ABENDLIED
Stiller Abend. Dunkelgold.
Ich sitz beim Gläschen Wein.
Was ist geworden aus meinen Tagen?
Ein Schatten und ein Schein –
ein Augenblick von Dunkelgold
soll in mein Lied hinein.
Stiller Abend. Dunkelgold.
Ein Jude, alt und grau,
betet fromm den Stub
vor dem Jahrmarkt fort –
soll doch ein Murmeln vom Gebet
hinein zu mir ins Lied.
Stiller Abend. Dunkelgold.
Wind, weltaus, weltein.
Die Trauer, die gewesen wach,
schläft wie ein Küken ein –
soll doch ein Atem seines Schlafs
zu mir ins Lied hinein.
Stiller Abend. Dunkelgold.
Davon ein Sommervogel fliegt,
mit Flügeln grau und gold,
und fort nach „Gott behüt“ –
soll doch ein Zittern seines Flugs
hinein zu mir ins Lied.
Stiller Abend. Dunkelgold.
Ich sitz beim Gläschen Wein.
Was ist geworden aus meinen Tagen?
Ein Schatten und ein Schein –
ein Augenblick von Dunkelgold
soll in mein Lied hinein.
Laßt uns singen einfach und klar
von allem, das heimisch, lieb und teuer:
von alten Bettlern, die fluchen dem Frost,
und von Müttern, die segnen das Feuer.
Mit dieser Welt und ihren Menschen war Itzik Manger verbunden, einer Welt der kleinen Taten und Gesten, die Wärme und Nähe gewähren und Menschlichkeit bedeuten. Zu ihr gehörten Handwerker und Dichter, Volkslied und religiöse Überlieferung, Armut und Urvertrauen, Not und Schaffensfreude; noch galt der Segen über den Schabbat- und Feiertagslichtern, noch ließ sich singen. Manger und seine Dichtung entstammen dieser Welt, und zu ihr spricht er mit seinen Liedern, Balladen, Gedichten, Erzählungen und Essays. Es ist das jüdische Osteuropa mit seinen rumänischen, galizischen, polnischen oder baltischen Landschaften und der jiddischen Kultur. Mit der Vernichtung der osteuropäischen Judenheit durch die Nationalsozialisten sind Mangers heimische und kostbare Welt und ihre Sprache, das Jiddische, unwiederbringlich verlorengegangen. Der Mensch Itzik Manger überlebte im Exil, der Dichter kaum. Es blieb die Entwurzelung ohne Aussicht auf Rückkehr in die Welt, aus der seine Dichtung entsprang. Im erzwungenen Leben in der Fremde, ohne den Horizont der Zugehörigkeit, des Beheimatetseins – das ist Sprache, Menschen und Geographie – erstickte das Gedicht.
Itzik Manger ging bereits zu Lebzeiten als „Prinz der jiddischen Ballade“ in die Geschichte der jiddischen Literatur ein. „Der Prinz“ war ein kleiner, hagerer Mann mit hoher Stirn, eng beieinander liegenden, großen, dunkel brennenden Augen und unbezähmbaren schwarzen Locken. Seine Gedichte wurden vorgetragen, noch bevor der erste Band Sterne auf dem Dach (Bukarest 1929) erschien. Manger, der gerne Schabernack trieb, erzählte Fragenden erfundene Geschichten über sich. Dies tat er auch beim Lexikographen Salmen Rejsen, so daß 1927 im Lexikon der jiddischen Literatur, Presse und Philologie der folgende Eintrag erschien:
Manger, Itzik: geboren 1900 in Berlin als Sohn eines aus Rumänien immigrierten Schneiders. Kam mit 14 Jahren nach Jassy, wo er Jiddisch lernte und bis vor kurzem als Schneider arbeitete.
Von Berlin, dem damaligen Zentrum der deutschen Kultur, nach Jassy, einem Zentrum der jiddischen Kultur? Die Wirklichkeit sah anders aus:
Itzik [Koseform von Jizchok, Isaak] Manger wurde am 30. Mai 1901 in Czernowitz geboren und als Isidor Helfer vel Manger eingetragen. Sein Vater, der Schneidermeister Hillel Manger, stammte aus der ostgalizischen Kleinstadt Stoptschet, verdiente mit seinem Handwerk den Lebensunterhalt für seine Familie nur knapp, hatte aber Humor und Sinn für Poesie. Von Zeit zu Zeit verfiel er in Melancholie und verschwand für einige Tage. Itzik Manger bewunderte den Humor seines Vaters und die Gabe, auf Familienfesten gereimte Reden und Parodien zu improvisieren. Seine Mutter Chawe Woliner, die Tochter eines Matratzenmachers aus Kolomea, kannte viele jiddische Volkslieder und Volkserzählungen, die sie ihren Kindern beibrachte; und sie war fromm.
Itzik Mangers Kindheit war von Armut und Hunger gezeichnet. Es gab Zeiten, da reichte das Geld für die Miete nicht aus. Nicht nur einmal mußten Eltern und Kinder – Itzik Manger hatte zwei jüngere Geschwister, Notte und Schejndl – sogar in einem einzigen Raum oder in einem Keller hausen. Itzik und Notte trugen Zeitungen aus und brachten der Mutter ihren Lohn. Doch schlugen Humor, Gesang und Gebet eine Brücke zu einer anderen Freiheit.
Die Landschaft, welche Mangers Kinderjahre prägte, erstreckte sich von Czernowitz nach Ostgalizien, vom Pruth bis zu den Karpaten. Besonders gut kannte er die Strecke zwischen Stoptschet und Kolomea, die er in den Ferien mit dem Großvater oft gefahren war, wenn dieser als Fuhrmann Bauholz durch das Gebirge transportierte. Der Weg ging durch Wälder und dünn besiedelte Gebiete. Die Landschaft erinnerte an den Mystiker Baal-Schem-Tow, der in den Jahren 1730 bis 1738 auf denselben Pfaden umhergezogen war, sich in den karpatischen Wäldern der Einsamkeit und der inneren Schau hingegeben hatte. Orte und Bilder dieser Landschaft werden in Gedichten immer wieder beschworen.
Manger wuchs im multiethnischen Czernowitz auf, das bis zum Ersten Weltkrieg Hauptstadt der k.u.k. Provinz Bukowina war. Diese Stadt war auch der Geburtsort anderer jüdischer Dichter, etwa der gleichaltrigen Rose Ausländer und des jüngeren Paul Celan. Man wuchs mehrsprachig auf, „ein schönes Deutsch“ war wichtiger Bestandteil des Bildungsideals, Schillers „Glocke“ oder Goethes „Erlkönig“ sollte man rezitieren können.
Itzik Manger ging zunächst in den chejder [traditionelle jüdische Elementarschule für Knaben, Unterrichtssprache: Jiddisch], danach in eine deutsche Volksschule und schließlich auf das K. K. Dritte Staats-Gymnasium. Von den Mitschülern „Poet“ genannt, da er Goethes Ballade „Der getreue Eckart“ dramatisch in Szene setzte, wurde er jedoch bereits im zweiten Jahr seiner Streiche wegen des Gymnasiums verwiesen. Nun stand eine Schneiderlehre in der Werkstatt des Vaters an. Manger las weiterhin begeistert die deutschen Klassiker, bewunderte Rilke und Hofmannsthal und taugte zum Schneiderlehrling kaum. Viel lieber verbrachte er Stunden im jiddischen Theater des Awrom Axelrod, der ihm für allerlei Dienste erlaubte, sich hinter den Kulissen aufzuhalten und von dort aus die Aufführungen anzuschauen. Hier sah er dramatische Bearbeitungen von biblischen Stoffen und jiddischer Folklore.
Während des Ersten Weltkriegs kam der Schneidergeselle nach Jassy, wohin seine Familie nachzog. Dort lernte Manger das sinnliche Jiddisch der Handwerker und einfachen Leute sowie das intellektuelle Jiddisch im Umkreis des Sozialisten Dr. Ludwig Gelerter kennen. Jassy mit seinem regen jiddischen Kulturleben scheint in Manger tiefere Spuren als das deutsche Czernowitz hinterlassen zu haben: Das älteste erhaltene Notizbuch Mangers beginnt auf dem linken Buchdeckel mit dem rumänischen Vermerk „Journalul meu 1917“, führt jedoch, von rechts geöffnet, den Titel [kwejtn, jidd. Blüten] / Poesie … / von / J. [Jizchok] Manger“ und enthält jiddische Gedichte, entstanden 1918–1919. Wenn auch der Untertitel noch deutsch ist, bezeugen doch diese frühen Gedichte bereits die Entscheidung fürs Jiddische als die Sprache der eigenen Dichtung; selbst einzelne Gedichte in lateinischer Schrift sind lediglich Transkriptionen von solchen, deren jiddischer Urtext in hebräischer Schrift belegt ist.
Eine erste Veröffentlichung ermöglichte der Czernowitzer Dichter und Verfasser von Fabeln, Elieser Steinbarg. In der von ihm herausgegebenen jiddischen Zeitschrift kultur ließ er im Juli 1921 Mangers Ballade „doss gassnmejdl“ und das Gedicht „passche-nacht“ [Osternacht] abdrucken. Weitere Veröffentlichungen in arbeter zajtung, doss naje lebn, almanach far grojss rumenje oder schojbn [Fenster] folgten. Manger, anerkannt von Elieser Steinbarg und Jankev Sternberg, wurde bald eine unverwechselbare Stimme der jiddischen Dichtung in Rumänien.
Es waren fruchtbare Jahre. In Mangers Nachlaß, der sich in der National- und Universitätsbibliothek Jerusalem befindet, zeugt eine Vielzahl erhaltener Aufzeichnungen aus den zwanziger Jahren von einer schöpferischen Kraft, die sich in verschiedenen literarischen Formen versucht: lyrischen Gedichten, Balladen, Liedern, Aphorismen, Fragmenten von Theaterstücken, Prosa und Übersetzungen. Für den ersten Gedichtband Sterne auf dem Dach (Bukarest 1929) traf Manger eine strenge Auswahl und ließ nur einen Teil des Frühwerks gelten.
Bereits der junge Manger gab gerne den Bohemien und den „poete maudit“. Er trank, betrank sich leicht und sorgte für Skandale. Er las viel, kannte sich aus und hielt brillante Vorträge über moderne jiddische Poesie, über das rumänische Volkslied oder über französische Dichter. Armut bedeutete Beschränkung, Poesie aber Freiheit und Trost. Jiddische Literatur war integraler Bestandteil der europäischen, und das wichtigste Bindeglied zur Literatur Europas war die deutsche Literatur. In den zwölf von ihm herausgegebenen Heften gezejlte werter [Einige Worte], erschienen vom 2. August 1929 bis 10. Oktober 1930, veröffentlichte er zwei von ihm aus dem Deutschen ins Jiddische übersetzte Gedichte: in Nr. 2, Rilkes „Wahnsinn“ und in Nr. 4, unter dem Titel „Anthologie europäischer Lyrik“, Trakls „Sommer“. Und doch betrachtete Manger jiddische Sprache und Kultur als hefker [etwas, das niemandem gehört und worüber jeder verfügen kann] und nannte bereits seit Mitte der 20er Jahre seinen Selbstverlag jidisch is hefker [Jiddisch ist eine Niemandssprache].
Ende 1928 war Manger nach Warschau gekommen, wo er zehn Jahre bleiben sollte. Diese Jahre, wird er später sagen, seien die schönsten seines Lebens gewesen. Sie waren die produktivsten und erfolgreichsten. Als Manger 1928 in Warschau eintraf, war er dort kein Unbekannter mehr, denn der jiddische Vortragskünstler Hertz Grosbard hatte die Balladen und Gedichte des jungen Dichters, den er kurz zuvor in Czernowitz kennengelernt hatte, in sein Repertoire aufgenommen. Jiddische Literatur wurde damals in Osteuropa besonders gerne gehört. Grosbard galt als der beste Rezitator. Seine Abende nannte er „Jiddische Wortkonzerte“.
Bis 1939 war Warschau die Metropole der jiddischen Kultur in Osteuropa. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich ein reger Kreis von Kulturschaffenden um den Schriftsteller Jizchok Lejbusch Perez und um die von ihm verantworteten Veröffentlichungen jidische bibliotek (1891–1894), literatur un lebn 1894 und jontew bletlech [Feiertagsblätter] (1894–1896). Hinzu kamen weitere jiddische Zeitungen und Zeitschriften, die bekanntesten darunter seit 1906 jidisches tageblat, seit 1908 hajnt [Heute] genannt, und seit 1911 moment. Zwischen den beiden Weltktiegen blühte in Warschau das jiddische Theater mit Stücken von Goldfaden, Gordin, Scholem Alejchem, Perez oder Anski, aber auch mit Übersetzungen von Molière, Shakespeare, Strindberg oder Büchner. Die berühmte wilner trupe spielte Anskis Dibuk, Zygmund Turkow und Ida Kaminska gründeten das Warschauer Kunsttheater Wikt und führten 1922 als erstes Scholem Aschs Motke ganew [Motke der Dieb] auf. Das seit 1933 bestehende experimentelle jung-teater spielte 1936 Woyzeck (in der Übersetzung Itzik Mangers), ein teater far jugnt wurde errichtet, das 1937 mit Mangers Stück nach einem Motiv aus Goldfadens di kischefmacherin [die Hexe] Premiere hatte. Die lebendige jiddische Theaterszene in Warschau schloß auch zahlreiche Aufführungen populären Theaters ein und begünstigte die Produktion jiddischer Filme. Das berühmte Film-Musical Jidl mitn fidl mit dem Star Molly Picon produzierte Joseph Green 1936 in Warschau. Itzik Manger besorgte die Liedtexte.
Mangers Hafen in Warschau war der Jiddische Schriftstellerverband auf der Tłomackie-Straße 13. Dort trafen sich Schriftsteller und Journalisten, dorthin kamen die Vertreter aus Hunderten schtetlech, um Lesungen und Vorträge zu buchen. Damals hatte jiddische Literatur mehr Zuhörer als Leser. In diesen Jahren wie nie mehr danach erlebte Manger seine Zugehörigkeit zum Jiddisch sprechenden Volk. Von Warschau aus zog er durch Polen, Rumänien und die baltischen Länder; wo Jiddisch gesprochen wurde, trug er seine Balladen und Gedichte vor, die alsbald populär wurden. Seine Verehrer entstammten vorwiegend der jüdischen Arbeiterschaft. Die Arbeiternähe brachte Manger zu der naje folkszajtung der jüdischen sozialdemokratischen Partei bund und zur Wochenzeitung forojss [Vorwärts], deren Mitredakteur er wurde.
Doch gab es auch Reisen in die westeuropäischen Metropolen, darunter Paris und Berlin, wo er Else Lasker-Schüler begegnete.
1928–1938 waren die produktivsten Jahre in Mangers Schaffen: Es entstanden sechs Gedicht- und zwei Prosabände, ein Theaterstück, es erschien eine Sammlung von Übersetzungen aus der Volksdichtung der Welt. Sein Werk wurde diskutiert, sei es privat oder in der jiddischen Presse. Über den 1935 erschienenen Band biblischer Gedichte chumesch-lider [Fünfbuchgedichte] gab es jubelnde, aber auch tadelnde Kritiken; denn Manger hatte gewagt, die erhabenen biblischen Gestalten in osteuropäische Alltagsjuden zu verwandeln. Später wird er sagen (Interview mit Jankew Pat, veröffentlicht 1954), es sei ein falscher Vorwurf, wenn man in den Gedichten eine Profanierung der Väter vermute, denn den Juden sei Gott heilig, nicht jedoch die Väter. Diese seien Menschen gewesen.
Abraham, unser Vater, barg große Schönheiten, war aber zugleich ein Mensch. Er konnte mit Gott wegen Sodom hadern, seine Magd Hagar und seinen Sohn Ismael auf Geheiß seiner Frau Sarah vertreiben. Das Menschliche hat den Künstler immer inspiriert. Schönheit, Sünde… – der Künstler hat beide Sachen erhoben, denn im Leben hausen sie zusammen.
Auch die Aufführungen des Theaterstücks di kschefmacherin 1937 (später hozmach-schpil genannt) löste eine öffentliche Debatte aus, da manche Kritiker in diesem äußerst freien Umgang mit Awrom Goldfadens Stück eine Mißachtung der Vorlage sahen.
Wichtigste Unterstützung und Inspiration erfuhr Manger seit 1932 durch seine Lebensgefährtin Rachel Auerbach, Rochl Ojerbach (Lanowitz, Galizien 1903 – Tel-Aviv 1976). Sie war eine begabte und geschätzte Publizistin, die in jiddischen und polnischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte und neben ihren Artikeln zu Literatur, Kunst und Psychologie auch poetische Kurzprosa schrieb. Mit ihr erlebte Manger, was geordnetere Lebens- und Wohnverhältnisse bewirken können. Sie half Manger, seine zerstreuten Manuskripte zusammenzustellen, übersetzte Gedichte ins Polnische, stand ihm, als er der freien Bearbeitung der kischefmacherin wegen in der Presse angegriffen wurde, öffentlich bei und betreute die Drucklegung seiner Bücher, zumal nach seiner Ausweisung 1938. Die einzigen Liebesgedichte, die Manger je geschrieben hat, entstanden in der Zeit dieser Liebe und waren ihr gewidmet (Welwl Sbaržer schreibt Briefe an Malkele die Schöne, Warschau 1937). Später wird Manger für geliebte Frauen diese Gedichte umwidmen, aber keine neuen schreiben. Rachel Auerbach, die die Zerstörung des Warschauer Gettos auf der „arischen Seite“ überlebte, rettete Mangers Manuskripte und Unterlagen; doch war sie, nach dem Bruch, den die Schoah in ihr verursacht hatte, nicht mehr in der Lage, mit ihm weiter zusammenzuleben. Als Auerbach 1945 mit einer jüdischen Delegation nach London kam, muß von der Trennung die Rede gewesen sein. Bezeugt sind wüste Beschimpfungen, mit denen der betrunkene Manger Rachel Auerbach auf einem Empfang zu Ehren der Delegation überfiel. Sie verließ aufgelöst den Ort, die Gäste gingen entsetzt nach Hause. Es kam nicht mehr zu einer Versöhnung. Auerbach und Manger sahen sich nie wieder.
1938 wurde Manger aus Polen ausgewiesen, da er auf Geheiß der faschistischen rumänischen Regierung ausgebürgert worden war. Er verließ Warschau und strandete in Paris. Seine Welt brach zusammen. Getrennt von Rachel Auerbach, seiner in Rumänien gebliebenen Familie – Vater, Bruder und Schwester – und von der ihm vertrauten jüdischen Welt, begannen Jahre des Exils, des Leids und der Verzweiflung. Manger lebte in größter Armut, bat seine inzwischen nach Amerika emigrierten jiddischen Schriftstellerfreunde, für ihn die Einreise nach Amerika zu ermöglichen; diese Hoffnung jedoch erfüllte sich nicht. Im April 1940 floh er vor den Nazis nach Marseille und hoffte auf ein „Zertifikat“, eine Einreisegenehmigung nach Palästina. Er bekam jedoch kein Zertifikat und kam auch nicht nach Palästina. Ein Schiff mit jüdischen Flüchtlingen und Itzik Manger an Bord änderte seinen Kurs und fuhr statt nach Palästina nach Nordafrika. Es dauerte einige Monate, ehe Manger nach Marseille zurückkehrte – und nicht weiter wußte. Schließlich erbarmte sich ein französischer Schiffskapitän seiner und nahm ihn an Bord seines Schiffes, das nach Gibraltar fuhr. Manger sollte als Matrose arbeiten, doch bald wurde der über Frankreichs Niederlage verzweifelte Kapitän Mangers Trinkkumpan. Von Gibraltar aus gelangte er auf einem anderen Schiff nach England. Während der Überfahrt erkrankte Manger schwer und mußte bei seiner Ankunft in Liverpool sofort in ein Krankenhaus eingeliefert werden. 1941 schlug er sich schließlich nach London durch, wurde aber schnell enttäuscht: Die Zeiten, da in Whitechapel jiddische Kultur blühte, waren vorbei. Manger fand sich isoliert, litt an Krankheiten und ständigem Hunger, träumte von New York und war überzeugt, daß die tonangebenden jiddischen Schriftsteller Leivik und Leyeles ihm die ihm seiner Ansicht nach zustehende und dringend erforderliche Unterstützung verwehrten.
In jenen Jahren (1941–1951) war Margaret Waterhouse, Urenkelin des Dichters Percy Bysshe Shelley und eine bekannte Londoner Buchhändlerin, buchstäblich Mangers rettender Engel. Sie nahm den mittellosen Flüchtling, dessen Augen nicht von den Büchern in ihrem Schaufenster wichen, bei sich auf. Es wird ihr nicht leichtgefallen sein, Mangers bittere Verzweiflung, sein Trinken und Kettenrauchen, seine Zornesausbrüche und zerrütteten Nerven zu ertragen. Doch sie gab ihm ein Zuhause, versorgte den leidenschaftlichen Leser mit Büchern und führte ihn in die englischen literarischen Kreise ein, wo man sein Talent bewunderte. Manger verbesserte seine Englischkenntnisse, vertiefte sich in englische Literatur und machte jiddische Gedichte. Freunde und Bekannte versuchten ihm zu helfen. Hie und da wurden Vorträge vermittelt, er schrieb Beiträge für jüdische Zeitungen, doch war die Resonanz für Jiddisch insgesamt gering. Die Unterstützung der Freunde ermöglichte aber die Herausgabe zweier Gedichtbände. Wolken über dem Dach, 1942, und Der Schneidergeselle Notte Manger singt, 1948, sowie des Stücks Hozmach-Spiel.
Als Manger erfuhr, daß sein Vater in einem Lager in Transnistrien umgekommen und sein Bruder, von den Sowjets nach Samarkand deportiert, 1944 an Krankheit und Hunger gestorben war, verfiel er in schwere Depression.
Der Bruder Notte, dessen Liebe ebenfalls der Literatur galt, hatte Itzik Manger geistig am nächsten gestanden. Um Werke im Original lesen zu können, hatte er, der neben Jiddisch auch Rumänisch und Deutsch beherrschte, sich außerdem Englisch und Griechisch beigebracht. Sein kurzes Studium in Paris hatte er abgebrochen, um der todkranken Mutter beizustehen. Zusammen mit dem Vater hatte er, der wie Itzik das Schneiderhandwerk erlernte, eine Schneiderwerkstatt in Bukarest geführt. Der Kritiker Shloyme Bickel zeichnet in einem kleinen Essay, der den Gedichtband Der Schneidergeselle Notte Manger singt eröffnet, ein Porträt Notte Mangers:
Der schlanke, schöne Schneidergeselle mit den traurig ironischen Augen kannte sich in der Weltliteratur aus und vermochte ein poetisches Werk in einer Weise zu analysieren, für die ihn professionelle Kritiker hätten beneiden können […]. Notte saß an einem der langen Arbeitstische, hielt eine Näharbeit auf dem Schoß, bewegte die Nadel mit unheimlicher Flinkheit und machte dabei mit stiller, angenehmer Stimme Bemerkungen über seinen geliebten Rimbaud, über die Meister der deutschen Ballade, über den Poeten Mojsche Lejb und auch über den Dichter Itzik Manger.
Mit dem Band Der Schneidergeselle Notte Manger singt gedachte Manger seines Bruders, der ihm ein alter ego war und nun poetische Instanz und Stimme wurde. Zugleich markiert der Band die Bruchlinie im Mangerschen Werk: danach entstanden kaum noch Gedichte.
1950 bei der Konferenz des internationalen PEN-Clubs in Edinburgh lernte der neuseeländische Schriftsteller und Mitarbeiter der Oxford University Press Dan Davin Itzik Manger kennen. Sie befreundeten sich schnell und verbrachten viel gemeinsame Zeit in einer Bar. Davin hielt die Geschichte der Freundschaft und die Gestalt Mangers in eindringlicher Prosa in seinem Buch Closing Times, Oxford University Press 1975, fest.
Bald erkannte ich, daß er eine andere Gabe hatte: Er konnte Freundschaft schließen. Das war Teil einer in ihm angelegten Angstlosigkeit, eine Offenheit für andere, ein entwaffnendes Vertrauen. Als die Zeit kam, die Bar zu schließen, kannte ihn bereits jeder Stammgast – und Stammgäste sind Fremden gegenüber meistens mißtrauisch – und man hatte sich gegenseitig Getränke ausgegeben. Sie machten ihn zu einem Ehrenschotten und christianisierten ihn zu MacManger. Lieder wurden gesungen, und ich war nicht minder überrascht als der Rest, daß Itzik Burns zitieren konnte.
Zu einem späteren Zeitpunkt, als Manger Davin in Oxford besuchte, las er einige Gedichte auf jiddisch und improvisierte eine Übersetzung ins Englische:
Ich konnte natürlich kein Jiddisch, doch mich berührte die Stimme, so schwingend, flexibel und leidenschaftlich eloquent. Und seine Übersetzung, so unvollkommen das Englische war, gab mir einen Eindruck von der Substanz seiner Verse, von den Themen, von der Meisterschaft der schlichten Metapher, von der selbstverständlichen Bewegung zwischen dem Alltäglichen und dem Erhabenen. Ich fühlte in ihm etwas von einem jiddischen Villon, von einem Nerval, von einem Rimbaud. Ich deutete ihm an, daß er mit Worten das tat, was Chagall mit Farbe machte, und das schien ihm zu gefallen, denn er sah in Chagall einen Meister und einen Geistesverwandten.
1951 gelang Manger schließlich die ersehnte Reise nach Amerika. Er kam zuerst für eine Vortragsreihe nach Kanada und reiste dann weiter nach New York. In Montreal traf er auf eine große und lebendige jiddische Gemeinde. Man nahm ihn mit Wärme auf, und er erlebte einmal mehr, daß man seine Gedichte kannte, seine Lieder sang.
In den USA kamen Tausende zu seinen Vorträgen und Lesungen. Er begegnete seiner neuen Lebensgefährtin Ghenya, der Witwe des Schriftstellers Moysche Nadir, die er später heiratete, lernte die von ihm sehr geschätzten jiddischen Dichter Mani Leib und Joseph Rolnik persönlich kennen und erlebte 1952, nach Jahren, in denen seine in Osteuropa erschienenen und längst vergriffenen Bücher nicht erhältlich gewesen waren, die Herausgabe von Gedichte und Balladen, der umfangreichen und bis heute als maßgeblich geltenden Auswahl seiner Gedichte.
In New York bemühte sich Manger um ein geregeltes Leben, schrieb Erinnerungsprosa für tog morgn shurnal und der weker und mußte sich um seine zerrüttete Gesundheit kümmern.
1958 reiste Manger zum ersten Mal nach Israel, und die Gesellschaft, die alles Jiddische als Inbegriff des Diasporalebens verachtet und durch das Hebräische verdrängt hatte, feierte ihn als Helden. Vielleicht war nun, zehn Jahre nach Staatsgründung, der geeignete Moment gekommen, Erinnerungen an das verlorene jüdische Volksleben in Osteuropa zuzulassen. Und vielleicht war Mangers poetisches Werk, das die zerstörte, widerspruchsvolle und doch heimische Welt lebendig verkörpert, der letzte Hafen für Sehnsucht und Erinnerung. Da fand Manger „sein Echo“, wie er es nannte, wieder.
Er las in Tel-Aviv, Jerusalem und Haifa in überfüllten Sälen, fuhr durch das Land, hielt Vorträge, las in Kibbuzim und wurde überall begeistert empfangen. Die Presse berichtete darüber und druckte Interviews mit ihm. Er kam mit Politikern und Künstlern zusammen, sah zum ersten Mal seine Schwester Schejndl und nahe Freunde wieder, die die Schoah überlebt hatten, erwog eine Übersiedlung nach Israel und plante neue Theaterprojekte. Und er fand in Shalom Rosenfeld, damals Chefredakteur der größten israelischen Tageszeitung Maariv, einen nahen Freund und Mentor, der sich unermüdlich um seine beruflichen und persönlichen Belange kümmerte.
1961 wurde in New York und in Tel-Aviv sein 60. Geburtstag öffentlich gefeiert. 1962 lud ihn der Dichter Robert Frost, Präsident der American Poetry Society ein, bei der Jahresfeier der Gesellschaft seine Gedichte vorzutragen. 1963 wurde ihm in New York der Leivik-Preis verliehen, und die UNESCO nahm einige seiner Gedichte in ihre 5. Anthologie der Weltpoesie auf. Dennoch bezeichnete Manger seine New Yorker Zeit als die sterilste seines Lebens. 1967 erschien sein letzter Gedichtband Sterne im Staub, der nur einzelne neue Gedichte enthielt.
1965 wurden seine megile-lider [Esterrolle-Lieder] zu einem Musical verarbeitet und im experimentellen Hamamtheater in Jaffa aufgeführt. Es wurde ein großer Erfolg. Hamam war das Theater der ultimativen ssabress, der hebräisch sprechenden Israelis, die Aufführung eines jiddischen Stücks ein einmaliges Ereignis. Die Vorstellungen waren über Jahre ausverkauft. Manger besuchte Israel, doch erlitt er dort einen Schlaganfall, von dem er sich nur so weit erholte, daß er nach New York zurückkehren konnte. In New York traf ihn nach kurzer Zeit der zweite schwere Anfall, der ihn bettlägrig machte. Nun wünschte er, nicht in der Fremde, sondern in Israel zu sterben, das ihm ein Stück heimisches Echo gewährt hatte. So wurde der Kranke in Begleitung seiner Frau 1966 nach Israel transportiert und in einem Sanatorium in Gedera untergebracht, wo er am 20. Februar 1969 starb. Sein Sarg wurde im Haus des hebräischen Schriftstellerverbands in Tel-Aviv aufgebahrt. Das letzte Geleit gaben ihm der Präsident des Staates Israel, Salman Schasar, die Kulturministerin Golda Meir, jiddische und hebräische Autoren, Künstler, Professoren und eine riesige Schar von Liebhabern seiner Poesie. Einige Monate vor seinem Tod hatte der Staat den Itzik-Manger-Preis für jiddische Literatur gestiftet.
Mangers Entscheidung für das Jiddische war eine bewußte Hinwendung zur Sprache des Volkes und zu der in ihr mitsprechenden Lebenswelt: dem osteuropäischen jüdischen Alltag, der religiösen Überlieferung, der Volkserzählung, dem Volkslied. Nicht minder als die Welt seiner Herkunft prägte Manger jedoch seine Liebe zur Weltliteratur, insbesondere zur deutschen, französischen und russischen Poesie, deren Motive und Klänge er gut kannte. Im Unterschied zu anderen jiddischen Dichtern seiner Zeit fühlte er sich von den Tendenzen der Moderne (u.a. Futurismus oder Expressionismus, wie beispielsweise bei Peretz Markish und Uri Zvi Greenberg) nicht angezogen. Er entfernte sich vom Modernismus der jiddischen Lyrik, sei es in seiner osteuropäischen oder in seiner amerikanischen Form, bevorzugte lyrische Schlichtheit, griff auf Formen und Klänge des Volkslieds, der deutschen Balladentradition, der impressionistischen und phantastischen Lyrik zurück und fand eine eigene Stimme. Es entstand ein poetisches Werk, das sich durch seinen neoromantischen Charakter deutlich von der zeitgenössischen jiddischen Dichtung abhob. Die Affinität zur deutschen Romantik, die sich während Mangers kurzer Zeit auf dem deutschen Gymnasium gebildet hatte, bestärkte die Hinwendung zum Volkslied. Im leichten, unmittelbaren, volksliedhaften Ton transportierte er Zerrissenes und schwer Faßbares. Zudem entsprach Manger das Volkslied in seiner Eigenschaft als selbstverständliches Ausdrucksmittel des sozialen Protests, wozu Manger neigte, wenngleich er kein politisch linker Dichter war. Rückblickend erzählt er in seiner Festrede zum 60. Geburtstag, die er unter dem Titel Mein Weg in der jiddischen Literatur am 1.Juli 1961 im New Yorker der weker drucken ließ, von einem prägenden Erlebnis in einer Bukarester Schenke:
Des Nachts saß ich einmal mit einem Gast aus Berlin, Dr. Israel Rubin, in einer Bukarester Schenke. Lang nach Mitternacht schneite ein alter Mann, etwa um die Siebzig, herein. Er war tüchtig betrunken. Es war der alte Ludwig, der letzte der Broder Sänger.
Wir baten ihn zu unserem Tisch. Er schenkte sich ein großes Glas Wein ein, machte darüber eine Art verjiddischten Qiddusch und hob später an, aus seinem Broder Repertoire zu singen.
Als er Welwl Sbaržers Lied „Der Grabsteinmetz“ beendet hatte, improvisierte er eine eigene Strophe:
Hier ruhn Abraham Goldfaden und Welwl Sbaržer, unsere Brüder,
so vielen Menschen haben ihre süßen Lieder
Vergnügen verschafft,
doch liegen heute bar jeder Macht
ihre Köpfe, die edle Gedanken erdacht,
und mein Ende wird ebenso sein.
Mir ging ein Licht auf: Das war’s doch! Die Gestalten der Broder Sänger strahlten in meiner Phantasie. Alle Spaßmacher auf Hochzeiten, Versemacher und Purimspieler, die Generationen von Juden belustigt hatten, wurden lebendig. Ich werde einer von ihnen werden, einer von „unseren Brüdern“. Vielleicht war, was sie geschaffen und gesungen haben, primitiv, keine erhabene Poesie, aber sie selbst waren doch Poesie.
Ich erinnerte mich an die schönen Volkslieder, die ich in meines Vaters Werkstatt gehört hatte. Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein verlassenes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füßen getreten wurde.
Und ich habe gehorcht und geschaut.
Mangers Lied jedoch ist ein gestaltetes. In seinem Gedicht werden romantische und symbolistische Modelle mit denen der jiddischen Folklore vereinigt, Heimat- und Weltdichtung verbunden. Und Manger, der in der Volkssprache schrieb, wandte sich zwar als Barde dem Volk zu, jedoch als abgewiesener, umherziehender Dichter zugleich auch von ihm ab.
Die Ballade bot eine scheinbar schlichte Form für die Komplexität von Mangers Erfahrungswelten und für sein tragisches Lebensgefühl. In dem Essay „Die Ballade – die Vision des Bluts“, am 27.9.1929 in der Warschauer Zeitschrift literarische bleter veröffentlicht, versucht Manger zu benennen, was ihn an der Ballade berührt:
Das ist der Strahl, der die ruhige Empfindung, die stille lyrische Seelenschwingung verwischt. Das ist der Anblick am Rand der Nacht, des Tods und Wahnsinns. Das ist das wilde Mysterium, das in unserem exaltierten Blut schlummert – die Ballade.
Ich gehe durch die Dämmerung, grau in grau. Am Horizont erwacht das Unklare. Silhouetten werden gänzlich schwarz. Bäume, Häuser, Laternen. Alte gebückte Bettler. Das Blut hebt zu brausen an, verschlingt das Panorama von Umrissen. Wird Rausch… Berauschung. Und durch das Einswerden von Silhouette und Rauschen des Bluts kommt die balladische Verwandlung in Gang. Die Schattenrisse der Bettler tragen in ihren schwer schleppenden Schritten Fragezeichen. Sie ritzen diese Fragezeichen in die nächtlichen Sterne ein. Umherziehende Gestalten fragen. Verlorene Gestalten suchen. Die Nacht schweigt, antwortet nicht. Gibt das Verlorene nicht zurück. Da beginnt das große Bacchanal. Die dürre Bettlerhand entzündet rote sündige Monde. Und mit wilder Ekstase wird auf dem Grund der Nacht die Niemandstat geboren. Das zerzauste, sinnlose Gelächter menschlicher Verzweiflung. Die große mystische Vision unseres Bluts – die Ballade.
In seiner Rede zum 60. Geburtstag stellte Manger die kollektive Lebenserfahrung als Hintergrund für das Balladenhafte in ihm dar:
Mein Gemüt war seit Anbeginn voller balladenhafter Schatten. Ist das ein Wunder? Ich wuchs in einem Land des klassischen Antisemitismus auf. In Rumänien. Die griechisch-orthodoxen Kirchen breiteten ihren giftigen und gefahrvollen Schatten über die jüdische Bevölkerung aus. In Polen, dem Land, in dem ich bis zum Zweiten Weltkrieg lebte, spitzte sich dies zu. Hinter jedem polnischen Juden zeichneten sich zwei Schatten ab: einer des erschrockenen Juden selbst und ein zweiter, fremder Schatten mit einem Messer zwischen den Zähnen.
All diese Schatten, die in mein jüdisches Gemüt hineingedunkelt hatten, versuchte ich in meiner Ballade zu läutern, das Balladenhafte in mir und um mich herum in Musik zu verwandeln.
In einer Rede nach seiner Ankunft in Amerika sagte Manger, Poesie bedeute ihm die Synthese von Musik und Vision. Zu einem späteren Zeitpunkt erklärte er in einem Interview mit A. Tabachnik (abgedruckt in sajn, Januar 1968), er unterscheide zwischen der äußeren, sich in Ton und Wortklang manifestierenden Musik und der inneren, die er als „Kontrolle“ und „Stimulans“ bezeichne. Von der Musikalität der Poesie lasse sich sprechen, wenn die innere und die äußere Musik organisch harmonierten. Als Beispiel führte er sein Gedicht, die „Ballade von dem Juden, der von Grau zu Blau gegangen ist“, an.
Die Musikalität in Mangers Gedichten wird mehr vom Rhythmus als vom Reim bestimmt. Für Balladen und Lieder wählt er oft den jambischen, volksliedhaften Rhythmus, läßt drei- und vierhebige Verse wechseln, ohne sich dabei einem strengen Versmaß zu fügen. Bei lyrischen Gedichten und bei Sonetten bedient er sich vielfach freier Rhythmen.
Spielerisch zwanglos ist auch sein Umgang mit dem Reim. Meistens reimt Manger in der vierzeiligen Strophe den vierten auf den zweiten Vers, doch bleibt nicht selten nur die Assonanz, und manchmal verzichtet er gänzlich auf Gleichklang.
Mit der Entscheidung für das Jiddische wählte Manger eine Sprache mit speziellen Gestaltungsmöglichkeiten, die auf die Entwicklungsgeschichte dieser Sprache zurückgehen:
Jiddisch war die Sprache der nicht assimilierten aschkenasischen Juden und wurde in hebräischer Schrift geschrieben. Das Hebräische war die sakrale Sprache geblieben, während das Jiddische im östlichen und westlichen Europa und später in den Vereinigten Staaten unter den Eingewanderten die Umgangssprache der Juden war. Es entwickelte sich im Jiddischen eine eigene Literatur, die sich im neunzehnten Jahrhundert reich und unverwechselbar entfaltete, bis zum Zweiten Weltkrieg Millionen Leser hatte – und heute nur noch wenige Autoren und eine kleine Leserschaft hat. Die Menschen, die Jiddisch in Europa gesprochen hatten, wurden in der Schoah ausgelöscht. Nach dem 2. Weltkrieg unterdrückte Stalin die jüdische Kultur in der Sowjetunion und ließ jiddische Schriftsteller und Künstler hinrichten. Hinzu kam, daß in Amerika und Israel ein starker Assimilationszwang herrschte. Jiddisch aber war eine Sprache und mehr – ein lebendiges Gebilde aus Weltanschauung und Lebensgefühl.
Der Ursprung des Jiddischen liegt im Mittelhochdeutschen, wie es im süddeutschen Raum des Mittelalters gesprochen wurde. Man nannte die Sprache jidisch, judn-tajtsch [Juden-Deutsch], aber auch mame-loschn [Muttersprache]. Jiddisch war von Anfang an ein Gewächs, das seine Wurzeln in mehreren Sprachen hatte. Zum Mittelhochdeutschen hinzu kamen romanische, vor allem jedoch hebräische und aramäische Elemente, später auch slawische, als Juden seit dem 11. Jahrhundert zunächst im Zusammenhang mit den Kreuzzügen und später wegen der Ausbreitung der Pest aus den Rhein- und Donauländern vertrieben wurden und nach Osteuropa flüchteten. Diese Beschaffenheit des Jiddischen führt zu einer Fülle von Synonymen und einer reichen Idiomatik, macht die Sprache geschmeidig und ermöglicht stilistische und semantische Variationen, in der sich jeweils die eine oder andere Sprachkomponente hervorheben läßt.
Manger setzte diese Möglichkeiten als Gestaltungsmittel bewußt ein, wählte Worte hebräischen und aramäischen, slawischen oder deutschen Ursprungs, um Traditionelles zu konnotieren oder um das spezifisch kulturelle Kolorit hervorzuheben. Er fügte auf selbstverständliche Weise Idiome, Fremdwörter und eigene Neologismen zusammen; schien sich nicht um Eleganz und Glätte zu kümmern, scheute sich auch nicht, dasselbe Wort in kurzen Abständen zu wiederholen, zog dem geschmeidigen oft einen rauheren Duktus vor. Im Mangerschen Gedicht klingen alle Schichten der jiddischen Sprache zusammen – die alt jiddischen Verse, die Purimspiele, die Auslegungsliteratur, die chassidische Erzählung, Folklore, Lyrik und Prosa der Moderne, Alltags- und Hochsprache.
Meine Übersetzung sucht die Nähe zum Original zu bewahren. Auf eine Prosaübersetzung habe ich verzichtet, da Musikalität ein Fundament der Dichtung Mangers ist. Die Übersetzungen entsprechen weitgehend dem Mangerschen Rhythmus und behalten den Reim bei, wo dies, ohne vom Original weiter abzuweichen, möglich ist. Vom freien Nachdichten jedoch habe ich abgesehen, im Zweifelsfall fiel die Entscheidung zugunsten der Vorlage aus. Ich habe versucht, den Tonfall des Jiddischen in der deutschen Übersetzung zu erhalten, Anklänge an Dichtungen, etwa von Heine oder Trakl, sowie die Nähe zum literarischen Jugendstil (im Frühwerk) und Symbolismus hörbar zu machen. Da wo Manger Biblisches konnotiert und wo das Jiddische mit einem älteren Deutsch interferiert, habe ich auf entsprechenden Sprachgebrauch zurückgegriffen.
Die beigelegte CD enthält die von Manger selbst gesprochenen Aufnahmen für die LP Itzik Manger liest Itzik Manger (CBS 62693), die 1966 in Tel-Aviv produziert wurde. Die im vorliegenden Band abgedruckten Gedichte sind gekennzeichnet.
Diese Arbeit widme ich meinem Vater, Meir Gal-Ed (Goldschtejn), dessen Muttersprache Jiddisch war.
Efrat Gal-Ed, Nachwort, Januar 2004
Itzik Manger, der „Prinz der jiddischen Ballade“, wurde 1901 in Czernowitz geboren. Er starb 1969 in Gedera (Israel). Die Welt dieses fahrenden Sängers, dieses genialen und trinkfreudigen „Troubadours“, wie er sich nannte, war das jüdische Osteuropa mit seinen rumänischen, galizischen, polnischen oder baltischen Landschaften und der jiddischen Kultur. Von 1928 bis 1938 lebte Manger in Warschau, der Metropole dieser Kultur. Es waren seine produktivsten Jahre. Durch die Vernichtung der osteuropäischen Juden gingen diese Welt und ihre Sprache unwiederbringlich verloren. Der Dichter überlebte im Exil in England, den USA und Israel. Doch in der Fremde erstickte sein Gedicht.
Itzik Mangers Lieder und Balladen vereinigen romantische und symbolistische Traditionen mit denen der jiddischen Folklore, Heimat- wird mit Weltdichtung verbunden. Dan Davin, der Manger 1950 in Edinburgh kennenlernte, schreibt:
Ich fühlte in ihm etwas von einem jiddischen Villon, von einem Nerval, von einem Rimbaud. Ich deutete ihm an, daß er, was Chagall mit Farben, mit Worten bewirke, und das schien ihm zu gefallen, denn er sah in Chagall einen Meister und einen Geistesverwandten.
Efrat Gal-Eds Übersetzungen, die sich eng am Original halten, machen es zu einem Vergnügen, einen der größten jiddischen Dichter neu zu entdecken. Die Ausgabe präsentiert neben der deutschen Übersetzung den Text in hebräischer und, transliteriert, in lateinischer Schrift.
– Der jiddische Dichter Itzik Manger in zweisprachiger Ausgabe. –
Itzik Manger (1901 bis 1969) war der bedeutendste Dichter der jiddischen Sprache in den Zwischenkriegsjahren. Zahlreiche seiner Verse, oft vertont, sind zum Allgemeingut dieser Kultur geworden und gehören zum festen Bestandteil ihres kollektiven Gedächtnisses. Manger kam in Czernowitz zur Welt, Hauptstadt der Bukowina und Hochburg der deutschen Kultur, aus der auch Rose Ausländer und Paul Celan stammen. Dort besuchte er das österreichische Gymnasium und las die deutschen Dichter – neben Goethe und den Klassikern verehrte er Rilke und Hofmannsthal –, aber von einer Assimilation konnte nie wirklich die Rede sein. Seine Familie, aus Ostgalizien zugewandert, gehörte zum armen Kleinbürgertum der Stadt, in Mangers Haus sprach man Jiddisch, und als er später als Dichter hervortrat, tat er es im Zentrum dieser Kultur – in Warschau.
In ihrem informativen Nachwort zeichnet Efrat Gal-Ed, die Herausgeberin dieser eindrucksvollen zweisprachigen Werkauswahl, Mangers tragisches Leben nach. Er ist immer ein Außenseiter gewesen – schon vom Gymnasium wurde er verwiesen, weil er sich seiner Ordnung nicht einfügen konnte –, und mit dem Untergang der jiddischen Welt in Osteuropa hat er nicht nur als Person, sondern auch als Dichter seinen existentiellen Boden verloren. Sein Vater kam unter den Deutschen, sein Bruder unter den Russen ums Leben, und er selbst strandete 1941, nach langen Irrfahrten, in England. Da lag die Blütezeit seiner Kunst bereits hinter ihm, und nach der Schoa hat er nicht mehr viel geschrieben.
Wo man noch Jiddisch verstand, in New York und Tel Aviv, wurde er auch nach dem Krieg gefeiert, aber nicht mehr als der Verfasser zeitgenössischer Verse, sondern als Symbolgestalt einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Der Dichter und sein Publikum halfen sich gegenseitig, den Verlust zu überstehen, und dem Dichter ist es nicht recht gelungen: Als Itzik Manger 1969 in Israel starb, erlag er unter anderem auch dem Alkoholismus.
New York und Tel Aviv sind die beiden Pole seiner zweiten Lebenshälfte. Die Welt, die er in seinen Werken festhält, gab es nicht mehr, und als er 1940 aus Polen floh, war die Küste Palästinas sein erstes Ziel. Aber die englische Mandatsmacht verweigerte ihm die Einreise, und nach Jahren in London gelangte er 1951 schließlich nach New York, dem anderen großen Fluchtpunkt des europäischen Judentums. Israel besuchte er erstmals 1958, und bei seinen Auftritten in den Städten des Landes wurde er von den jiddischsprachigen Überlebenden des Holocaust begeistert empfangen. Aber es ist bezeichnend, daß ihm der Durchbruch im hebräischen Establishment nur über die mediale Übersetzung gelang: Erst als eine israelische Bühne seine Verse ins Musical übertrug, wurden sie ein großer Erfolg – nicht anders als bei Alejchems Anatevka, dessen Roman über den Milchmann Tewje einer nichtjiddischen Welt nur in der theatralischen Übersetzung zugänglich wurde.
Manger ist um eine Generation jünger als Schalom Alejchem, aber beiden gemeinsam ist die innere Spannung, die zwischen der hebräischen und der jiddischen Kultur besteht. Auch das Jiddische wird mit hebräischen Lettern geschrieben, aber es ist nicht die Sprache der „Heimat“, die der Zionismus zum Gütezeichen seiner Renaissance gemacht hat, es ist die Sprache des Exils, und bei Schalom Alejchem findet dieser Konflikt deutlichen Ausdruck. Ständig zitiert sein Milchmann Tewje die Bibel, und er zitiert sie falsch, weil er sie nicht genau kennt. Aber die Sympathie des Lesers verliert er deshalb keineswegs, ganz im Gegenteil – was er sagt, ist immer klug und richtig, seine exzentrische Ausdrucksweise ist nur die Folge seiner hoffnungslosen Situation in der Endphase einer untergehenden Kultur.
Auch in Mangers Werk besteht dieser Konflikt. Zu seinen berühmtesten Werken gehören die „Chúmesch-lider“, die Efrat Gal-Ed als „Fünfbuchgedichte“ übersetzt. „Chamésch“, auf hebräisch, heißt fünf, und gemeint sind die fünf Bücher Mose: Itzik Mangers „Chúmesch-lider“ sind seine Nachdichtungen der biblischen Geschichten, die er in den späten dreißiger Jahren auf dem Höhepunkt seiner Kunst geschrieben hat.
Die ehrwürdigen Patriarchen verwandelt er in die Zeitgenossen seiner jiddischen Misere, und so, zum Beispiel, liest sich die Begegnung zwischen Jakob und Rachel:
Jakob unser Vater schleppt sich müd
in den späten Abend hinein,
da ist der Brunnen, vorne links,
dort muß es sicher sein.
Er nimmt das Fünfbüchlein heraus:
„Es muß gewiß hier sein –
wie ist denn das bloß möglich,
daß sie noch nicht erscheint?“
Auch der Stammvater selbst verhält sich wie ein Jude der nachbiblischen Zeit: Er schaut in den heiligen Text, um seinen Weg zu finden, nimmt den Pentateuch zur Hand, um sich an ihm zu orientieren. Als Rachel zum Brunnen kommt, entschuldigt Jakob sich zunächst, daß er hier fremd sei, und dann fährt er fort:
Doch hab ich, Fräulein, wissen Sie,
einen Onkel hier im Land,
er muß Ihnen, Fräulein, wissen Sie,
ganz sicher sein bekannt.
Laban heißt er, wissen Sie,
er ist nicht irgendwer,
bei uns im Schtetl sagt man,
er wär ein Millionär.
Der hintergründige Humor dieser Dichtung ist nicht unumstritten geblieben. Es wurde Manger vorgeworfen, sein Werk profaniere den heiligen Text, doch damit steht es zugleich in einer langen Tradition. Die Bibel ist das Lebensbuch der Juden, immer ist es eine aktuelle Wirklichkeit, in der sie sich darauf beziehen, und auch hier ist es so. Jakob begegnet seiner großen Liebe und gerät in Verlegenheit, aber ebenso will er das Fräulein beeindrucken. Er rühmt sich des reichen Verwandten, den er in dieser Gegend hat: Wie Mangers zeitgenössische Leser ist auch er ein armer Jude aus dem Schtetl, und zum verborgenen Witz der Zeilen gehört es, daß Laban der Vater der jungen Dame ist.
Die Bibel, das Buch der Generationen, erzählt Familiengeschichten, und obwohl ihnen immer ein Heilsversprechen eingeschrieben ist, haben sie oft einen traurigen Kern. Das Buch Ruth berichtet von drei Witwen: Noemi hat ihren Mann verloren, und auch die beiden Söhne leben nicht mehr. Nur ihre Schwiegertöchter sind ihr geblieben. Sie entstammen einem fremden Volk, und eine von ihnen, Orpa, wird wieder nach Moab zurückkehren. Die andere aber, Ruth, wird ihre Schwiegermutter nach Bethlehem begleiten, und in der Nacht vor der Entscheidung läßt Itzik Manger sie nicht einschlafen:
Morgen, das heißt, in wenigen Stunden,
geht die alte Schwieger allein
zu ihrem Volk, zu ihrem Gott,
und sie, wohin wird sie gehen?
Nach Haus, ins Dorf, wo Vater trinkt
und die böse Stiefmutter gellt,
die rote Marussia, sie hat ihr genug
verleidet, verfinstert die Welt?
Nach Haus, ins Dorf, wo der Gutsherr schlägt
die Knechte mit einer Rute,
sie erinnert noch heute des Bruders Leib,
bedeckt von dem Schweiß und dem Blute.
Nach Haus, ins Dorf, wo der irre Wassil
auf dem Markt jedem erzählt,
wie ihn Pan Jesus gesegnet hat
auf der Spitze des Kirchbergs?
Manger überträgt Ruths Dilemma in seine zeitgenössische Wirklichkeit, er macht sie zu einem Mädchen aus dem polnischen Dorf und beschreibt die drohende Welt des Christentums. Ruth beschließt, bei den Juden zu bleiben, in Bethlehem heiratet sie später den Boas, aus ihrem Geschlecht wird König David erstehen und am Ende der Tage auch der Erlöser – das alles aber läßt Itzik Manger nur noch unausgesprochen mitschwingen.
Der jiddische Text ist nicht nur in hebräischen Lettern, sondern auch in einer Transkription wiedergegeben, so daß der deutsche Leser die Übersetzung mit dem Original vergleichen kann. Dem schönen Band ist eine CD beigefügt, auf der einige der bekanntesten Gedichte mit Mangers eigener Stimme zu hören sind.
– Als der angehende Dichter Itzik Manger in einer Bukarester Kneipe den letzten Überlebenden einer Gruppe fahrender jiddischer Sänger hörte, beschloss er, einer von ihnen zu werden. Aus ihren Volksliedern wob Manger, der vergessene jiddische Troubadour, der 1969 in Israel starb, seine Balladen und Gedichte. –
Kurz nach dem ersten Weltkrieg hörte der angehende Dichter Itzik Manger in einer Bukarester Kneipe den letzten Überlebenden einer Gruppe fahrender jiddischer Sänger und beschloss, „einer von ihnen“ zu werden. Ihm fielen die Volkslieder wieder ein, die er in der Schneiderwerkstatt seines Vaters gehört hatte:
Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein verlassenes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füßen getreten wurde.
Aus diesem Gold wob Itzik Manger, der vergessene jiddische Troubadour, seine Balladen und Gedichte. Der Jüdische Verlag hat ihm nun ein spätes Denkmal gesetzt – mit einer Auswahl seiner Texte, in deutscher Übersetzung und im jiddischen Original, von der Herausgeberin Efrat Gal-Ed übertragen sowie mit Kommentar und Nachwort versehen. Zu dem sorgfältig edierten Band gehört eine CD – Manger hat 1966 in Tel Aviv, drei Jahre vor seinem Tod, eine Schallplatte mit seinen Texten aufgenommen:
Stiller Abend. Dunkelgold.
Ich sitz beim Gläschen Wein.
Was ist geworden aus meinen Tagen?
Ein Schatten und ein Schein –
ein Augenblick von Dunkelgold
soll in mein Lied hinein.
Das „Abendlied“, dessen Dunkelgold dem Buch seinen Namen gegeben hat, ist eins der späten Gedichte Itzik Mangers. Es stammt aus seinem letzten Gedichtband, der 1967 in New York erschien und den er Sterne im Staub genannt hat. „Die Sterne, die einmal auf dem Dach funkelten“, schrieb er im Vorwort, „ziehen jetzt im Staub umher. Die letzten, die noch auf dem Weg spazieren gehen, halten noch nicht einmal an – entweder verstehen sie die Sprache nicht oder bevorzugen andere ,Geschäfte‘.“ Das Vorwort ist Klage und Abgesang. Der Dichter verabschiedet sich von seinen Lesern wie ein Sänger von seinem Publikum:
Sei’s wie es sei, ich fühle die Schatten länger werden. Es wird Abend. Es wird Nacht. Gute Nacht, meine Herrschaften.
Mit der Vernichtung der Juden Osteuropas starb ihre Sprache – das Gold der jiddischen Volkspoesie dunkelte und verlor seinen lebendigen Glanz. Itzik Manger hat den Schatz noch einmal gehoben und zum Funkeln gebracht. Am Vorabend des Holocaust implantierte der jiddische Dichter seinen Liedern ausgerechnet das Bilder- und Formenrepertoire der deutschen Romantik, des deutschen Volkslieds und der deutschen Ballade. Weiß und Schwarz, Silber und Gold sind die heraldischen Farben dieser Verse, die die nahe Verwandtschaft der beiden Sprachen und Kulturen beschwören. Aus Mangers frühen Balladen steigen jiddische Erlkönige, dunkle Schatten auf, die ins Verderben locken und drohen. Später wird Manger den Schatten einen Namen geben: deutsche Soldaten, SS, das „deutsche Mörder- und Irrenhaus“.
Seine Heimatstadt Czernowitz, aber auch das rumänische Jassy und Warschau, wohin es ihn zwischen den beiden Weltkriegen verschlug, waren damals multiethnische Städte mit einer Vielzahl an Sprachen, Kulturen und Glaubensbekenntnissen. Der jiddische Dichter Itzik Manger kannte keine Berührungsängste, und so verdanken wir ihm Gedichte, in denen Christus am Kreuz in jiddischer Sprache zu einem Bettler spricht.
Geradezu familiären Umgang pflegte Manger mit seinen jüdischen Erzvätern. Er erzählte – fast möchte man sagen „vertonte“ – das Alte Testament in jiddischen Versen neu und siedelte die biblischen Helden kurzerhand in einem osteuropäischen Schtetl an.
… Noomi schweigt. Die Öllampe brennt,
und es summt der Samovar…
Der russische Samovar und die biblische Öllampe sorgen vereint, über die Schranken von Zeit und Religion hinweg, für Trost und Licht im Haus der Witwe Noomi, die ihre Söhne verloren hat und nun mit ihren Schwiegertöchtern allein ist. Itzik Manger holt das „Buch Ruth“ mit seiner praktischen Toleranz und Solidarität heim in die Alltagswelt seiner Leser. Sein Abraham gibt dem Postillon Bakschisch, sein Jakob nennt Rachel eine „schöne Mademoiselle“… Orthodoxen Rabbinern war das ein Gräuel, und selbst Marc Chagall sah sich nicht imstande, Mangers Bibel-Balladen zu illustrieren: Manger gehe allzu „kumpelhaft“ mit den „biblischen Eltern“ um. Im Grunde schöpften der weltberühmte Maler und der vergessene Dichter aus der derselben Quelle, aus der Volkspoesie mit ihrem reichen Inventar an Bräuten, Bettlern, weißen Zicklein und Sternen auf dem Dach. Doch wo Chagalls Liebende am Himmel fliegen, erdet Manger seine Helden im Hier und Jetzt, wo es Eisenbahnen und Nähmaschinen, natürlich nur von Singer, gibt:
Die goldene „pawe“, der goldene Pfau, wettet mit Kaiser Franz Joseph, dass er mit Hilfe der Schneidergesellen schneller ist als dessen edle Pferde. Der Pfau gewinnt die Wette und wünscht sich vom Kaiser das Privileg,
dass der goldene Pfau darf fliegen
über das Land ab sofort
und tragen die Liebesgrüße
frei von Ort zu Ort.
Der Kaiser erfüllt die Bitte und
Der bleiche Schneidergeselle
singt bei der Singer-Maschin
und freut sich über den Sieg
des goldenen Pfaus in Wien…
Die goldene „pawe“, der Märchen- und Zaubervogel, ist eine Chiffre für die jiddische Poesie und ein Sinnbild für etwas Unerreichbares, während der Kaiser in Wien für die glücklichen, gleichberechtigten Zeiten der Habsburger Juden steht. Geschrieben hat Manger den historisch-utopischen Traum von goldenen Pfau im Londoner Exil, wo er nach langen Irrfahrten landete und den Holocaust überlebte. Es waren einsame und arme Jahre, erst in New York und in Israel fand Itzik Manger, der Prinz der jiddischen Ballade, wieder ein Publikum und eine, wenn auch nur provisorische Heimat.
– Gedichte von Itzik Manger, dem jiddischen Troubadour. –
Der Schneiderssohn aus Czernowitz war schon bei seinem ersten Gedichtband schtern ojfn dach („Sterne auf dem Dach“, Bukarest 1929) in der jiddischsprachigen Welt gefeiert worden. Und die Czernowitzer jüdischen Dichterfreunde erkannten früh in ihm den Poeten von Rang. Sie überlieferten prägnante Porträtskizzen. Alfred Kittner:
Ein fahles, mumienhaftes Lamagesicht, in dem ein Paar schwarzer, unheimlich schielender Augen saßen, die seinen Zügen mitunter einen Ausdruck verliehen, als sei ein rasender Blitz durch sie hindurchgefahren, als sei dies Antlitz das eines im Zorn auf die Erde geschleuderten verdammten Engels.
Alfred Margul-Sperber:
immer packt und ergreift er durch die oft bis zum Visionären, Unheimlichen gesteigerte Stärke der dichterischen Anschauung.
Rose Ausländer:
Er zecht mit Tod und Nacht und Hur und Laus.
Oder auch:
Gespenster folgen seinem wilden Ritt
und werfen Schlangen in sein schwarzes Haar
Eine idyllische Märchengestalt ist der „Prinz der jiddischen Ballade“ gewiß nicht gewesen.
Im kulturellen Farbenspektrum des damaligen Czernowitz herrschte das deutsche Bildungsideal vor. Auch Itzik Manger hatte eine deutsche Schule besucht, war von einem deutschsprachigen Gymnasium relegiert worden, hatte schon als Schüler deutsche Gedichte verfaßt. Und er besaß detaillierte Kenntnisse der deutschen Literatur. Um 1930 galten ihm Franz Kafka aus Prag und Hugo von Hofmannsthal aus Wien (beide, wie Manger genüßlich vermerkt, Dichter jüdischer Abkunft) als die bedeutendsten deutschschreibenden Zeitgenossen. Manger las Trakl und Rilke, auch Brechts Hauspostille, auch übersetzte er Büchners Woyzeck ins Jiddische.
Für seine Balladenkunst, das Herzstück seiner Poesie, hatten deutsche Gedichte prägenden Einfluß: Gottfried August Bürgers „Lenoren“-Ballade, Goethes „Erlkönig“, Heines „Belsazar“. Manger weist auf Herders Stimmen der Völker in Liedern und Arnim-Brentanos Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn hin.
Während viele der jüdischen Dichter aus der Bukowina fortan zur deutschsprachigen Literatur beitrugen – Paul Antschel (Celan), Rose Ausländer, Imanuel Weißglas, Moses Rosenkranz, Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, bekannte sich Manger zur jiddischen „Hefker-Sprache“: der herrenlosen, vogelfreien, wagemutigen, für ihn eine Sprache des „nationalen und sozialen Gewissens“. Seine Sprachwahl ging einher mit dem Rückgriff auf Volkstradition – nicht als Flucht aus der Zeitgenossenschaft, sondern als Beitrag zur Moderne. Seine Vision:
Volk und Genius werden eins, einer mit der Hilfe des anderen.
Als literarischer und existentieller Wendepunkt, wo sich das Lyrische, Elegische, Idyllische in Dramatik verwandelt, galt ihm die Balladenkunst.
Die Ballade, das ist die schwarze phantastische Krone der Poesie; dämonisch und finster schwebt sie durch unser Denken und unser Gemüt… unendliche Entdeckungen birgt sie in ihrem dunklen Licht, furchtbare Bacchanale. Im Lichtschein dieser schwarzen Krone lästert Belsazar Gott und stirbt. Im Lichtschein dieser schwarzen Krone zerreißt der schwarze Rabe die blaue edle Seele des Edgar Allan Poe.
Manger imaginiert „schreckliche Visionen am Ufer der Nacht, des Todes und des Wahnsinns“.
Fakt sei es, daß nur in solchen Ländern eine große Dramatik entstand, wo man auf eine Balladentradition zurückgreifen konnte, etwa in England, in den skandinavischen Ländern, in Spanien. Dann wäre also Shakespeare ein Erbe der englischen Ballade gewesen und ohne solche Vorbereitung schwerlich zu denken.
Manger arbeitete systematisch auf ein großes, vielgestaltiges Œuvre hin. In seinem Warschauer Jahrzehnt 1928 bis 1938 schuf er sechs Gedichtbände, dazu Prosa, Essays, ein Theaterstück nach Motiven Abraham Goldfadens, Lieder für einen Film, Lyrikübersetzungen. Mangers buch fun gan-ejdn (in der späteren deutschen Übersetzung Salcia Landmanns Das Buch vom Paradies) erschien wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen. Es wurde zum Welterfolg; und ein Mißverständnis wäre es, diesen Roman als heiter-harmloses Nebenwerk begreifen zu wollen. Die künstlerische Schreibart Scholem Alejchems weiterführend, war es Auftakt einer geplanten Trilogie und sollte durch ein „Buch von der Erde“ und ein „Buch von der Chaoswelt“ ergänzt werden.
Die folgenden Jahre des Exils waren für den Dichter Zeiten der Gefahr und der Not. Der Holocaust, der seine Familie, seine Heimat, seine Leserschaft vernichtete, zerstörte auch Mangers Bindungen zur deutschen Kultur. In einem Brief aus Marseille von 1940 bekannte er:
In meinen Träumen sehe ich Goethe mit einem Gummiknüppel in der Hand, Kant in einer SS-Uniform, sehe Faust mit einer Hakenkreuzbinde auf dem rechten Arm – und Blut, Blut, Blut, jüdisches Blut.
Zur Frage, ob oder wie nach Auschwitz noch Dichtung zu schreiben sei, lieferte Manger einen eigentümlichen Beitrag. In Boccaccios Dekameron hatten sich Florentiner Stadtbewohner vor der grassierenden Pest aufs Land geflüchtet und hatten sich dort lebenszugewandte Geschichten erzählt. Manger erwog ein anderes Dekameron:
Eine Minjen (Zehnschaft) Juden befindet sich in einem Bunker: einem rumänischen, einem polnischen, einem galizischen, einem litauischen, einem ukrainischem usw. Draußen tobt die deutsche Bestie, und drinnen im Bunker erzählen sich die Menschen Geschichten, um Furcht und Grauen zu vertreiben – in den stillen Nächten, wenn die Schießerei für eine Weile verstummt. Das war der geplante Rahmen zu meinem neuen Geschichtenbuch. Aber, leider.
Im englischen Exil edierte Manger zwei neue Gedichtbände. Und in den USA, wo er seit 1951 lebte, erschien bald eine umfängliche Auswahl seiner Lyrik. Er schrieb weiterhin Artikel, die seinen frühen an Scharfsinn und Scharfzüngigkeit nicht nachstehen. Aber Krankheit, Leid, Vereinsamung lähmten seine poetischen Impulse. Der wortmächtige Dichter erlitt es, durch Schlaganfälle die Sprache zu verlieren. Seine letzten Jahre verbrachte er in Israel. Itzik Manger starb 1969 im Sanatorium Gedera bei Jerusalem.
Ihm zu Ehren war 1968 der Itzik-Manger-Preis gestiftet worden – die weltweit höchste Auszeichnung für neue jiddische Dichtung –, und nicht wegen der Dotierung, sondern wegen seines Ansehens wurde er gelegentlich mit dem Nobelpreis verglichen. (Leider ist er seit einigen Jahren nicht mehr verliehen worden.)
Margul-Sperber hatte geschrieben, Itzik Manger sei ein sehr bedeutender Dichter, „dem den Weg in die allgemeine Anerkennung bahnen zu helfen eine wirkliche Ehre und Kulturpflicht bedeutet“. Wie Rose Ausländer auch, hatte Margul-Sperber Gedichte des Itzik Manger ins Deutsche gedolmetscht, und beider Nachdichtungen zählen unter den bisher vorliegenden zu den besten. In den sechziger Jahren erschien in der Reihe Poesiealbum ein Itzik-Manger-Heft, vom Schreiber dieser Zeilen betreut. 1998 edierte der Musiker Detlef Hutschenreuter den (mit Noten und Illustrationen ausgestatteten) Band Die Megille. Das komplette Text- und Liederbuch Jiddisch/Englisch/Deutsch. 1999 erschien in der Edition Dodo, Berlin, die Auswahl Ich, der Troubadour, von Andrej Jendrusch übertragen und herausgegeben – enthaltend rund 60 Gedichte, einige Prosa und eine Reihe der Essays.
Seit kurzem ist ein neuer, stattlicher Itzik-Manger-Band auf dem Buchmarkt: Dunkelgold, herausgegeben und übersetzt von Efrat Gal-Ed. Die Herausgeberin, 1956 in Israel geboren, lebt als Malerin, Rundfunkautorin und Übersetzerin in Köln. Ihr Vater hatte das Jiddische noch als Muttersprache erlernt. Sie wählt rund 80 Gedichte aus Mangers lyrischem Œuvre und stellt den jiddischen (in hebräischen Lettern gedruckten) Originalen ihre deutschen Versionen gegenüber.
Wegen der sprachlichen Nähe mögen es manche Übersetzer für leicht halten, jiddische Gedichte angemessen ins Deutsche zu bringen. Die Ergebnisse zeigen oft, daß es schwer und manchmal unmöglich ist. Der Volkston einer Vorlage kann dazu verführen, beim Nach-Dichten leichtfertig zu sein: Schließlich geht auch der Dichter mit Rhythmik und Reim recht frei um. Aber wie kunstvoll!
Um die subtile Poesie Itzik Mangers für deutsche Leser erlebbar zu machen, reichen die sprachlichen und poetischen Mittel der Übersetzerin oft nicht aus. Am gelungensten wirken ihre Übertragungen dort, wo sie sich den Formzwängen entzieht und etwa ein streng gebautes Sonett in freien Rhythmen strömen läßt. Bei mehreren ihrer Bücher hatte sie mit dem Dichter Christoph Meckel zusammengearbeitet – schade, daß er ihr nicht auch diesmal zur Seite stand.
Aber im Anhang des Buches finden sich Transkriptionen der jiddischen Texte in lateinischen Lettern, so daß sich der deutsche Leser dem originalen Klangbild nähern kann. Und eine beigegebene CD Itzik Manger liest Itzik Manger (mit Aufnahmen von 1966) bewahrt die Stimme des Dichters, die das kühle Feuer seiner Verse, deren heitere Leichtigkeit und deren tiefen Ernst vermittelt.
Das schön gestaltete Buch ist ein neuer, wichtiger Schritt, um dem jiddischen Troubadour „den Weg in die allgemeine Anerkennung bahnen zu helfen“: Es weist nachdrücklich auf den Dichter hin und gibt Anstoß, dem Leben und Wirken Itzik Mangers intensiv nachzufragen.
Itzik Manger mit einem wichtigen Teil seines lyrischen Werkes dem deutschen Leser zu präsentieren, dazu in dieser vorzüglichen Edition, ist gewiss ein achtbares Unterfangen. Endlich wird ein bedeutender Teil der klassisch-jiddischen Moderne, der klassisch-jiddischen Lyrik der Bukowina in einer Synopse dem deutschsprachigen Leser vorgestellt, und zugleich scheut man sich nicht, der Übertragung eine gut lesbare Form der Romanisierung des jiddischen Urtextes anzufügen. Das ist nämlich für viele Leser unabdingbar, um sie nicht um den Klang des Originalargots zu bringen, sollten sie die hebräische Schrift nicht lesen können. Voraussetzung ist allerdings auch in diesem Fall eine korrekte Aussprache des Jiddischen, wozu die beigefügte CD Hilfestellung leisten soll.
Und doch habe ich Zweifel, ob sich das Jiddische – als Nahsprache zum Deutschen – nicht am Ende und grundsätzlich einer Übertragung in die deutsche Hochsprache entzieht. Vielleicht überzeugen Übertragungen von einer Sprache in die andere nur, wenn der sprachhistorische und soziolinguistische Abstand beider Sprachen zu einander groß genug ist.
In seiner Replik auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris, mutmaßt Paul Celan 1961 – vielleicht sollte ich so weit gehen und sagen: argwöhnt – er glaube nicht an Zweisprachigkeit in der Dichtung. Dichtung, sagt er, sei vielmehr das schicksalhaft Einmalige der Sprache, also nicht […] das Zweimalige. Wenn Celan auch mit dieser Metapher auf den eigentlichen künstlerischen Schöpfungsakt abstellt und nicht die Dienstleistung des Übersetzers im Auge hat, bei diesem Vergleich Vorsicht angeraten ist, sollte man aber auch Peter Demetz das Dogma nicht abnehmen, wir alle schwämmen längst im Meer einer selektiven Weltliteratur, die sich ihr Schöpfungsidiom und ihre Sprachklientel gleichsam nach Belieben aussuchen darf.
Die Wahrheit nämlich und die bittere Erkenntnis ist, dass Manger in der Übersetzung verblasst, der Reim und die Metrik seiner Fabeln sich im Deutschen nur mit Mühe aufrecht erhalten, bewahren, glaubhaft machen lassen, weil mit der Übertragung ins Deutsche der Pfiff des Jiddischen, seine Schlagfertigkeit, sein Witz, sein Klang, seine Plastizität irgendwo zum Fenster hinaus sind.
Und doch, trotz alledem. Gerade weil Manger der mehrfachen Unzugänglichkeit unterliegt, nämlich einer sprachlichen und literaturhistorischen und einer, die dem Akt der Vernichtung, dem Holocaust zuzuschreiben ist, ist es für uns Deutschsprachige eminent, wenn uns ein Teil der jiddischen Literatur angetragen und nahe gelegt wird, dazu in einer Übertragung, wie sie uns Efrat Gal-Ed, in Deutschland lebende Malerin, Autorin und Übersetzerin mit einem beachtlichen Anmerkungsteil und einer Kurzbiographie des Dichters vorlegt.
Manger wuchs mit Czernowitz in einer – um es mit dem Celan-Biografen Israel Chalfen zu sagen – jüdischen Stadt deutscher Sprache auf. Der Vater und ein Bruder waren Schneider. Einen Großteil seines Lebens verbrachte Manger in Warschau, neben Wilna eines der großen, der bedeutenden Zentren des jiddischen Lebens und der jiddischen Kultur vor dem Zweiten Weltkrieg.
Grundlage des Buches war die Ausgabe lid un balade von 1952, in die auch Gedichte aus Mangers medresch-lidern und chumesch-lidern Eingang gefunden haben. Wollte man Manger heutzutage unter die Leute bringen, wäre man zu einer Gesamtübersetzung seines Werkes gezwungen, eine Bringschuld, an der kein Weg vorbeiführt und die bisher nur in Teilen abgetragen worden ist. Der Band leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Gal-Ed bereitet eine Biographie Itzik Mangers vor. Man darf gespannt sein.
Simone Scharbert: Niemandssprache, Niemandsland
fixpoetry.com, 24.9.2016
Efrat Gal-Ed, Ruth Renée Reif: Das unbekannte Jiddischland
FÜR ITZIG MANGER
Wir kehrten in die Schenke ein
Und schlürften stumm den dunklen Wein.
Und Worte raunten runenhaft
Uns aus verworrner Pilgerschaft.
Des Hutes Schatten im Gesicht
Verbarg ein mildes Leuchten nicht.
Die Wangen lehnten an die Wand,
Die Hände hingen überrand.
Als uns der Traum ans Ufer warf,
Blies kalt der Morgenwind und scharf.
Wir schwankten heim, einander fern,
Und langten nach dem blassen Stern.
Die Rast war ohne Wiederkehr.
Wir finden keine Schenke mehr.
Wo trinken wir den Wein der Welt,
Wenn weiß und weit der Winter fällt?
Er litt und lebte mit viel Geschick
In einer Welt der Verzweiflung und Asche,
Er machte seinem Herzen Musik
Mit dem Schlüsselbund in der leeren Tasche.
Er taumelte, in die Erinnerung
An eine schöne Zukunft versunken.
Er sang: und die Welt wurde lustig und jung.
Er trank: und die anderen wurden betrunken
Alfred Margul-Sperber
Itzik Manger liest sein Gedicht „There is a tree that stand“.
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