchen. Christines Leben war widersprüchlich bis zum Extrem.
Von Haus aus zum Mitleiden mit anderen bestimmt, stand ihr Gemüt dieses Mitleiden nicht durch und wandte sich gerade dort brüsk ab, wo ihre Anteilnahme eine natürliche Reaktion gewesen wäre. Die Folge davon waren aufflammende Schuldgefühle.
Von Haus aus mit Witz und Ironie begabt, versagten diese Eigenschaften als Selbsthilfe. Obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte als eine intakte Gemeinschaft, war die Lavant umgangsfeindlich. Sie stieß jede Annäherung von sich.
Durch Herkunft und Erziehung an feste Moralbegriffe gebunden, übersprang sie alle Regeln, wenn ihr stark entwickelter Eros sie in die Verkettungen unerfüllter Leidenschaften trieb.
Ehe Christines Wünsche Erfüllung fanden, gehörten Gedichte, wie das folgende, zur Beigabe ihrer Morgenbriefe:
Sieh, – so gehst du, daß man meint es ginge
ernst ein Lied auf seine Mitte zu,
drin ein Vogel mit der schönen Schwinge
Bögen endet, um zur Abendruh
ins Gebüsch des vollen Strauchs zu flüchten.
Wenn du aufsiehst, glaubt man den Gerüchten
die, von früh her, Einsame befallen,
daß nach vielen langen Intervallen
immer wieder Engel (menschlich!) aufstehn
weil ein Dürsten sie so sehr gerufen.
Doch: ich baue mir noch schwere Stufen
ehe ich dich finden will – am Abend −.
Denn es wird ein großer Abend kommen
einer, dem die Nacht den Nacken biegt
wo sich Stürme, in die Wolken grabend,
ernstlich äußern, bis kein Stern mehr siegt…
Sieh, – dann wirst du von mir eingenommen
(6.6.48 – unveröffentlicht)
(…)
From my point of view he can be called remarkable who stands out
from those around him by the resourcefulness of his mind.
G.I. Gurdjieff
Auftritt und Haltung einer poetischen Persönlichkeit nimmt die Mitwelt in meist nur geringem Maße zur Kenntnis. Sie registriert vielleicht, daß der schöpferisch tätige Mensch durch sein Anderssein auffällt, dabei müßte er durch die Kraft auffallen, die ihn zu diesem Anderssein bestimmte.
Diese Kraft bewirkt, daß er einen Weg gehen muß, der ihn dem Mittelmaß entzieht, obwohl gerade das Mittelmaß sein Garant für ein Leben ohne Verzweiflung wäre.
Bei der Betrachtung der Biographie der Lyrikerin Christine Lavant, mit der ich bis zu ihrem Tode im Jahr 1973 eine lebendige Freundschaft unterhielt, erkenne ich im nachhinein und erst aus der Distanz die Faktoren, die für die Summe dieses Daseins bestimmend waren.
Ins Schicksal jedes Kunstschaffenden ist die historische Dimension mit eingebunden. Sie bewirkt, daß ein Werk seiner halben Vergessenheit entrissen wird, daß sich dessen Auferstehung durch neu gewonnene Maßstäbe vollzieht. Ansichten und Einsichten wandeln sich mit äußeren Gegebenheiten, Überbewertungen oder Unterbewertungen erfahren ihre Korrektur.
Das Urteil über Christine Lavants Gedichte hatte zu ihren Lebzeiten deutliche Vorgriffe auf eine Zukunftswürdigung gezeigt.
Dann schwand das Interesse an dieser Poesie mit dem Interesse an der Person, die sie geschaffen hat.
Durch neue Orientierungen in der Gegenwart wächst aber das Verständnis für das Vergangene; bekannt geglaubte Werke erschließen sich in unbekannter Aussagekraft.
Wenn ich heute über Leben und Werk der Christine Lavant berichte, dann ist nicht Mystifikation mein Anliegen, sondern der Nachweis dessen, was ich bescheinigen kann, was vielleicht auf Sinnfälliges aufmerksam macht.
Ingeborg Teuffenbach
Das Unternehmen begründet,
den Lavant-Ort besucht.
Wenn die Dichtung der Christine Lavant zur Weltliteratur zählt, wenn ihre aktuelle Wortkunst kompetent ist für Zukünftiges, wenn Neues im Vergleich mit dem schon bekannten Lavant-Werk auftritt und wenn alles authentisch ist, dann sind die Bedingungen für das Veröffentlichen der hier vorgelegten Zeugnisse erfüllt. Ich will die vier Bedingungen untersuchen.
Die erste Bedingung: Weltliteratur? Nicht nur Thomas Bernhard bezeugt in seiner Auswahl von 1988, es sei „große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist“, nicht nur die vielen Preisverleiher berufen sich darauf (Trakl-Preis 1954 und 1964, österr. staatl. Förderpreis für Lyrik 1956 und 1961, Lyrik-Preis der Neuen deutschen Hefte 1956, Anton-Wildgans-Preis 1964, Großer Österr. Staatspreis für Literatur 1970), sondern wer mit offenen Ohren und Sinnen hört, der kann nicht anders als getroffen werden von der Dichte der Worte, von der mächtigen Transformation tiefer Erfahrungen in Bilder und architektonisch geordnete Versgebäude. Wie in einer kleinsten Zeichnung von C.D. Friedrich auf 10 x 20 cm die eigene Seele, der weite Erdhorizont und der unendliche Himmel aufgefangen sind, so in den Gedichten der Lavant:
Jetzt horcht sie hinauf;
jetzt horcht sie hinab
die Lavantseele, und es läuft die kosmische Bewegung in nur 18 Verszeilen dramatisch vom Ich durch den Himmel und in die tiefsten Wasser (Gedicht: „Über so hauchdünnen Schlaf / können nur Vögel gehen“). Lavants Fähigkeit zur Kunst war unaufhaltsam, sie hat sie weit gebracht. Und die hier abgedruckten, bisher unveröffentlichten Gedichte befestigen den Eindruck großer Kunst. Auch wenn einiges rhythmisch klappert, so bleibt das meiste evokativ mit Inhalten von weither, zeitlich und räumlich.
Daß die Entstehungsdaten nicht exakt angegeben werden können, läßt die wissenschaftlich Ordnenden unbefriedigt, aber es zeigt die Freiheit der beiden Frauen vom Ehrgeiz nach Ruhm. Sie haben im Austausch von verzweifelter Dichtung und Lebenshilfe nicht auf öffentliche Anerkennung gesetzt, sie haben nur sich selbst gelebt, das war schwerste Aufgabe genug, und erst wir sagen: Im Selbst war die Welt, die Welt ihrer Kunst.
Die zweite Bedingung: Wenn diese Kunst Nährwert für Zukünftiges hat, wenn sie über das Aktuelle hinaus zuständig sein kann für ferneres Menschenverhalten, wenn sie Dokument ist und Botschaft, dann lohnt das Veröffentlichen. Das zukünftig Helfende liegt zum einen in der Lavantschen Kraft des Dennoch, dem Aufbegehren im Leiden, in der ungeheuren Disziplin, die durch den Selbsterhaltungstrieb gegen den Ansturm von Krankheit und Verlassenheit geistig produktiv wird. Und das Heilbringende liegt zum andern in den Ganzheitseinsichten der Lavant, die, wenn überhaupt noch, allein im Verzweiflungslicht Auswege zeigen. Die Lavantsche Überzeugung vom Ganzen des Innen und Außen, des Ichs und der Natur, vom Ganzen mit Herz und Hirn, steht vielfach gewendet in den Zettelnachrichten an Ingeborg Teuffenbach und wird von dieser auch aus Gesprächen berichtet. Die neuen Gedichte bestätigen und festigen die Urerfahrung der Christine Thonhauser, daß Außermenschliches subjekthaft ist. „Beeren und Astern wissen es genau“; „Pappeln gingen drüber so wie Fraun“; „Der Steine Weinen… ihre Tränen“; „Der Vogel verpfeift dich“, er „verlacht den Wind“ (alle Zitate aus den Gedichten an Teuffenbach). Tiere und Pflanzen sowieso, aber auch Sterne, Steine, Mond und Nacht sind mit uns lebende Subjekte. Christine klärt einmal Teuffenbachs Frage, warum dies oder jenes Naturding so handle, mit der Antwort auf: „Ich schreib einfach nach“. Ihr diktiert das Eigenleben der Natursubjekte.
Zuständig für die Zukunft ist diese in Lyrik gesetzte Naturphilosophie, so wie sie überliefert ist von Heraklit über die hermetische Lehre des Hermes Trismegistos, über Jakob Böhme, den sie las, was wir dank Teuffenbach wissen, über Paracelsus, Novalis – auch von dessen Lektüre wird berichtet – bis zu heutigen Lehren zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. „Dann holst du einfach Fritjof, den Zauberer“ (d.i. Fritjof Capra) hat Christine zu ihrer Freundin gesagt, den damals fünfjährigen Sohn der Teuffenbach, der heute als Repräsentant dieser Naturlehre schreibt.
Aus intimer Kenntnis stammen die Urteile der Teuffenbach: „Das Einswerden mit der Schöpfung war der von ihr gesuchte Weg!“ oder: „Lebensläufe ohne die Natur waren der Lavant fremd. Sie hätte darin die wichtigste Komponente vermißt.“ Aber wie sie diese Komponente in die Musik des Kunstgedichts komponiert, das kann richtungweisend sein für die Zukunft. Könnte.
Teuffenbach meint, mit „Naturlyrik“ hätten diese Gedichte „selbst in ihren Anfängen, nichts zu tun“. Aber ist dem wirklich so? Wie reimt sich die dokumentierte Einheitsschau mit diesem Abweis? Sicher liegt keine herkömmliche Naturlyrik vor als Beschreibung oder Metaphorisierung für Eigenes, aber als letzte Wegmarke: Vom Abbild über das Sinnbild zum Inbild ordnen sich die Gedichte in den Gang von Naturlyrik. Christine Lavant gibt das Inbild von Natur als einer allumfassenden. Nicht einmal mehr Korrespondenzen zwischen Innen und Außen, sondern den Zusammenfall. Die Dichterin nimmt das Außen ganz in sich hinein und setzt sich selbst ganz hinaus. Aus der Qual der Spannung macht sie ein Eines: „Kummerwald“ und „Kummerwurm“, „Weidenflöte weher Lust… Rosmarinlein meiner Brust… zart begrünt von Demutskraut…“ (An I. T.). Was hier zwischen dem wirklichen Wurm, dem Rosmarinduft, dem zarten Grün erster Kräuter und den inneren Vorstellungen passiert, ist Übergang und Zusammenschau, früher mystisch erfahrbar, heute rational wünschenswert.
Wir müssen immer wieder bei der uns überlieferten Naturlyrik feststellen, daß nichts mehr stimmt. Da ist der vom Menschen inszenierte Bruch, die große Entewigung durch Technik, Chemie und anthropozentrische Expansion. Aber die In-Natur der Lavant ist noch unser Besitz. Dies ist die postmoderne Naturhaltung, die vorläufig noch mögliche. Und das ist die Botschaft auch der hier versammelten Lavant-Texte: Noch ist nicht alles verspielt. Im verzweifelten Leiden öffnen sich Sensorien für Grundkräfte, für die vis maior naturae.
Wenn die hier vorgelegten Lebenszeugnisse neue Einsichten in das Lavant-Werk bringen, dann sind sie der Veröffentlichung wert, so setzte ich fest. Und sie bringen Neues: z.B. die Frühgeschichte, bis zum ersten Verleger, die Kindheits- und Werdenstatsachen; Lavants Lektüre der Groschenromane, der Leihbüchereiliteratur, die langanhaltende Verzauberung durch Rilke. Durch das Aufdecken einiger Wurzeln wird hier wie sonst nirgends das Kontinuierliche des Lavantschen Lebenswerkes sichtbar, das folgerichtige Entstehen und Wachsen der Dichtung. Den Lesenden wird etwas klarer, wie das Bergarbeiterkind Christine Thonhauser zur Sprache kam und zur Kunst. Krankheit, Einsamkeit, Meditation, ekstatische Übungen, notiert in Worten. Therapie durch Wortfinden. Die neuen Gedichte rufen Eindrücke von Kraft hervor. Vieles von I. Teuffenbach Berichtetes bestätigt sie. Allein die Schilderung des 50 Kilometer langen Fußmarsches der Vierzehnjährigen zur Lehrerin nach Klagenfurt – eine Aufzeichnung dessen, was Christine ihrer Freundin Teuffenbach genau und immer wieder erzählte – macht die Energien dieses kranken und „von allen guten Geistern mißbrauchten“ Menschen deutlich (Thomas Bernhard). Es ist die Kraft der Gedichte im Gehen der Füße. Und der Prosabericht der Lavant über ihre Übung des Sich-Teilens: Liegend im Bett und gleichzeitig im Gang durch die Landschaft, heimgekehrt nur durch Verwandlung in die schwarze Katze – das ist neue Einsicht in Strindbergsche Tiefendimensionen. Des Mitteilens wert. Okkultes als beunruhigendes, weil vernachlässigtes Thema im 20. Jahrhundert. Viele Mitteilungen im Text sind Hilfe zur Aufklärung.
Wenn alles authentisch ist, d.h. verläßlich und wahrheitsgetreu, so setzte ich weiter fest, dann ist dieses Buch wertvoll. Wir wissen, wie verschieden ichbezogen die Menschen im Magnetfeld einer schöpferischen Person agieren können, wie sie teilhaben wollen an der Kunstgröße, sich bereichern wollen, Karriere machen mit wissenschaftlichen Analysen zur eigenen Befriedigung. Diese aber, die Teuffenbach, nimmt sich ganz zurück, ist nur die Chronistin, Freundin. Die Lavant-Briefe und -Zettel an sie bezeugen unbedingtes Vertrauen, und das Anvertrauen der vielen Gedichte läßt keinerlei Zweifel an der Nähe und Echtheit der Beziehung. Daß Ingeborg Teuffenbach schon als kleines Mädchen von der Schwester der Christine Lavant, die bei Teuffenbachs als Kindermädchen diente, im Bergmannshaus mit der Armut und dem kläglichen Baby Christine in der Schublade zusammengebracht worden war, das wollte die Lavant immer wieder hören, das nahm sie als Zeichen. Vorbestimmt entwickelte sich die Freundschaft zur intensivsten Gefühlsbeziehung mit Höhen und Tiefen, wie in einer Liebe. Christine „verstand unter Freundschaft etwas Ausschließliches, eine Hingabe, neben der kein anderes Gefühl möglich ist“, meldet uns Teuffenbach. Und Freundschafts-Belege sind die Zettel- und Briefmitteilungen der Lavant zwischen 1947 und 1964: „Immer knapp nach unserem Beisammensein bin ich ein bißchen heiler und dann schreibt es sich leichter als sonst.“ – „Ich warte auf unser nächstes Beisammensein fast wie ein Obdachloser auf sein Asyl.“ – „Seit ich bei Dir war, denke ich wieder an das Leben wie an etwas doch noch Mögliches. Schon Dir zuliebe,“ – „Bist eine ganz Liebliche du, aber das sag ich leise / nur der Wind darf es hören und die Sterne dort ober dem Waldrand, / Gott weiß es von selbst.“ – „Nimm mich wie ein Kreuz zu Dir, so geduldig, mein ich.“ – „Denk, wenn ich es doch aushalte, dann ist das Dein Werk.“ – „Wie ich Dich liebe, o mein Gott! Vielleicht kann es niemand mehr so, wie mein armes Herz, Du mein liebstes und bestes Tröstlein.“ – „Ich bin so froh, daß gerade Du am meisten von mir weißt. Bei Dir wird nichts beschädigt oder verringert.“
Zwischen 1980 und 1985 endlich hat sich Ingeborg Teuffenbach an die Erinnerungsarbeit gemacht, lange daran geschrieben, die Eindrücke zusammengesetzt und sich bemüht, wie zu Zeiten der lebenden Christine, nichts zu „beschädigen oder zu verringern“. Dieser außerordentliche Freundschafts- und Liebesakt bedurfte keiner nachträglichen Korrektur, keiner Beschönigung. Weder bei der Christine Thonhauser-Habernig-Lavant noch bei der Ingeborg Teuffenbach lagen Gründe vor, irgend etwas zu simulieren, der anderen oder uns etwas vorzumachen. Das Verhältnis war abstandslos und abstandslos wird es berichtet.
An einem Frühherbstmorgen war ich in ihrem Tal, das kaum eines ist. Jedenfalls kein Gebirgstal, aus dem man nur nordsüd oder westost herausschauen kann, mit drohenden Felsen, Wasserfällen, dramatischen Überraschungen an Wegbiegungen, nein, das Lavanttal ist eine fließende Ebene, weit mit Feldern und reichen Obstbäumen. Keine Bergschatten regieren. Die große Kastanie hinter dem Straßenhaus der „Hausfrau“, in dem Christine Habernig oben, nach hinten raus wohnte – ja, von dort aus sah sie wohl auf einen Bergrücken, den langen, kahlen der Koralpe, aber mit viel grünem Zwischenraum.
Hier geschieht nicht viel, weder in St. Stefan noch in dem ein Kilometer entfernten kleinen Groß-Edling, ihrem Geburtsdorf. Still ist es und eben. Sonne war da, Dunst, leichter Wind um alte verfallene Scheunen, viel Grün in Feldern und Gärten und noch immer staunende Bewohnerinnen, wenn ich sie nach der Lavant fragte. Jetzt ein eher ehrfürchtiges Staunen, ihrerzeit, so erzählt mir Teuffenbach, waren die Bewohner außer ganz wenigen abweisend, bis hin zur Feindseligkeit. –
Wenn sie wen mochte, zu dem war sie gut. Ein herzensguter Mensch, aber wenn nicht, dann war sie verschlossen, ein Sonderling. Sie war schon ein arger Sonderling. Immer mit ihrem schwarzen Kopftuch , und so schief von unten schaute sie einen an.
Die Fleischhauerfrau Juliana Ellersdörfer krümmt ihren Kopf auf die linke Schulter, und ich denke: Die hat gute Augen, die hat sie auf ihre Art verstanden. Das Schreiben aber, das kam von innen, aus diesem alleinigen Menschen, Christine Lavant genannt, „gerufen nach dem Fluß“.
Mein Gott, war sie arm. Furchtbar arm. Für uns Kinder hat sie gestrickt und bekam dann eine Wurst oder ein Stück Fleisch. Gedichte hat sie uns gemacht, die sollten wir aufsagen zum Namenstag, zu Weihnachten, zum Muttertag. Wir haben die Gedichte ja nicht verstanden, niemand hier hat sie verstanden. Leider haben wir alle die Zettel weggehauen. Nix mehr.
Das kleine Elternhaus, 20 Meter von der Straße ab, mit den sieben Geschwistern in einem Zimmer, bis zu ihrem 35. Jahr hat sie da gewohnt, mit zwei Radfenstern oben: Sonnen- oder Mondräder? Wie kommt da eine zum Schreiben? Franz Kafka in Prag, Strindberg in Stockholm, ihr geliebter Rilke in Wien und Paris, aber Christine immer im Flecken St. Stefan. Wer staunen will und anfangen, über die nur menscheneigene Schubkraft des Sprachformens nachzudenken, der setze sich in die stille Wiese hinter dem Bergmannshaus. Der Braunkohleabbau unweit des Dorfes ist heute verschwunden. Er war unbedeutend, nur ein Gasthausname erinnert noch daran: „Zum großen Schacht“. – „Sie redete nicht wie wir reden. In unserem Dialekt schon, aber anders. Wir wußten ja nicht, was mit ihr war. Jetzt kommen so Leute wie Sie – aber damals?“
Das Authentische des Freundschaftsberichts der Ingeborg Teuffenbach wurzelt tief im Authentischen der Selbstkraft ihrer Freundin Christine, die fremd zwischen den Menschen zum Dichten kam.
Der Fleischhauer und Gastwirt fährt uns mit dem Auto nach:
Ich hab noch vergessen, waren Sie schon am Friedhof? Das Ehrengrab müssen Sie sehen. Ein richtiges Denkmal. Mit der Mondsichel soll es zusammenhängen. Sie hatte es doch immer mit dem Mond und der Nacht.
Die Grabinschrift:
So nah ging mir die Nacht noch nie,
im Halbtraum beuge ich das Knie,
helf ihr das Mondkreuz tragen.
Hier im abgelegenen Dorf ersetzten Halbtraum, Nacht und Mondkreuz die Gefährten. Auch das eiserne Grabmal mit seinen symbolischen Positiv- und Negativformen steht isoliert zwischen den sonst normal besteinten und gerasterten Gräbern. Am Fuß der Alpe – im weiten Tal der Lavant.
Manon Andreas-Grisebach, Nachwort
daß gerade Du am meisten von mir weißt. Bei dir wird nichts beschädigt oder verringert.“ Das schrieb Christine Lavant ihrer Freundin Ingeborg Teuffenbach in einem der unzähligen Briefe und Zettelchen, die zwischen den beiden Frauen hin- und hergingen.
Bei Christine Lavant (1915-1973), der großen österreichischen Dichterin, von der Thomas Bernhard sagte, sie sei „in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt“, hängen Leben und Werk aufs tiefste zusammen. Mit der unfaßbaren Kraft des Genialen brach die Dichtung aus dieser armen und todnahen Existenz herauf, erreichte an Glanz, was dem Leben bis auf wenige Lichtaugenblicke versagt blieb.
Das in den frühen achtziger Jahren entstandene Buch, in dem Ingeborg Teuffenbach ihre Begegnungen mit Christine Lavant in der Erinnerung wieder aufleben läßt, zeigt die Dichterin aus unmittelbarer Nähe und ist gleichzeitig das Dokument einer Freundschaft, die durch alle Höhen und Tiefen hindurchgegangen ist. Das tiefe menschliche Verständnis und die große Liebe der beiden Frauen zur Dichtung waren es, die halfen, alle Zerreißproben zu bestehen.
Das Lebenszeugnis der Ingeborg Teuffenbach, die vielen bisher unveröffentlichten Gedichte und Briefe sowie das Nachwort von Manon Andreas-Grisebach ergeben zusammen ein Buch, das einen unentbehrlichen Beitrag leistet zur Kenntnis von Christine Lavant und ihrem Werk.
Ammann Verlag, Klappentext, 1994
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015
Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015
Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015
Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015
Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015
Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015
Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at
Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit, 6.6.2023
Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023
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