Inger Christensen: gedicht vom tod

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Inger Christensen: gedicht vom tod

Christensen-gedicht vom tod

*

so sonderbar das gefühl, schamlos
aaaaaan den tod zu denken
aaaaaaaaaawenn keiner den man kennt
aaaaaaaaaaaaaaagestorben ist

das macht: sooft man sich
aaaaaim spiegel sieht, blickt man
aaaaaaaaaadem tod in die augen
aaaaaaaaaaaaaaaohne zu weinen

als wäre er eine klare
aaaaavollauf verständliche antwort
aaaaaaaaaaaber auf fragen die man
aaaaaaaaaaaaaaanicht stellen mag

 

 

 

Der Geheimniszustand

Was man spürt, wenn man ein Gedicht liest, sind die Bewegungen des Gemüts. Nicht nur das Gemüt des Dichters und nicht nur das eigene, sondern beide im Gedicht vermischt, als wäre das Gedicht das Neutrum des Gemüts.
Während man liest, kann man fühlen, daß die Sprache allzu leicht ist, aber wenn das Gedicht gut ist, werden auch die schwersten Themen in dieser Leichtigkeit enthalten sein; vielleicht weil das einzelne Wort so sehr mit Energie geladen ist, daß es Millionen von Erlebnisweisen einschließt.
Dieselben Millionen von Erlebnisweisen können benutzt werden, wenn man ein Gedicht schreibt. Alle sind in allen enthalten.
Aber nur, wenn das Gedicht das ist, was wir schön nennen, nur dann enthält es alle diese möglichen Erlebnisweisen; ein Gedicht, das allzu gewöhnlich ist, enthält nichts anderes als die eigene Erlebnisweise des Dichters; auch wenn sie nicht sehr gewöhnlich sein kann.
Wenn das Gedicht gut ist, haben die Worte so viel Energie, daß auch die schwersten Themen schweben können; wenn das Gedicht schlecht ist, beschwert es nicht nur alles, was der Leser hineinzulegen versucht, sondern auch sich selbst.
Es gibt keine sicheren Methoden dafür, zu entscheiden, ob ein Gedicht schön oder banal, gut oder schlecht ist. Das beste, was man in der Praxis tun kann, ist, die Mengen von Gedichten zu lesen, die von anderen geschrieben sind, das heißt, sie die ganze Zeit, während man schreibt, umzuschreiben, bis sie zuletzt irgendein Licht zurückwerfen, irgendeine Einsicht, so als wären sie von anderen, von einem anderen geschrieben.
Es ist vielleicht nicht so schwer, ein gutes Gedicht zu erkennen, wenn es erst einmal da ist. Aber wie kommt man ihm auf die Spur, bevor es da ist?
Wie bekommt man vage Gedanken und Vorstellungen dazu, mit der Wirklichkeit sich zu verbinden, die sie hervorrufen soll, damit nicht bloß die Gedanken zum Ausdruck kommen, sondern auch die Wirklichkeit selber? Und wie bekommt man Form und Inhalt dazu, in- und miteinander zu leben und heranzuwachsen, wie es zum Beispiel bei dem Wachstum der Pflanzen in der Natur der Fall ist?
All das kann man studieren und sich anlesen und kann darüber theoretische Bücher schreiben, und es ist alles von Nutzen, aber nur hinsichtlich der Form von Nutzen, die ganz in Vergessenheit herabsinken muß, bevor sie zeigen kann, von welchem Nutzen sie ist. Denn Gedichte schreiben, das heißt doch immer auf nacktem Boden stehen und von vorne anfangen und jedesmal das einzelne Gedicht so schreiben, als wäre es das erste Gedicht in der Welt.
Aber eben auch nur so, als wäre es das erste. Das Beste, aber Unmögliche wäre, wenn man all die Gedichte, die geschrieben sind, lesen und sich an sie erinnern könnte, um sie im entscheidenden Augenblick zu vergessen, Auf dieselbe Weise vergessen wie seinerzeit, als man in der Schule schreiben lernte und plötzlich eines Tages die Bewegungen der Hand wie auch die des Bleistifts vergessen hatte und selber schreiben konnte, von innen. Wenn man darüber nachdenkt, hat das etwas von einem Mysterium.
Gedichte zu schreiben, hat genauso viel von einem Mysterium. Nicht, weil daran etwas Mystisches oder Feierliches ist. Oder etwas Religiöses. Es ist sozusagen ein neutrales Mysterium, ist vorgegeben, weil man in der Dichtung gezwungen ist, die Sprache in ihrer ganzen Verbundenheit mit der Wirklichkeit zu benutzen. Diese Verbundenheit ist es, die ein Mysterium darstellt. Sie ist es, worein die Poesie eintreten muß.
Sie kann nicht wie unsere logisch-praktische Sprache von Teilen der Wirklichkeit absehen und zu Bedingungen, die wir vorher abgesprochen haben, so tun, als wäre es menschenmöglich, die Wahrheit über die Welt zu sagen.
Vielleicht kann die Poesie gar keine Wahrheiten sagen; aber sie kann wahr sein, weil die Wirklichkeit, die mit den Worten folgt, wahr ist. Diese geheimnisvolle Gefolgschaft zwischen Sprache und Wirklichkeit ist die Erkenntnisweise der Poesie. Ein Mysterium, das sehr wohl der Geheimniszustand sein könnte, von dem Novalis spricht, wenn er sagt: „Das Äußre ist ein in Geheimniszustand erhobnes Innre.“
Seinen eigenen Zugang zu diesem Geheimniszustand zu finden ist schwierig. Man würde natürlich davon träumen, sagen zu können, daß es sich mit derselben Leichtigkeit machen ließe, mit der eine Pflanze Blätter und Blüten treibt. So daß das Gedicht aus dem inneren Himmel des Samenkorns in seiner ganzen äußeren Entfaltung emporgehoben würde wie genau diese Pflanze, genau dieses Gedicht.
In diesem Geheimniszustand steht der Dichter mitten in einem Universum, das gar keine Mitte hat. Wenn man das Innere zum Äußeren hinaufheben will, muß man mit dem Äußeren anfangen, außen anfangen in all dem Sichtbaren, das durch das ganze Leben hindurch, das man gelebt hat, in seinen entsprechenden Formen von Sichtbarkeit im Inneren versteckt und vergessen worden ist. Was nun was wecken soll, das Innere oder das Äußere, das ist ungewiß, sicher aber ist, daß uns, weil wir die gegenseitige Verbundenheit der Dinge von Kindesbeinen an kennen, zuallererst der Zufall zu Hilfe kommen wird; vielleicht in Gestalt des Frühlingsregens oder des Herbststurms, der hellen Nächte des Sommers oder des Rauhreifs im Winter, Phänomene, die wie alle anderen zufälligen Phänomene das Innere dermaßen in Bewegung setzen können, daß Sporenfäden von Gedanken gebildet werden, die hinausreichen und versuchen, zwischen Wort und Phänomen einen Zusammenhang zu stiften.
Bevor man sich ans Papier setzt, um vielleicht, vielleicht nicht ein Gedicht zu schreiben, und später, wenn man stundenlang dasitzt, beidemal ist es so: als hätte man sich verirrt. Die Welt, die einen Augenblick davor beim Morgenkaffee recht überschaubar und alltäglich war, ist plötzlich wieder allzu groß geworden, und obwohl das Bewußtsein in alle Richtungen wandert und seine kleinen Sprachfetzen mitbringt, kann es nicht genau den Stein, die Pflanze, das Ereignis, vielleicht die Unbegreiflichkeit finden, von der aus es mit Hilfe von Worten zur Welt zurückfinden kann.
Zwischendurch hilft es, den Blick abwesend zu machen und bloß auf Klang und Rhythmus der Worte zu lauschen, sich voranzutasten und so lange auf diese Musik zu lauschen, bis man schließlich weiß, daß die Musik eine Bedeutung hat, sie muß nur hervorgelockt werden; so daß die Worte nicht sich selbst in ihrem eigenen Wohllaut überlassen werden, sondern durch dieses beharrliche Lauschen, diese Gewichtung aus Fülle, Geschwindigkeit und Farbe durch die aufgesperrten Augen schließlich zu der Begegnung mit dem Frühlingsregen oder dem Rauhreif oder womit sonst gebracht werden und anfangen können, neue Worte und gesehene oder ungesehene Dinge einzusammeln.
So ist es am Anfang: große Unruhe und Verwirrung, aber auch eine Geduld in der Angst vor dem Sprung, weil man weiß, daß andere vorher hineingesprungen sind. Zuinnerst weiß man, daß der Anfang eine Brücke ist, die vorher schon gebaut ist, aber erst wenn man in den leeren Raum hinausgeht, kann man die Brücke unter den Füßen spüren.
Die Angst davor, in die Leere hinauszutreten, ist verständlich. Zwar gibt es in der Geschichte der Poesie Karten von allen nur denkbaren Landschaften, wo alle möglichen Brücken eingezeichnet sind, aber im selben Augenblick, wo der erste Schritt getan werden muß, zeigt sich, daß die einzelne Landschaft sich wegbewegt, die Brücke sich wegbewegt hat, gemeinsam oder jede für sich haben sie sich wegbewegt, und die Karte, die sonst ebenso zuverlässig wirkte wie ein Abriß der Weltliteratur, erscheint jetzt nur als eine Möglichkeit oder bloß ein Vorschlag, wie jede beliebige Landschaft eventuell aussehen könnte an dem Tag, da man hingelangt. Man hat sich also wirklich auf eine besondere Weise verirrt. Man muß nämlich einen Weg durch die Landschaft finden, um die Karte zeichnen zu können, aber zugleich muß man die Karte zeichnen, um einen Weg durch die Landschaft finden zu können.
Hier, wenn man versteht, daß die Brücke gebaut werden muß, indem man sich bewegt, hier muß man seine Worte mit Bedacht wählen. Und Bedacht bedeutet nicht notwendigerweise Vorsicht, es kann auch Mut und Entschlossenheit, Klarsicht und Großherzigkeit bedeuten. Man kann sich vorschleichen oder kann um sein Leben springen und in beiden Fällen merken, daß man Boden unter den Füßen hat. Man kann kriechen und klettern, tanzen und schweben oder sich selbst dazu überlisten, ganz gewöhnlich zu gehen. Das einzige, das etwas bedeutet, ist so oder so, ob man seine Worte mit solchem Bedacht wählt, daß die Phänomene den Worten entgegenkommen, damit die Brücke weiterhin betreten werden und der leere Raum zu Landschaft gefüllt werden kann.
Mit Bedacht wählen heißt nicht nur, zwischen allen zufälligen Worten wählen. Man muß genau das zufällige Wort wählen, das notwendig gemacht werden kann. Ein Wort notwendig machen heißt Wort und Phänomen verketten oder verschmelzen. Nicht so, daß die Zufälligkeit aufgehoben wird, denn auch nach der Wahl bleibt das Wort genauso zufällig wie vorher. Aber in all seiner Zufälligkeit ist es mit dem Phänomen zusammen in den Geheimniszustand versetzt, in dem die innere und die äußere Welt sich befinden, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen.
Wenn in diesem Geheimniszustand die ersten Stationen errichtet sind, nimmt das Gedicht allmählich Form an, die Landschaft weitet sich, und Bilder halten allmählich von selbst Wort und Phänomen zusammen. Wo vorher nichts war, ist jetzt etwas; zudem etwas, das weiterhilft, weil all die verstreuten Vorposten, die in der Landschaft errichtet sind, allmählich Rückmeldung geben, all die kleinen Enklaven aus sprachlich Empfundenem, die jetzt als Realitäten auftreten, alles, was in den Geheimniszustand getreten ist, gibt jetzt Rückmeldung und zeigt unmittelbar nicht bloß, wie geschrieben werden muß, sondern in erster Linie, warum und was geschrieben werden kann, worüber zu schreiben die ganze Zeit beabsichtigt gewesen war, obwohl man unterwegs geglaubt oder vielleicht geradezu gehofft hat, daß es etwas ganz anderes war.
Viele Dichter haben im Laufe der Zeit versucht, dieses Ungreifbare zu beschreiben, und ihre Äußerungen kreisen fast immer um etwas, das sich zu dem Erlebnis eindampfen läßt, daß die Worte sich plötzlich verselbständigen, oder darum, daß das Gedicht sich selbst schreibt oder dergleichen.
Jedenfalls sitzt man nicht mehr da und starrt entweder zum Beispiel auf das Wort „Wolkendecke“ oder auf die tatsächliche Wolkendecke am Himmel draußen, während man überlegt, ob es im Gedicht mit dabei sein soll oder nicht. Das ist längst entschieden.
Auf dieselbe Weise ist entschieden, ganz gleich, ob das Wort „Wolkendecke“ mit dabei ist oder nicht, ob es wirklich das ist, worüber geschrieben wird. Denn im selben Augenblick, da die Worte sich verselbständigen, bestimmen die Bilder, Vergleiche, Relationen des Gedichts, ob ein Wort genannt sein soll oder nicht, damit das, worüber geschrieben wird, genau dieses Wort ist.
Ja, in diesem glücklichen Augenblick, wo alle Entscheidungen dadurch getroffen werden, daß und indem das Gedicht sich selbst schreibt, ist vielleicht geradezu entschieden, daß das, worüber geschrieben wird, etwas ist, das man nicht genannt hat, etwas, das sich bis jetzt im Gedicht versteckt gehalten hat, um zuletzt das Bewußtsein mit etwas Wichtigem hervorzulocken, Krieg, Frieden, Glück, Tod oder dergleichen, alles Zeichen dafür, daß all die großen Worte ihren sehr unzulänglichen Geheimniszustand haben, gerade der Krieg, zum Beispiel: jahrelang, bevor das Schreiben darüber begann, hatte man das Gefühl und die Gewohnheit entwickelt, zu denken, über ihn zu schreiben sei für immer unmöglich, jedenfalls unmöglich in einem Gedicht.
Wenn ich mich dafür entschieden habe, über diesen Geheimniszustand von einer poetischen Praxis aus zu sprechen, dann bestimmt nicht deshalb, weil ich sagen will, daß er etwas Besonderes für die Poesie ist.
Die Poesie ist nur eine der vielen Erkenntnisformen des Menschen, und durch sie alle verläuft dieselbe Scheidelinie, ob es sich nun um Philosophie, Mathematik oder Naturwissenschaft handelt.
Eine Scheidelinie zwischen denen, die glauben, der Mensch mit seiner Sprache stehe außerhalb der Welt, und denen, die erleben, daß ein Mensch qua Sprache ein Teil der Welt ist; und daß es deshalb notwendig wird zu verstehen, daß, indem ein Mensch sich ausdrückt, auch die Welt sich ausdrückt.
Vermutlich hören wir alle täglich, es sei ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs, wie die Regenwälder leben und atmen. Aber warum sollte es nicht, auf dieselbe Weise, ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs sein, wie wir als Menschen leben und atmen und uns ausdrücken, zum Beispiel über den Zustand der Regenwälder.
Wir müssen wissen, daß wir nicht hinauskommen können. Wir können so tun, als ob. Aber dies, daß wir tun können als ob, zeigt immer noch an, daß wir nicht hinauskommen können. Wir können nicht außerhalb der Erkenntnis erkennen.
Kriege, auch Glaubenskriege, können nur geführt werden, weil Leute meinen, es sei möglich, hinauszutreten und eine bestimmte Wirklichkeit abzugrenzen.
Ab und zu wünsche ich mir eine Wettervorhersage für die Bewegungen von Menschen, für die Gemütsbewegung, die uns dazu bringt, Mauern zu stürzen, den Hunger, der uns dazu bringt, wie entlaubte Bäume durch Wüstensand zu wandern, das weißhemdige Schwärmen, das uns dazu bringt, uns wie Insekten an der Börse zu drängen – ich verstehe nicht, warum die Höhen der Erkenntnis mir nicht diese Wettervorhersage gebracht haben, die all diese menschlichen Hochdruckgebiete, Tiefdruckgebiete, Zyklone als Teile vom augenblicklichen Zustand des Erdballs erklärt.
Um so weniger, als ich von Meteorologen wie auch anderen Wissenschaftlern, die ich kennengelernt habe, weiß, daß sie den Geheimniszustand kennen. Sie sagen vielleicht nicht, daß sich die Worte plötzlich verselbständigen, aber sie sagen, daß das Problem sich plötzlich selbst löst; sie sagen nicht, daß das Gedicht sich selbst schreibt, nein, sie sagen geradezu, daß die Dinge selbstredend sind.
Jahrelang rackern sie sich ab, damit Bewußtsein und Vision zusammenhängen, und traben ruhelos in diversen Universitätsparks herum, bis die Welt sich plötzlich in sie einschreibt und die Trennung zwischen Welt und Mensch aufgehoben ist, so daß die Welt sich selbst durch das Bewußtsein des Menschen schreiben kann.
Das läßt sich nur machen, weil wir an die Formen der Natur gebunden sind, dadurch, daß wir selber eine ihrer vielfältigen Formen sind.
Deshalb ist es auch nicht Poeten, Wissenschaftlern oder anderen Sachwaltern des Verhältnisses zwischen Bewußtsein und Welt vorbehalten, Zusammenhänge und Relationen zwischen Dingen in aller Welt zu erkennen.
Diese Erkenntnis liegt bereits in der Welt. In all den Vergleichen, aus denen die Welt in sich besteht. Zum Beispiel ist es undenkbar, daß die Welt ganz darum herumgekommen wäre, zu einem gewissen Zeitpunkt zu sagen: der Apfel ist rund, wie die Sonne rund ist, oder unzählige Dinge.
Das ganze Relationsnetz zwischen allen existierenden Phänomenen, die unsere Welt ausmachen, muß uns zu einem immer raffinierteren Verständnis dafür führen, daß unsere Kulturformen, all die menschengeschaffenen Ausdrucksformen, darunter die vielfältigen Formen der Poesie, zwar als etwas in sich betrachtet werden können, daß sie vor allem aber die Formen der Natur sind.
Deshalb appelliere ich an das Gefühl, von einer unfaßbar großen, immer schon existierenden Gefühlsgrundlage getragen zu sein.  Insbesondere daran, daß man als Dichter lernen muß, die Präpositionen zu lieben, weil nämlich sie, fast unbillig unsichtbar, wie sie sind, das Bewußtsein in derselben Art von Bewegung halten wie die Welt.
Es wird also unnötig, sich unbedingt selbst zu realisieren, als Dichter zum Beispiel, nur um zu spüren, daß etwas in der Welt zugegen ist, statt sich selbst zu entrealisieren, weil alles in der Welt bereits zugegen ist. Deshalb ist in dem ganzen auch eine Art Trost. Wenn wir außerhalb der Welt gesetzt sind, dann deshalb, weil wir uns selbst außerhalb gesetzt haben. Wir glauben soviel. Man soll aber nicht soviel glauben. Man soll wissen. Daß man sich bereits in dem Geheimniszustand befindet, den man sucht.

Inger Christensen, Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Heft 40, 1992

Zu Inger Christensen 

Ich begegnete ihr wohl ein paar Mal, lernte sie aber nie wirklich kennen, das Fischgesicht ihrer Person (mein Bild davon, wer sie innerlich wohl sein mochte) schaute mich stets sprachlos an, so schien es mir, oder stumm, die Augen wässrig, so schien es mir. Sie blitzten auf, als sie den Hund sahen, Bewegung kam in die Wangen, die damals im Sommer 2002 im Theater von Bremen, es war das zweite Mal, dass wir uns begegneten, weniger rundlich schienen als beim ersten Mal 1995 im Theater von Münster, als Christensen auf der Bühne diese Sache mit der Stimme machte, mit der dänischen Sprechstimme oder Sprechweise, und mit ihrer dänisch-deutschen Stimme. Obwohl doch Hanns Grössel die Übersetzung las des Schmetterlingstals, seine Übersetzung, und Inger Christensen die dänischen Sonette las, ihre Übersetzung, will es mir scheinen, wenn ich mich daran aus den hintersten Reihen des für diese Lesung kleinen Theaters in Münster erinnere, dass sie die Verse selbst auf deutsch las indem sie sie dänisch las, das ich nicht verstehe, aber verstand, das ich nämlich fühlte, weil es mich zu greifen bekam.
Später liefen wir um Drostes Wasserburg, Inger Christensen kam nicht oder nur unscheinbar mit, weil sie, wenn sie nicht auf der Bühne sprach, mir in der Erinnerung fast stumm erscheinen will, nicht sprechendes, sondern beobachtendes Wesen, Klugheit in den mild-scharfen Augen. Ich staunte, begann zu lesen und begriff sehr langsam, es sickerte über die Jahre hinweg ein, was eine Stimme zu sein vermag, wenn sie sich aus einem Leben heraus formt das immer auch eines des Nachdenkens war.
Man spricht im Deutschen vom „Vortrag“, und Christensen konnte tatsächlich beides, tragen und reichen. Das mit der Stimme in einem zu tun, ist nur möglich, wenn beides zuvor im Schreibdenken, im Ausstrecken der Hand mit dem Stift innerlich bereits geschehen ist, in Suche und Aufbruch, im Rhythmisieren und Finden. Die paradoxerweise ihrerseits umgekehrt so doch nur stattfinden können, weil es die Vortragsstimme bereits gibt. Beides, inneres Schreiben und äußeres Sprechen, wuchsen aneinander, glaubte ich zu begreifen. Und diese Arbeit – die ununterbrochene harte Arbeit, dorthin zu gelangen (selbst bis dorthin auszureichen) – diese Arbeit der Klarheit konnte, das hörte ich 1995 in Münster, sogar die einzelne Sprache überspringen.
Es ist dies vielleicht etwas vom so oft berufenen und nie gefassten „eigentlichen Poetischen“, wenigstens in einer seiner Erscheinungsformen: das durch Höransteckung zustande kommende Verstehen einer Sprache, die man nicht spricht. Dass man dieses magische Hören durch Bedeutungen hindurch mit Hilfe des Herausarbeitens einer Struktur zu induzieren vermag, war eine Art Wunder. Ich lernte: Struktur, nicht Skelett, sondern lebendig verästelt, gefühlt und gebildet, die als Struktur, so Christensen, wenn sie auf der Bühne sprach, in etwas hineinreicht, das es ohne diese Stimme nicht gibt. Das war ein Stück „der Herz, der meine“, ich konnte es erträumen, und sieben Jahre später in Bremen spürte ich es wieder, und wir sahen uns an, als der Hund, ein Welpe, noch überall spielte. Das Weinglas einer in der Nähe sitzenden Frau stieß er um, da lachte Inger, die Dichterin mit dem männlich klingenden Namen und dem androgynen Gesicht, auf kindhafte Weise, ihr Lächeln freute sich über die Patschigkeit des Hundes und die Lebensmütigkeit darin, über die Lebendigkeit, dieses größte Geschenk.
Und etwas Weiches (dänisches Vokalisieren, Singen wie Schaukel) umspinnt für Sekunden, ohne jeden Laut, mein Ohr. 

Ulrike Draesner, aus Michael Buselmeier (Hrsg.): „die aprikosenbäume gibt es“. Zum Gedenken an Inger Christensen, Verlag Das Wunderhorn, 2010

 

DER MÖNCH AM MEER (1995)

Weißt du noch: Januar 1989 in Berlin Charlottenburg bei Kälte und Sonne
und Ivan in schwerem Ausnüchterungsschlaf
(war durch Kombination von Whisky mit Gin abendkrönend gewesen)
Weißt du noch: wir entschieden uns für die romantische Abteilung
und steuerten über die knarrenden Dielen des Schlosses
gradewegs auf Caspar David Friedrich zu
Ob du Bücher liest wie du Bilder besiehst
Elegant durchquertest du Saal nach Saal
ohne die alten Maler eines Blicks zu würdigen bis auf den Meister
für den wir uns entschieden hatten eines Abends in Wannsee
wo deine Aprikosenbäume auf deutsch geblüht hatten
Weißt du noch: Der Mönch am Meer
– eine Miniaturfigur auf der Landspitze draußen am Meer
unter einem Himmel der fast das ganze Bild ausmacht
Wo der Sand leicht um ihn wellt
steht er und schaut wie Himmel und Meer eins werden
dort verschwinden seine Gedanken hinauf in den Äther
oder dort nimmt sein Vergessen die Farbe der Welt an
Eine Meeressehnsucht, ein Gezogenwerden zum Offnen
der Wind bringt die einsame Gestalt ins Schwanken
ganz da draußen wo die Seele sich leicht aus dem Körper ziehen lässt
Ich hörte deinen Herzschlag, den Puls wie Schmetterlingsflügel
als du dich vorbeugtest, dein Gesicht lauschend dem Bild nähertest
und den Blick, ganz verloren, festheftetest
Zeit zerschellt, langsam wird die Welt geboren:
Der Himmel leuchtet, die Wolken bewegen sich, die Wogen heben den Gischt hervor
und der Wind erfasst die Kutte des Mönchs
Du beugst dich immer weiter vor zu dem Mönch
der übers Meer schauend wie eine Fackel
gegen den öden und gewaltigen Horizont steht
Schweigen, Warten und Einsicht
Du sinkst ein in dieselbe Stille
du öffnest dich derselben Leere
– da läutet frostweiß eine Klingel
und entzündet deine Schmerzpunkte
Ich weiß noch: du warst wie heruntergeholt von der Höhe eines geheimen Gesprächs
oder wurdest du gnadenlos aus einer Umarmung geweckt
nicht bloß von der Charlottenburger Alarmanlage
und den vielen herbeieilenden Wärtern
die dir lange auf die Schulter pochen mussten
Auch die metaphysischen Alarmklingeln waren überall zu hören:
Die Wahrheit gibt es vielleicht, da wir sie doch suchen.

Pia Tafdrup
(Aus dem Dänischen von Hanns Grössel)

 

 

Thomas Sparr: Lesbarkeit der unlesbaren Welt. Die dänische Lyrikerin Inger Christensen, Merkur, Heft 567, Juni 1996

Uljana Wolf sprach im Rahmen des poesiefestival berlin 2008 mit Inger Christensen.

Zwiesprachen: Nico Bleutge über Inger Christensen. Am 5. November 2019 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Jan Wagner: Weltenformeln. Vor allem über Inger Christensen. Zweiter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Inger Christensen

 

Inger Christensen spricht 2008 mit Paal-Helge Haugen.

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