AUF EINEM ALTEN FRIEDHOF
Auf einem alten Friedhof, wenn schon der Tag
aaaaaanbricht,
auf einem alten Friedhof, wo weiß der Hagedorn
aaaaablüht,
auf einem alten Friedhof, wo sich verfroren ein Vogel
aaaaaverbirgt,
dort wär ich gern, dort ging ich, wär mir das möglich,
aaaaanoch hin!
Auf einem alten kleinen Friedhof, er befand sich irgendwo in
aaaaaKomárov,
auf einem alten kleinen Friedhof flog ein frierender Vogel herab,
auf einem alten kleinen Friedhof, er setzte sich genau auf jenes
aaaaaGrab,
es trägt, welch seltsamer Zufall, den Namen Pasternak.
Ein bulgarischer Gärtner? Ich hatte den Dichter im Sinn.
Der Vogel flog irgendwohin und piepste noch aus der Stille,
hier zurück blieb nur ich und Pasternaks Grab.
Auf einem alten Friedhof, wo nicht mehr bestattet wird,
auf einem alten Friedhof, der seither ewig für mich
das Geheimnis der Poesie in sich birgt.
Als in einem tschechischen Exilverlag in Toronto 1979 der Gedichtband Stará bydliště (Alte Wohnsitze) erschien, kehrte einer der bedeutendsten tschechischen Lyriker des 20. Jahrhunderts auf die Bühne der Literatur zurück. Für die Mehrheit der literarisch Interessierten in seiner vom westlichen Ausland abgeschotteten Heimat, vor allem für jene, die weder zu Exil-, noch zu Samisdat-Publikationen Zugang hatten, blieb der seit drei Jahrzehnten für verschollen gehaltene Ivan Blatný aber auch weiterhin nur eine Legende – ein verfemter Dichter, dessen Name bis zum Ende des Kommunismus 1989 offiziel tabu war. Umso schmerzlicher wurde Blatnýs Verschwinden von wahren Adepten der Literatur empfunden. Nach dem tragischen Unfalltod des jüdischen Dichters Jiři Orten (1919–1941), der in der NS-Zeit unter deutscher Besatzung unter den Pseudonymen Karel Jílek und Jiři Jakub publizierte, hatte die tschechische Poesie nun mit Blatný ihr zweites großes Talent verloren. Im westlichen Ausland publik wurde die Lebensodyssee des staatenlosen Schriftstellers durch den Journalisten Jürgen Serke, der das 1981 in Ipswich mit ihm geführte Interview Flucht ins Irrenhaus in der Zeitschrift Stern und in seinem Buch Die verbannten Dichter (1982) veröffentlichte.
Nach England gekommen war der 1919 in Brünn geborene Blatný – Sohn des Schriftstellers Lev Blatný (1894–1930) und Inhaber eines 1935 vom Großvater geerbten Optikerladens – kurz nach der kommunistischen Machtergreifung am 29. März 1948 als Mitglied einer Schriftstellerdelegation. Unmittelbar nach der Ankunft setzte er sich von der Gruppe ab und begründete seine Emigration in einer Aussendung der BBC mit der auch für die Kultur bedrohlichen Situation in der Tschechoslowakei. Seine Kollegen, der Lyriker Jiří Kolář (1914–2002) und der Übersetzer Arnošt Vaněček (1900-1983), kehrten ohne ihn nach Prag zurück. In der tschechischen Presse wurde Blatný zum Landesverräter und Deserteur gestempelt und offiziell aus der tschechischen Literatur ausgestoßen. Als er sich im Herbst 1948 in London und im Claybury Psychiatric Hospital in Essex einer psychiatrischen Behandlung unterziehen musste, wurde er vom Tschechoslowakischen Rundfunk sogar für tot erklärt. Bevor er 1954 auf Grund der Diagnose „paranoide Schizophrenie“ für immer hinter Anstaltsmauern verschwand, arbeitete er freiberuflich für die BBC und Radio Freies Europa. Dichterisch war er in all diesen Jahren kaum aktiv, ist aber immerhin mit fünf Gedichten in der 1954 von Peter Demetz redigierten Sammlung tschechischer Exildichtung Neviditelný domov (Die unsichtbare Heimat) vertreten. Die weiteren Lebensstationen Blatnýs sind mit psychiatrischen Kliniken verbunden: 1963 wurde er aus dem Claybury Hospital in das House of Hope und 1977 in das St. Clement’s Hospital (das Bixley Ward-Warren House), beide in Ipswich, verlegt. Die restlichen Jahre bis zu seinem Tod (1985–1990) verbrachte er in einer Pension in Clacton-on-Sea.
Kontinuierlich zu schreiben begonnen hatte Blatný angeblich wieder ab 1969, nach dem Besuch seines Brünner Cousins Dr. Jan Šmarda, dem ersten aus der Heimat seit 21 Jahren. Dass das Geschriebene, zum Teil mehrsprachige Gedichte und freie Assoziationen, schließlich als Literatur erkannt und nicht weiterhin vom Anstaltspersonal entsorgt wurde, ist der pensionierten Krankenschwester Frances Meacham zu verdanken. Sie war durch Zufall auf Blatný gestoßen und schickte seine Texte 1977 an den Verleger Josef Škvorecký in Toronto. Aus diesen chaotischen Konvoluten komponierte der Exillyriker und Bohemist Antonín Brousek durch Auswahl der ihm vollendet erscheinenden Gedichte Stará bydliště (Alte Wohnsitze). Die von ihm aus späteren Texten erstellte tagebuchartige Sammlung Pomocná škola Bixley (Hilfsschule Bixley), Toronto 1987, unterscheidet sich inhaltlich zum Teil von der von Blatný dem Vernehmen nach selbst zusammengestellten Prager Samisdat-Ausgabe von Vratislav Färber, Zbyněk Hejda und Antonín Petruželka (1982).
Ein Teil der Gedichte von Alte Wohnsitze knüpfen formal an die Sammlungen der vierziger Jahre an, die Blatnýs Ruf als suggestiver Melodiker und Stimmungsmaler begründeten. Wie ein fernes Echo kehren Motive, ja Versfragmente wieder aus Paní Jitřenka (1940; Frau Aurora) und Melancholické procházky (1941; Melancholische Spaziergänge), aber auch aus Tento večer (1945; An diesem Abend), jenem Gedichtband, der Blatnýs Zuwendung zur Künstlergruppe „Skupina 42“ mit ihrer Ästhetik des Alltags markierte. Namen von Freunden, Literaten und Malern, Orte, kulturhistorische Fakten, Poeme und Bilder bestücken den Erinnerungsarchipel, in den sich Blatný aus dem bescheidenen Klinikalltag hinüberträumt, zurück in die Kindheit und Jugend, wie auch in seine von Poetismus, Surrealismus und „Skupina 42“ begleitete künstlerische Vergangenheit. Wer dieses Palimpsest eines Dichterlebens genauer zu entziffern versucht, dem werden sich zusätzliche Sinndimensionen erschließen, ohne dass sich der Zauber von Blatnýs poetischen Vexierspiel verliert.
Christa Rothmeier, Nachwort, Februar 2005
in der tschechischen Öffentlichkeit als verschollen. Nach der kommunistischen Machtübernahme (1948) kehrte er von einem Stipendienaufenthalt in England nicht mehr zurück und lebte dort, aus Angst vor Verfolgung, vereinsamt in einer Nervenheilanstalt. Nur der Aufmerksamkeit einer Krankenschwester ist es zu danken, dass nicht alle seiner in der Anstalt verfassten Gedichte im Mülleimer verschwanden, sondern zwei bedeutende Sammlungen – Stará bydlište (Alte Wohnsitze) und Pomocná škola Bixley (Hilfsschule Bixley) – im tschechischen Exilverlag Sixty-eight-Publishers in Toronto erscheinen konnten. Als sein Werk nach 1989 auch in der Tschechoslowakei neu entdeckt wurde, kam dies einer literarischen Sensation gleich.
In den Gedichten aus Alte Wohnsitze schlägt der in England gestrandete Blatný einen Bogen zwischen seinem Leben in der Nervenheilanstalt und dem der frühen Jahre, zwischen seinen neuen und alten Wohnsitzen, den englischen Stadtlandschaften und der Umgebung Brünns: ein subtiles Porträt des Dichters auf der Suche nach der gegenwärtigen Zeit zwischen Klinik und Gedächtnis. Die Nostalgie, Trauer und das Heimweh dessen, dem als letzter Zufluchtsort nur die Sprache blieb, spiegelt sich in den zerbrechlichen Bildern, zugleich aber belegen die Gedichte die Unversehrtheit, Kontinuität und vor allem Authentizität eines inneren Lebens, das in all seinen bedeutenden Momenten erhalten bleibt.
Edition Korrespondenzen, Ankündigung, 2005
Es war ein Gerücht, eine Legende. Ein Verschollener: der tschechische Dichter Ivan Blatný, geboren 1919 in Brünn. Nach der kommunistischen Machtergreifung hatte er Zuflucht in England gesucht und war dort, gehetzt von der ständigen Furcht vor dem Geheimdienst, gehetzt von sich selber, der eigenen Einsamkeit, schließlich in der psychiatrischen Klinik gestrandet. Nach langem Schweigen begann er wieder zu schreiben, die Pfleger warfen es weg, bis eine Krankenschwester den verwunschenen Dichter erkannte. 1979 erschien in einem kanadischen Exilverlag, zum ersten Mal seit den vierziger Jahren, ein Band mit seinen Gedichten. 1990 ist Blatný gestorben, in einer Pension in Clacton-on-Sea. Die Wiener Edition Korrespondenzen, einer der besten unter den jungen deutschsprachigen Verlagen, hat jetzt eine Auswahl aus Ivan Blatnýs Gedichten getroffen: Alte Wohnsitze, übersetzt von Christa Rothmeier. Der Titel verrät schon etwas von dem eigen-einzigartigen Reiz dieser Texte. Melancholisch, gänzlich unromantisch, verspielt lakonisch träumt Blatný der geräderten Erinnerung nach, bestaunt die fremde Gegenwart. Und wenn er die Ziege beschwört, „eine Ziege aus Kristall“, wenn er für „die Erlösung der Bienen“ betet, wenn nachts „das Getreide aufschimmert in den Speichern des Mondlichts“, dann leuchten aus vergilbten Fotos Chagall-Farben auf – eine Kunst, so surreal wie klar wie grandios.
Ich bin Poetist
Spiele mit Farben und Klängen
mit Spiegeln
kaufe Bilder geschminkter Clowns.
Der Zirkus blieb zwischen Rahmenhandlung und Atelier
Der Maler war verreist das Atelier aber riecht
nach einem der köstlichsten Düfte der Welt.
Wer hier im „Manifest des Poetismus“ mit Farben und Klängen, vor allem aber mit der Sprache virtuos spielt, ist Ivan Blatný. Er gehörte einst zu den angesehensten Avantgarde-Künstlern Tschechiens. Gemeinsam mit Jiří Kolář oder dem Maler Kamil Lhotak war er Teil der Skupina 42. Orientiert am Kubismus und Futurismus, vertrat diese Künstlergruppe eine äußerst positive Sicht der modernen Welt, der Technik und des Lebens in der Großstadt. Ein Großteil ihrer Mitglieder arrangierte sich nach 1948 mit den Kommunisten. Nicht so der 1919 geborene Dichter Blatný. Als die Kommunisten in Tschechien die Macht übernahmen, kehrte er von einem Stipendienaufenthalt in England nicht in seine Heimat zurück. Er floh vor dem, wie er es nannte, „kalten Terror“ und gab dem Nachrichtensender BBC sozusagen als Tusch zum Abgang ein Interview, in dem er auf die Gefahr durch den Kommunismus für die gesamte Kultur Tschechiens hinwies. Leicht vorstellbar, dass er von nun an in Tschechien verfemt war, er wurde wenig später kurzerhand für tot erklärt und geriet für die europäische Literaturwelt mehr oder weniger aus dem Blickfeld.
Erst 1979 trat er mit seiner Gedichtesammlung Alte Wohnsitze (Stará bydlište) wieder in die Öffentlichkeit. Angeblich wurde er von einem Besuch eines Verwandten – dem ersten tschechischen Besuch nach 21 Jahren Einsamkeit – wieder zum Schreiben inspiriert. Die Gedichte wurden im Exilverlag Sixty – eight – Publishers von Josef Skvorecky in Toronto herausgegeben, später folgte Hilfsschule Bixley (Pomocná škola Bixley). In Tschechien war Blatný bis zur Samtenen Revolution tabu. In seiner zweiten Heimat England fasste der Dichter aber ebenfalls nie Fuß. Zeitlebens fühlte er sich verfolgt, schließlich endete er mit der Diagnose paranoide Schizophrenie in der Psychiatrie, wo er 1990 starb. Gedichte aus dieser Zeit blieben nur Dank einer Krankenschwester erhalten, die sie vor dem Papierkorb rettete. In ihnen hat sich Blatný in die Vergangenheit zurückgeflüchtet und ein nostalgisches Bild von Tschechien gemalt. Wie im Gedicht „Woher wir kamen“:
Würde ich Gedanken lesen wie Sie
sähe ich ein ganz anderes Zizkov und andere Vinohrady
nähme ich ganz andere Zirkusse beim Paradiesgarten wahr.
Indessen kennen Sie das Viadukt neben der Pensionsanstalt aus meinem Gedächtnis
und haben ihr eigenes schon vergessen.
Jetzt ist nach langer Zeit wieder eine Gedichtesammlung vom verschollenen Künstler ins Deutsche übertragen worden. In einem kühl designten Band hat Christa Rothmeier Melancholie zum Stöbern zusammengestellt – für Sprachmächtige mit tschechischem Original neben ihrer Übersetzung.
− Freut euch ihr Stühle: Ivan Blatnýs Gedichte aus dem Irrenhaus. −
Ivan Blatný – 1919 im mährischen Brünn geboren, 1990 gestorben in Clacton-on-Sea – hatte während des Zweiten Weltkriegs in Prag als Lyriker debütiert und in kurzer Folge drei bemerkenswerte Gedichtbände vorgelegt, bevor er sich 1948 aus politischen Gründen nach Großbritannien absetzte. Noch im selben Jahr wurde er, an schwerem Verfolgungswahn leidend, psychiatrisch interniert und verbrachte den Rest seines Lebens, mit nur kurzen Unterbrechungen, als Schizophreniepatient in verschiedenen englischen Kliniken und Krankenasylen. Erst ab 1969 scheint er wieder mit einer gewissen Regelmäßigkeit literarisch gearbeitet zu haben, doch wurden seine Texte – zumeist auf Zetteln notiert und achtlos liegengelassen – vom Pflegepersonal während langer Zeit unbesehen dem Müll zugeführt, bis eine aufmerksame Krankenschwester sie zu sammeln begann, so dass 1977 bei einem tschechischen Exilverlag in Toronto ausgewählte Stücke aus dem umfangreichen, völlig ungeordneten Konvolut in Buchform erscheinen konnten. Anhand jener Auswahl (die bei heutigem Kenntnisstand keineswegs als repräsentativ gelten kann und die auch editorisch manche Wünsche offen lässt) hat nun die Wiener Edition Korrespondenzen zusammen mit der Übersetzerin Christa Rothmeier eine zweisprachige Ausgabe erarbeitet, deren Erscheinen dem fast vergessenen Autor hoffentlich neue – deutsche wie tschechische – Leser zuführen wird.
Daß Blatný jahrzehntelang von Verfolgungs-, Verlust- und Todesangst gequält war, ist seinen in der Psychiatrie entstandenen Versen kaum anzumerken. Deren thematischer Einzugsbereich bleibt, eher konventionell, auf Momente der Kindheit und Jugend, auf Provinz- und Großstadtszenen, vor allem aber auf Tages- und Jahreszeiten beschränkt, die er in immer wieder anderen, meist sehr schlichten, dabei kraftvollen Stimmungsbildern vergegenwärtigt. Im ersten seiner acht „Mai“-Gedichte verbinden sich, was für Blatný durchaus charakteristisch ist, sinnliche Wahrnehmung und literarische Reminiszenz zu einem ephemeren poetischen Eindruck: „… das dunklere Grün des Efeus der das ganze Jahr grünt / hebt sich ab von den jüngeren helleren Grüntönen / Schwalben umschwärmen sie wie in Macbeth.“ – Nachhaltiger wirken demgegenüber jene Texte oder Textstellen, die noch merklich von der Poetik des Surrealismus geprägt sind und selbstironisch gebrochene Bilder wie dieses bereithalten:
Im goldenen Kalifornien eines altsurrealistischen Kutscheninneren
erfreut die durch die Ritzen stechende Sonne Billardtische und Stühle
der Herzog stirbt an einer langen tödlichen Krankheit.
Formal fallen bei Blatný zwei Besonderheiten auf. Einmal die häufige Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen, welche die abgehobene, oft inkohärente Einbildungskraft des Autors mit zeitlich wie räumlich exakten Koordinaten versehen, was die Phantastik bisweilen zusätzlich überhöht: „Warum steht … der bei Haugwitz beschäftigte Hirsch nicht im Dienst der Mythologie / Rilke und Rainer zu Seiten wie zwei Bäumlein und / in der Mitte in den Luftströmen Maria.“ – London, Wien, Turin, Prag, Liechtenstein, Paris, Kopenhagen und Colombe-sur-Seine, Flaubert, Toyen, Mallarmé, Medek, Nezval, Martow, Kundera, Hitler und Napoleon gehören zu den namentlichen Fixpunkten, durch die Blatný seine Texte mit der Geschichte wie auch mit seiner eigenen Biographie vernetzt.
Die andere Besonderheit besteht darin, daß Blatný (sieht man von seinen wenigen Sonetten ab) auf syntaktische und strophische Fügungen wie auch auf Interpunktion weitgehend verzichtet zugunsten additiver Aufreihung, auch Wiederholung von Satzteilen, Wortverbindungen oder einzelnen Begriffen und Namen. So wird unter dem lyrischen Titel „Stimmung“ zunächst eine ländliche Szene evoziert, die dann aber gleich, durch die Benennung großstädtischer Örtlichkeiten, verfremdet und auf das prosaische Stilniveau eines Reiseführers heruntermoderiert wird:
Die Felder erstrecken sich
vom Stadion zum Scheckamt
vom Scheckamt zum Militärkommando
vom Militärkommando zur Juridischen Fakultät
von der Juridischen Fakultät zum Sportplatz S. K. Zabovreský.
Blatný steckt hier nicht nur ein räumliches, sondern auch ein sprachliches Terrain aus, das auf dem Stadtplan wie im Wörterbuch vom „Scheckamt“ bis zum „Sportplatz“ reicht.
[Die vorliegende Übersetzung begnügt sich mit der philologisch korrekten Wiedergabe dessen, was Blatnýs lapidare Gedichte benennen und besagen. Rhythmische und vollends klangliche Gestaltungselemente gehen damit spurlos verloren, und selbst die sorgfältig gebauten und ingeniös gereimten Sonette lesen sich nun auf Deutsch wie linkshändig hingeworfene, unkontrolliert ausufernde Notizen. Dadurch wird der irrige Eindruck erzeugt, Blatný habe das Schreiben in der Klinik lediglich nebenbei – sei’s als Zeitvertreib, sei’s als Therapie – praktiziert. Doch die Zeit des Wahnsinns war bei ihm, wie beim späten Hölderlin, die hohe Zeit der Dichtung, da die Sprache selbst nach ihrer eigenen Regelhaftigkeit durch den Dichter sich ausspricht.]
Unter den Bedingungen totalitärer Unterdrückung, des Publikationsverbots oder des Exils haben sich ostmitteleuropäische Schriftsteller ideelle Orte der Weltliteratur erschrieben. Im Raum zwischen Sprechen und Schweigen kondensieren die Gedichte von Bora Ćosić, Ludvík Kundera, Ivan Blatný und Andrzej Kopacki die Wahnwellen des 20. Jahrhunderts zu vitaler poetischer Energie.
Viele Wege führen in den Osten und Südosten Europas. Manche unter ihnen werden mit fortschreitender Osterweiterung zu Autobahnen ausgebaut. Hinderungsfrei folgen Waren- und Kapitalströme der Schwerkraft des West-Ost-Gefälles. Umgekehrt aber gibt es unzählige Pfade, auf welchen Hermes – der Gott der Wege, der Schutzpatron von Händlern, Dieben und Reisenden – gegenläufig zugange ist. Über grüne Grenzen und Passstrassen transportiert der Götterbote ein anderes Gut: die Poesie. Mit der osteuropäischen Lyrik schlägt eine eminent vitale Gattung in den deutschsprachigen Literaturbezirk zurück, dessen Landschaft (nach Massgabe ökonomischer Rendite) wegen der Mono-Leit-Kultur „inhaltistischer“ Prosa verödet.
Die osteuropäische Lyrik kommt zwar nur über jenes Hörensagen auf uns, welches die Übersetzer gewähren. Aber es gibt eine Reihe von Enthusiasten und Konterbandisten, die in Kleinverlagen, Handpressen und bibliophilen Editionen ihre Köpfe, Krägen und Konten riskieren, um den deutschsprachigen Mainstream durch Kraftstoffe ex oriente aufzumischen. In totalitär gefährdeten Lebenswelten, in der Schraube von Zensur, Verfolgung und Exil hat sich eine poetische Gegenkultur fortgeschrieben, die die Zeitläufte in komprimierten Formen des Wider-Sprechens bündelt. Das Motiv des Heimwehs, das die Gedichte von Ludvík Kundera, Ivan Blatný und Bora Ćosić prägt, entspringt zum Teil der geographischen Distanz, zum andern der unumkehrbaren Entfernung zur Kindheit. In der Situation des Publikationsverbots oder des Exils haben sich ostmitteleuropäische Schriftsteller ein literarisches Weltbürgertum erarbeitet, das ihnen ein Leben in der ideellen Demokratie der literarischen Internationale gewährt. […]
Schreiben und Schweigen
Schreiben und Schweigen: Dass unter Umständen der Gewalt noch eine dritte Valenz – nämlich die der Stille – existiert, zeigt das nun erstmals auf Deutsch vorliegende Werk des Ivan Blatný (1919 bis 1990). Die Zusammenstellung Alte Wohnsitze – 1979 in Toronto von Josef Škvorecks Exilverlag im tschechischen Original ediert – hat Literaturgeschichte geschrieben. Das Papierkonvolut, das die pensionierte Krankenschwester Frances Meachham 1977 an Škvoreck schickte, enthielt neue Texte von einem, den man als verschwunden, gar verstorben, dachte. 1948 hatte sich der damalige Shootingstar der tschechischen Literatur anlässlich einer England-Exkursion von seiner Delegation abgesetzt. Als „entartet“ beschimpft, blieb der Name Blatnýs der Doktrin unsäglich. – „Flucht ins Irrenhaus“ titelte das aufsehenerregende Interview, das der Exilforscher Jürgen Serke 1981 mit dem Verschollenen im St. Clement’s Hospital von Ipswich führte: Blatný hatte sich bis 1954 mit BBC- Beiträgen über Wasser gehalten. Mittlerweile war seine „fixe Idee“, von kommunistischen Agenten aufgegriffen zu werden, „zur Wahnsinnsangst“ gewachsen. Er suchte Zuflucht und fand sie in psychiatrischen Spitälern. „Ein Vierteljahrhundert lang“, so Serke, „war alles, was der Tscheche geschrieben hatte, von Wärtern weggeworfen worden“ – bis Schwester Meachham auf die Zettel aufmerksam wurde, sie sammelte und nach Toronto sandte.
Wenn jene Texte in der feinen Ausgabe der Edition Korrespondenzen nun zu besichtigen sind, ist nicht der Psychiatriepatient zu entdecken, sondern ein formvollendet „altsurrealistisch“ inspirierter Bilderschöpfer:
Mallarmé hat den Trog erfunden wir waschen
waschen azurblaue Wäsche an der frischen Frühlingsluft.
Ohne die geringste Hoffnung, gelesen zu werden, adressiert Blatný die durch Geographie und Geschichte entfernten Freunde. Dass die Grenze zu jenen unüberschreitbar war (und die durch seine Gedichte ratternden Züge nirgends ankommen), lag nicht an der psychiatrischen Institution, sondern am Wahnsinn des Jahrhunderts. „Paranoide Schizophrenie“: Die Diagnose gilt weniger dem Bildfinder und Sonettstecher Ivan Blatný als der Gewalt, vor welcher er sich hinter „Umzäunungen“ duckte. Dort fand er offenbar jene Momente der Stille, die – in Gestalt unorthodoxer Haikus – der Idylle ebenso fern bleibt wie der Defensive des Schweigens. Ivan Blatnýs – von Christa Rothmeier in schwebende Valenzen übersetzte – Poesie offenbart, dass „Stille“ nicht notwendig Effekt eines Verstummens ist.
Geben wir uns Ziellosigkeit und Zufall hin.
Die grosse Freiheit im Herzen entdeckt neue Welten
Durchsichtiger und leicht lila. […]
Für Kenner der tschechischen Lyrik war es eine literarische Sensation: 1979 erschien beim tschechischen Exilverlag 68 Publishers in Toronto der Gedichtband Alte Wohnsitze von Ivan Blatný. In der Tschechoslowakei war Blatný seit Jahrzehnten totgeschwiegen worden. Er galt als Verräter, weil er nach der kommunistischen Machtübernahme im März 1948 nicht von einem Aufenthalt in England in die Tschechoslowakei zurückgekehrt war.
Blatný lebte seit Mitte der 50er Jahre bis zu seinem Tod 1990 in verschiedenen englischen Nervenheilanstalten. Die Diagnose lautete paranoide Schizophrenie: Blatný fürchtete zeitlebens, von den Kommunisten entführt zu werden. Viele Gedichte, die er in den Kliniken verfasste, wurden achtlos weggeworfen. Schließlich schrieb eine aufmerksame Krankenschwester Literaturgeschichte: Mit der Zustimmung eines Cousins ihres Patienten begann sie Mitte der 70er Jahre, die Verse aufzuheben und schickte sie nach Toronto, wo der Bohemist und Exillyriker Antonin Brousek die Sammlung für den kanadischen Exilverlag zusammenstellte.
Ivan Blatný wurde 1919 in Brünn als Sohn des Schriftstellers und Dramatikers Lev Blatný geboren. Mit 21 Jahren legte er einen schwärmerisch idealistischen Lyrikband vor. In den 40er Jahren folgten drei weitere Bücher, die seinen Ruf als einer der großen Lyriker seiner Generation festigten. Er galt als Melodiker und Stimmungsmaler, dessen Leichtigkeit und Liedhaftigkeit durchaus mit Jaroslav Seifert zu vergleichen war. Der zweite Band Melancholische Spaziergänge schlug jedoch auch andere Töne an: Enge, Einsamkeit und Fremdheit. Diese existentialistischen Motive weisen bereits auf die Nähe zur „Gruppe 42“ hin. Die antiideologischen Gedichte zeigen, inspiriert durch amerikanische Dichter wie Walt Whitman, eine Faszination für die Ästhetik des Alltags und der Großstadt. Spätestens mit dem dritten Band Dieser Abend (1945) wird Blatnýs Zugehörigkeit zur „Gruppe 42“ deutlich, der etwa Jiri Kolar angehörte. Den Kommunisten galt die Künstlervereinigung als dekadent und kosmopolitisch.
Jahrzehnte später knüpft der Band Alte Wohnsitze an die Lyrik der 40-er Jahre an. Die Gedichte sind ebenso lebendig und melodisch, assoziativ und metaphernreich. Alte Wohnsitze ist eine Rückkehr in die eigene Kindheit und Jugend und an die Orte, an denen Blatný bis zu seiner Emigration 1948 gelebt und gearbeitet hat: Brünn und seine Vororte, Mähren und Prag. In den Gedichten vergegenwärtigt er sich das Land und die Sprache, die er durch die Emigration verloren hat:
Hin und hergehen und langsam zurückkehren
wie die Zeit zurückkehrt, wie die Ferne zurückkehrt
nostalgisch wie die Marken auf Kuverts.
Die Vergangenheit besitzt mythischen Charakter. Frühlings- und Naturmotive, sonnendurchflutete Bilder und Szenen spielen eine Rolle – die Atmosphäre eines Fußballspiels, die Lieblingskneipe seiner Großmutter, das Bestellen einer Speise auf Tschechisch. Der Alltag als Inspirationsquelle war schon in den 20er Jahren charakteristisch für den Poetismus und dessen „Kunst des Lebens“. Blatnýs „Erinnerungsarchipel“, wie es die Übersetzerin Christa Rothmeier in ihrem Nachwort nennt, umfasst auch seine künstlerische Vergangenheit, die von der Gruppe 42, dem Poetismus und dem Surrealismus geprägt war. Neben Dichter- und Kritikernamen stehen Eigenzitate aus den frühen Gedichtbänden. Blatný mischt dies alles mit Realien aus seinem Leben in England. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander. Formal verwendet Blatný in seinen Gedichten sowohl den rhythmisch-freien Vers als auch regelmäßige Paar- und Kreuzreime, die als Reminiszenz an seine Jugend und eine damals wichtige Literaturzeitschrift zu verstehen sind:
Ich möchte Gedichte schreiben für den ‚Zvon‘
altmodisch gereimte, nette…
Motiviert von der unerwarteten Herausgabe der Alten Wohnsitze hat Blatný unablässig weitere Gedichte mit dem Ziel der Veröffentlichung geschrieben – zum Teil nachts auf der Toilette, dem einzigen Raum in der Anstalt, der zu dieser Zeit beleuchtet wurde. So konnte 1987, ebenfalls bei „68 Publishers“, der Band Hilfsschule Bixley erscheinen. Noch stärker als in Alte Wohnsitze handelt es sich um einen endlosen inneren Monolog, eine Text-Collage ohne Anfang und Ende, in der sich die Sprachen zu einem babylonischen Stimmengewirr vermengen. Vor fast genau 15 Jahren, am 5.8.1990, ist Ivan Blatný in England gestorben. Lange nach seinem Tod ist nun erstmals auch in deutscher Sprache eine ungewöhnliche Dichterpersönlichkeit zu entdecken.
− Literarisches Zentrum Göttingen erinnert an Ivan Blatný. −
1948 tauchte er in London unter, um dem kommunistischen Regime seiner tschechischen Heimat zu entkommen. Seitdem war der Lyriker Ivan Blatný verschollen, wurde gar für tot erklärt. Doch er lebte – in einer psychiatrischen Klinik in England. Das Literarische Zentrum hat Blatný (1919–1990) am Donnerstag einen Abend gewidmet.
Der Mann im karierten Jackett, den Wilfried Bauer Ende Oktober 1981 im Garten der Irrenanstalt von Ipswich fotografiert, hat struppige Haare, geht etwas vornübergebeugt. Wer genau hinschaut, mag die Andeutung eines Lächelns in den schmalen Lippen entdecken. Die Jackettaschen sind ausgebeult, sie müssen irgendwelche Schätze enthalten.
Der sich da die Taschen mit Süßigkeiten und Zigaretten vollgepfropft hat, ist Ivan Blatný, geboren 1919 in Brünn. Sein Besucher kommt aus Deutschland. Jürgen Serke, Journalist vom Stern, dem ein tschechischer Exilant den Tipp gegeben hatte, dass in dieser Nervenheilanstalt ein Landsmann lebte, ein Lyriker, der in den vierziger Jahren mehrere Gedichtbände veröffentlicht hatte, und seitdem als verschollen galt.
Serke, ein Vierteljahrhundert später zu Gast im Literarischen Zentrum Göttingen, berichtet von dieser Begegnung, die er 1982 in seinem (zurzeit vergriffenen) Buch Die verbannten Dichter beschrieben hat. Blatný hat sich offenbar mit dieser Anstaltswelt arrangiert.
Gedichte in der Garage
Nein, verrückt sei der Dichter keinesfalls gewesen, betont Serke. Verrückt war lediglich das Schicksal von Blatnýs Gedichten, die er im Exil schrieb: Viele, sehr viele existieren nicht mehr, weil die Wärter die Papiere weggeworfen hatten, die ihr Schützling vollgeschrieben hatte. Erst als die pensionierte Krankenschwester Frances Meachum 1976 beginnt, diese Zettel aufzuheben, in ihrer Garage in Kisten zu sammeln und sie schließlich einem tschechischen Exilverlag in Kanada anvertraut, erfährt die Welt wieder von der Existenz Blatnýs.
Stará Bydliste heißt dieser Band, der jetzt, fünfzehn Jahre nach dem Tod des Dichters, erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Bernd Kaftan, Schauspieler vom deutschen Theater in Göttingen, liest Beispiele. Wenige Zeilen schon elektrisieren: eine unprätentiöse Sprache, scheinbar alltägliches erzählend, um am Ende den Leser mit einer unerwarteten Beobachtung in Staunen zu versetzen, ihn auf poetische Reisen mitzunehmen.
Wirkliches und Unwirkliches sind gemischt, daraus wächst eine neue, innere Welt – mit Eisenbahnen, die mit Zimt gefüllt sind, russischen Nixen, Paradiesgärten, Harfentönen aus dem Lift im Opernhaus. Jene „große Freiheit im Herzen“, wie sie Blatný in Herbst II“ heraufbeschwört, ist ein herrliches Geschenk.
sind die englischen Landhäuser mit ihren Bibliotheken und Parks „in Orten wie Steine namenlos mit seltsamen Namen“. Erinnerungen an das neunzehnte Jahrhundert, die dem Dichter über eine triste Gegenwart hinweghelfen. 1948 war Blatný mit einer tschechischen Schriftstellerdelegation nach England gereist. In seinem Land hatte gerade das kommunistische Regime die Macht übernommen. Blatný wollte nicht zurückkehren. Doch das Leben im Exil endete für ihn in psychiatrischen Kliniken. So ist es fast ein kleines Wunder, dass er nach Jahren des Schweigens 1969 wieder zu schreiben begann. Nach und nach wird ihm die englische Landschaft durchsichtig:
Es scheint dieses Glashaus ist England
Man kann ständig sehen wie viel Wasser in der Luft ist
Das Gedächtnis der Fische hat es nie verlassen
Nun schleichen sich Bilder aus der Erinnerung in die Zeilen, „Gesumme von Bahnhöfen und Telegrafendrähten“, befreundete Dichter treten auf, auch die „Surrealistenfahne“ weht bisweilen. Zu Stillleben und Vignetten fügt Blatný seine Verse, spielt mit Farben und Klängen. Christa Rothmeier hat auch die strengen Formen, die Sonette zumal, in freie Rhythmen verwandelt.
Der Bettler hat an der Donau seinen Platz
Traurig spielt ein Leierkasten
und ein Frühlingslüftchen aus Schönbrunn
umfächelt die alte Krone
Das ist ein hübsches Parlando, lässt aber vielleicht zu wenig von der List spüren, mit der Blatný „korunu“ auf „Schönbrunnu“ reimt. Eine Besichtigung sind seine „Alte(n) Wohnsitze“ allemal wert.
− Ivan Blatnýs Rückkehr in Versen. −
Als Jürgen Serke 1987 seinen sensationellen Band Die verbannten Dichter herausgab, überraschte der „Fall Ivan Blatný“. Während die übrigen vorgestellten mittel- und osteuropäischen Dichter im westlichen Exil recht und schlecht Anerkennung und damit auch ihr Auskommen gefunden hatten, verwunderte Ivan Blatný das Publikum. Vom kommunistischen Regime seiner tschechoslowakischen Heimat seit den 50er Jahren offiziell totgesagt, verbrachte einer der letzten Vertreter des tschechischen Surrealismus Jahrzehnte hinter den Mauern einer englischen Psychiatrie. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte sich seiner besonders angenommen und die vollgekritzelten Kassiber und Zettelchen, die vom Personal über die Jahre hinweg achtlos weggeworfen wurden, gesammelt und damit gerettet. Irgendwann schickte sie Auszüge an den von Josef Škvorecký im kanadischen Toronto geleiteten Exilverlag Sixty-Eight-Publishers. Das Ergebnis war Alte Wohnsitze, die Publikation eines längst Vergessenen der tschechischen Moderne. Somit lag ein Spätwerk vor, das unter außergewöhnlichen Bedingungen entstanden war.
Der 1919 in Brünn geborene Ivan Blatný hat bis zu seinem Tod im Jahr 1990 nie mit dem Schreiben aufgehört, und das Erstaunliche dabei ist, dass er in seinen späten Versen keinen signifikanten Bruch mit den frühen Werken vollzieht. Am Beispiel Blatnýs bestätigt sich die Bemerkung Bohumil Hrabals, dass die surrealistische Künstlergruppe Skupina 42 über eine lang anhaltende Wirkungsgeschichte verfüge. Der surrealistische Stil war nicht nur beibehalten, sondern auch verdichtet worden. Blatný, der in seiner Jugend sehr gut über die verschiedenen Kunst- und Literaturströmungen informiert war, führt in seiner autonomen lyrischen Welt surrealistische wie auch existentialistische Stimmungen zusammen. Es ergeben sich atemberaubende Bilder voll betörender Zartheit:
Draußen spinnt der Schnee sein weißes Garn
und wallt wie die Mähne auf einem Ross vor dem Fenster herab.
Schon bald wird der Heilige Abend läuten.
Die Sammlung Alte Wohnsitze zeigt, dass der vereinsamte Blatný den poetischen Dialog mit seiner Heimat weitergeführt hat. In dem Versuch, an den abrupt abgerissenen Zeitfaden anzunüpfen, werden immer wieder Orte der mährischen Kindheit und der Prager Jugend besungen, werden Begegnungen mit Dichter- und Malerfreunden erinnert. Blatný hatte sich in den 50er Jahren von einer offiziellen tschechoslowakischen Delegation abgesetzt und in Großbritannien um politisches Asyl gebeten. Seine Furcht vor der Rache der Stalinisten hatte ihn schließlich hinter die Anstaltsmauern gebracht. Unter dieser Zeitglocke von Stillstand und Sicherheit hatte er ausgeharrt und sein Werk auf Papierschnipseln fortgeschrieben.
Blatnýs Vielstimmigkeit gibt Auskunft über das Ringen von Schizophrenie mit poetischer Polyphonie, die in seinen Gedichten auch durch Mehrsprachigkeit markiert wird. Zweisprachig aufgewachsen und die längste Zeit in England lebend, verkörpert er in seiner Disparatheit ein typisch europäisches Schicksal des letzten Jahrhunderts. Das Gedicht „Frühling“ widmete Blatný dem großen tschechischen Gelehrten und Romanisten Václav Cerný:
Mallarmé hat den Trog erfunden wir waschen
waschen azurblaue Wäsche an der frischen Frühlingsluft
und die ganze Stadt scheint nur
leicht wie aus Seifenschaum.
Radim Klekner hatte 1992 in dem schmalen Bändchen Landschaft der neuen Wiederholungen deutschsprachigen Lesern erstmalig Zugang in die Welt von Ivan Blatný verschafft. Es ist der Wiener Bohemistin Christa Rothmeier zu verdanken, dass endlich ein weiterer Band mit hervorragend übersetzten Gedichten von ihm vorliegt.
– Flucht ins Irrenhaus. –
Ivan Blatný mochte an diesem Tag Mrs. Frances Meacham nicht enttäuschen. Er hat sich Gewalt angetan, hat sich zu etwas zwingen lassen, wozu er sich sonst nicht mehr zwingen läßt: in Ordnung zu sein. Mrs. Meacham hatte ihn gebeten, einen zivilisierten Eindruck zu machen. Und so hatte der scheue 61jährige Mann diesmal seinen Schopf unter den Wasserhahn gehalten und versucht, die der Drangsalierung längst entwöhnten Haarwirbel einzuebnen. Eine Schnittwunde an der Backe signalisiert seinen Kampf mit der Rasierklinge, die die Bartstoppeln gewannen. Er hat vorzeitig aufgegeben.
„Are you satisfied?“ fragt Ivan Blatný, staatenloser Tscheche, die pensionierte Krankenschwester Mrs. Meacham. Und sicher ist Mrs. Meacham nicht zufrieden. Er auch nicht. Und ich ebensowenig. Ich hätte ihn lieber so angetroffen, wie er im St. Clement’s Hospital im englischen Ipswich wirklich lebt. Der Dichter im Irrenhaus, vergessen von seinem Volk und längst totgeglaubt, gibt sein erstes Interview. Vor 33 Jahren hatte er sich in London von einer tschechoslowakischen Delegation abgesetzt und war so der stalinistischen Verfolgung, die kurze Zeit später über sein Land hereinbrach, entkommen. Záviš Kalandra, ein tschechischer Historiker und Surrealist, der Moderne zugehörig wie Blatný, sein Weggefährte, wurde gehängt.
Wir sitzen im Flur der offenen Anstalt. Rechts aus dem Pförtnerzimmer schauen durch die Glasscheibe verwundert drei Männer und verstehen die Welt nicht mehr. Was zum Teufel passiert da mit einem alten Mann, der sonst keinen Besuch bekommt außer von Mrs. Meacham? Wilfried Bauer hantiert mit seinen zahlreichen Kameras, schraubt Objektive ab, setzt neue drauf, klickt unzählige Male, steht, kniet, hockt. Eine normale Arbeit – nur nicht hier. „Ich freue mich so sehr, daß Sie sind gekommen“, sagt Ivan Blatný zu mir. Er spricht deutsch, etwas ungelenk erst, dann immer flüssiger. Mrs. Meacham staunt, ich staune. Und auch Jiří Gruša, der aus dem Tschechischen übersetzen sollte.
Gruša, 43 Jahre alt, Lyriker und Prosaist, Opfer der neuen Stalinisierung der ČSSR, seit einem Jahr im Westen, versucht ihm das Tschechische nahezulegen. Doch Ivan Blatný bleibt in der deutschen Sprache. „Es ist die Sprache meiner Großmutter“, sagt er. „Es ist die Sprache meiner Wünsche. Der Großmutter habe ich sie gesagt.“ Ein Verwaltungsbeamter der Anstalt steuert auf uns zu, spricht mit Mrs. Meacham, Ivan Blatný verstummt, senkt den Kopf. Wir bekommen für das Gespräch einen Konferenzraum. Ivan Blatný erhebt sich. Ich sehe die ausgebeulten Taschen in seinem Jackett. Ich weiß Bescheid.
Ich weiß, daß Ivan Blatný alle seine Vorräte an Zigaretten und Süßigkeiten in diesen Taschen versteckt. Der einzige Platz, an dem solche Schätze sicher sind vor den anderen Patienten. Zu Beginn des Monats, wenn er sein Taschengeld bekommt, sind die beiden Jackentaschen voll. Am Ende leer.
Wir sitzen ihm 1981 an einem der letzten Oktobertage gegenüber. Den Abend zuvor haben wir im 30 Kilometer entfernten Clactonon-Sea verbracht, wo Mrs. Meacham wohnt. Sie hat uns von seinem Geheimnis der zerbeulten Taschen erzählt. Ohne Frances Meacham wäre Ivan Blatný noch heute einer der vielen in der Anstalt, die schreiben und von sich behaupten, Dichter zu sein.
Frances Meacham ist 65 Jahre alt. Sie war bis vor zwei Jahren im englischen Gesundheitsdienst tätig. Eine Hüftgelenkserkrankung erschwerte ihr die letzten Arbeitsjahre. Jetzt sind ihr künstliche Gelenke eingesetzt worden. Sie hat einen Dackel zu sich genommen. Sie hat nie geheiratet. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verliebte sie sich in einen tschechischen Piloten, der auf seiten der Engländer gegen Hitlers Deutschland kämpfte. Sie lernte ein wenig tschechisch. Die Liebesbeziehung zerbrach nach dem Kriege, die Liebe zu dem Land des Piloten blieb bestehen. Sie hat die ČSSR immer wieder besucht. Ihr, der Angestellten im Gesundheitsdienst, kam vor fünf Jahren eine Liste der Patienten des „Warren House“ im St. Clement’s Hospital in die Hände. „Ich dachte: Ivan Blatný, das könnte ein Tscheche sein“, erzählt sie. „Daß dieser Ivan Blatný einmal ein berühmter Lyriker in seinem Land gewesen ist, wußte ich nicht. Mit Gedichten kann ich auch wenig anfangen.“ Sie besuchte den Patienten Blatný und erfuhr erst einmal nichts von seinem Schicksal: „Er hatte es längst aufgegeben, von sich zu erzählen.“ Ein paar Zettel hielt Ivan Blatný in der Hand. Er schenkte sie ihr und sagte: „Die werden ja sonst doch vom Wärter weggeworfen.“
Mrs. Meacham nahm die Blätter mit zu sich nach Hause, las und lief dann zu den Ärzten der Anstalt, rüttelte sie aus der Routine: „Dies ist nicht das Geschreibsel eines Verrückten. Dies ist Dichtung. Tun Sie etwas, damit seine Gedichte nicht weiter weggeworfen werden. Geben Sie ihm einen festen Platz, wo er schreiben kann.“
Eine einfache Frau hatte eine richtige Diagnose gestellt. Ein Vierteljahrhundert lang, das Ivan Blatný bereits in verschiedenen englischen Anstalten verbracht hatte, war alles, was der Tscheche geschrieben hatte, von Wärtern weggeworfen worden. Mrs. Meacham erreichte, daß Blatný einen Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte bekam und eine Schreibmaschine. Allerdings keine tschechische mit den Zeichen über den Buchstaben. Die wünscht er sich insgeheim.
Mrs. Meacham arbeitete nicht im St. Clement’s Hospital. Aber wann immer sie ihn besuchte, nahm sie seine neu beschriebenen Bogen mit zu sich nach Hause. Es wurde ein Papierberg. Mrs. Meacham kaufte sich auf dem Trödelmarkt zwei Blechbehälter, tat die Blatný-Papiere in Plastiktüten und deponierte sie in den Blechbehältern in ihrer Garage hinter dem VW Polo. Mrs. Meacham überlegte, wie sie dem staatenlosen Ivan Blatný zu einer Veröffentlichung der Gedichte verhelfen könnte. Sie fragte im Freundeskreis herum, und sie erfuhr, daß es in Kanada einen tschechischen Exil-Verlag gibt: die Sixty-Eight Publishers Corporation in Toronto.
Ein Verlag, der in seinem Signet das Schicksalsjahr 1968 trägt. Das Jahr, in dem die Staaten des Warschauer Paktes den „Prager Frühling“ mit Panzern zerstörten, in dem Moskau die ČSSR zu einer Kolonie der UdSSR machte. Das Schriftsteller-Ehepaar Josef Škvorecký und Zdena Salivorová hatte damals die ČSSR verlassen und in Toronto den Exil-Verlag gegründet, in dem heute alle Autoren tschechischer Sprache veröffentlicht werden, die Rang haben und in der ČSSR verboten sind.
Josef Škvorecký, selbst ein verbotener Autor, hielt im Jahre 1979 einen Brief mit einem Packen Gedichten in der Hand. Er traute seinen Augen nicht. Was ihm da Frances Meacham geschickt hatte, waren lyrische Dokumente eines Mannes, den er längst für tot gehalten hatte. Ein paar Monate später legte die Sixty-Eight Publishers Corporation einen schmalen Band mit diesen neuen Gedichten Blatnýs unter dem Titel Stará Bydliště („Alte Wohnsitze“) vor, ausgewählt von dem Exil-Tschechen Antonín Brousek.
Wieder ein paar Monate später drückte mir Josef Škvorecký die Entdeckung bei einem Slawisten-Kongreß in Philadelphia in die Hand. Da ich nicht tschechisch spreche, suchte ich Rat bei einem anderen Exil-Tschechen: dem einstigen Lyriker und heute gerühmten Romancier Milan Kundera, ebenfalls in Philadelphia zu Besuch. Milan Kundera las, übersetzte ein paar Zeilen tapfer in holpriges Deutsch und befand: „Den mußt du besuchen. Wenn du wissen willst, wie phantastisch tschechische Lyrik in den vierziger Jahren war, dann wirst du es bei ihm erfahren. Er war einer der Großen. Und Momente dieser Größe findest du in diesem Band.“
Nacht. Die Besatzung schläft
Die befreiten Gefangenen haben ihre Manöver.
Wenn die Ofenrohre repariert sind
in den von Bomben zerstörten Häusern,
setzen die Schornsteinfeger wieder ihre Zylinder auf.
Die toten Bewohner lächeln nur;
denn die toten Bewohner haben nun wieder einen schönen Traum.
Milan Kundera beim Abschied in Philadelphia: „Wenn es doch mehr von diesen Gedichten gäbe!“ Es war die gleiche Reaktion, die Reiner Kunze, Lyriker und unvergleichlicher Übersetzer tschechischer Lyrik ins Deutsche, beim Lesen dieses Gedichtbandes hatte: „Momente der Dichtung. Ist das alles?“ Und Kunze übersetzte gleich solche Momente:
Zünden wir in der von Blüten überfluteten Kapelle die weißen Kerzen an!
Wenn leis das Werg ihrer Körper brennt,
laßt uns für die Erlösung der Bienen beten.
Momente der Dichtung. Ist das alles? Es ist viel mehr. Über tausend Blätter mit Gedichten hat Frances Meacham in den letzten fünf Jahren gerettet, Gedichte, in denen Ivan Blatný nicht nur tschechisch schreibt, sondern oft auch von einer Sprache in die andere springt: vom Tschechischen ins Deutsche, vom Deutschen ins Englische, vom Englischen ins Französische. Ein literarisches Werk wartet darauf, daß es gehoben wird. In einem dieser Gedichte, das als Titel „Ivan Blatný“ trägt, heißt es:
Es war einmal ein Zwerg
Der hatte einen langen goldenen Faden
Und an dem Faden einen goldenen Schlüssel
Mit dem er alles öffnen konnte
Die kleinsten Verschlüsse im Obst
Öffnete er während der Nacht in den Gärten
Indes der Gärtner tief und fest schlief
Er sog, er spürte den Saft und ging weiter…
Ivan Blatný greift zur Zigarette, die ich ihm anbiete, zündet sie an und beginnt zu rauchen. Im Konferenzraum, in dem wir an einem langen Tisch sitzen, steht ein Schild: Rauchen verboten. Ivan Blatný lächelt und meint: „Wir machen ja keine Konferenz, sondern ein Interview.“ Er erzählt, wie er bei Kriegsende Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und wie er nur deshalb 1948 nach England reisen konnte, weil er der KPČ angehörte. „Ich muß sagen, daß ich feige war“, meinte er heute, „feige aus Angst. Die Russen waren ja nicht nur unsere Befreier. Hitler, den einen Verbrecher, waren wir los. Und schon hatten wir einen neuen: Stalin.“
Blatný streift die Glut an seiner Zigarette ab, greift in eine seiner ausgebeulten Taschen, holt eine Blechschachtel heraus, öffnet sie. Die Schachtel ist leer. Er legt die zur Hälfte gerauchte Zigarette hinein, greift zur nächsten in der Schachtel, die auf dem Tisch liegt, zündet sie an, raucht sie bis zur Hälfte, streift die Glut wieder ab und legt den Rest in seine Schachtel… Ich gebe ihm alle Packungen, die ich dabei habe. Er steckt sie in die Taschen und raucht fortan gierig eine nach der anderen, so lange, bis die Glut am Finger brennt. Er hat ganz braun gefärbte Finger und Fingernägel.
„Ich war feige“, nimmt er später den Gedanken wieder auf, „weil ich damals nicht offen meine Zweifel an den Kommunisten in der Tschechoslowakei auszusprechen wagte. Ich hab’ geahnt, was kommen würde. Ich wollte einfach raus aus dem Land. Ich habe mich ja nicht getäuscht. Sozialismus wurde zu einer schrecklichen Phrase.“ Dies sind klare Worte eines Mannes, der einen klaren Kopf hat. In seinem Krankenblatt sind alle möglichen psychischen Defekte aufgezählt: doch mehr als Vermutung denn als exakte Diagnose. Für die Anstalt ist Blatný eher ein Sozialfall. Ein Mann, der sich jahrzehntelang sein Taschengeld mit dem Schrubben von Fußböden, mit Botendiensten in der Anstalt und mit Teppichknüpfen verdiente. „Ich danke England, daß es mich aufgenommen hat“, sagt der 61jährige dennoch ohne Bitterkeit. „Ich danke England, daß ich hier mein Bett und mein Essen bekommen habe.“ Er spricht nicht von der Angst, die ihn vor einigen Jahren erfaßte, als die Sozialbudgets gekürzt wurden und allen Ernstes in der Anstaltsbürokratie erwogen wurde, den staatenlosen Blatný in sein Geburtsland abzuschieben. Die Angst jener Tage hat Eingang gefunden in die Gedichte, die Mrs. Meacham rettete. Ivan Blatný ist heute ein gebrechlicher Mann, der die Anstalt als eine Form der Geborgenheit empfindet. „Ipswich ist meine Mutterstadt geworden“, sagt er. „Die Tschechoslowakei ist mein Vaterland.“
Mein Name ist Ivan Blatný.
Ich komme aus der Tschechoslowakei.
Ich komme aus einem vergessenen Land.
Die Jagd auf Geld und Flur war einst verboten.
Jetzt ist sie nicht mehr strafbar.
Jeder kann in der Nacht zweimal in den Spiegel schauen.
Der tschechische Lyriker und Collagist Jiří Kolář, heute wohnhaft in Paris, erinnert sich an den fünf Jahre jüngeren Ivan Blatný: „Ich gehörte 1948 zu der Delegation, mit der auch Ivan nach London reiste. Gleich nach der Ankunft setzte er sich ab, versteckte sich und rief uns aus seinem Versteck an, informierte uns von seinen Absichten.“ Kolář überlebte die stalinistische Phase bis 1953 glimpflich. Er konnte nicht publizieren, kam mit neun Monaten Gefängnis davon. Wie Blatný hatte er der im Kriege gegründeten Gruppe 42 angehört, die eine antiideologische Haltung einnahm, den gängigen Zivilisations-Optimismus ablehnte, Elemente der Existentialphilosophie in ihr Schaffen aufnahm und in der angloamerikanischen Dichtung der T.S. Eliot, Carl Sandburg, Walt Whitman und Dylan Thomas eine Quelle der Inspiration fand. Im Sprachgebrauch der Stalinisten waren nach 1948 solche Leute – wie alle Künstler der Moderne – „Kosmopoliten“ und damit Verbrecher. Sie verschwanden hinter Gittern, wurden kaltgestellt und angepöbelt.
Angepöbelt auch von einem der Großen der tschechischen Poesie, Vítěszlav Nezval (1900-1958), der seine einstigen literarischen Weggefährten und Freunde bedenkenlos verriet. Auf den Emigranten Blatný reagierte Nezval mit diesen Gedichtzeilen: „Du entarteter Dichter… Du hast das Volk verraten, indes wir hier arbeiten… Du wirst einmal den Brückenzoll zahlen… Du kannst dein Gewissen niemals in eine Dose schließen…“ Ivan Blatný verriet sein Gewissen nicht, und er zahlte den Preis desjenigen, der in der Angst vor denen stand, die ihr Gewissen verrieten. Blatný sagt: „Der Gedanke, daß ich von den Kommunisten gekidnappt werde, wurde zur fixen Idee, zur Wahnsinnsangst. Sie ließ erst nach, als ich in einer Anstalt Zuflucht fand.“
Es war eine Angst vergleichbar der von Nelly Sachs, die 1940 in letzter Stunde als Jüdin den Nazis, dem KZ und der Vernichtung entkam, die in Schweden Unterschlupf fand. In Stockholm schrieb sie ihren Gedichtband In den Wohnungen des Todes, wurde sie zur Dichterin der verfolgten Menschen. 1965 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und ein Jahr später den Literatur-Nobelpreis. Zwar hatte Nelly Sachs bis zu ihrem Tode im Jahre 1970 eine ganz normale Adresse in Stockholm, doch gewohnt hat sie dort nur selten. Verfolgt von Stimmen, die sie in deutscher Sprache in der Verfolgungssprache von einst – bedrohten, fand Nelly Sachs immer nur Sicherheit und Ruhe hinter den Mauern einer Heil- und Pflegeanstalt.
Nelly Sachs hatte Freunde, sie fand Anerkennung. Ivan Blatný fand ein Vierteljahrhundert niemanden, der ihm aus der Anonymität der Anstalt heraushalf. In seinen Gedichten die Zeilen:
Mein Freund, verzweifle nicht!
Die kleine Kunst ist auch eine Kunst.
Sogar die, die von einem Ivan Blatný
insgeheim geliebt wird,
am Getreidemarkt 3 in Brünn,
im Haus des Generalstaatsanwalts Prokop,
das mein Haus war.
Ivan Blatný wurde am 21. Dezember 1919 in Brünn geboren. Er ist der Sohn eines bekannten tschechischen Schriftstellers: des Expressionisten Lev Blatný. Dessen Frau hinterließ ihrem Sohn Ivan einen Optikerladen. Der wurde nach der Emigration Blatnýs „nationalisiert“. Verboten wurden alle vier Gedichtbände Ivan Blatnýs, erschienen zwischen 1941 und 1947. Programmatisch heißt es dort: „Etwas wird geboren, etwas wird verloren. / Und in diesem Augenblick entsteht mein Gesang…“ Eine während des „Prager Frühlings“ vorbereitete Auswahl jener alten Blatný-Gedichte wurde zwar gedruckt, mußte aber nach der Okkupation durch die Warschauer-Pakt-Staaten eingestampft werden.
Gedichte, die von einer verlorenen Welt sprechen und sie wieder heraufbeschwören, so daß Blatný heute schreibt: „Gott, der dieses Glück sieht / muß an der Ewigkeit nichts ändern.“ In einem Gedicht aus dem Jahre 1941 klingt das so:
Siehe, wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen,
und die Stadt auf den Hügeln unter uns tritt aus dem Morgen wie aus einem Bade heraus…
Du gehst nackt durch die Weinberge, und durch dein Haar fliegen Vögel,
durch den dunklen Fluß des Flötenholzes.
Siehe, wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen,
und die Stadt auf den Hügeln tritt aus dem Morgen wie aus einem Bade heraus…
Es ist ein Herbstfest, der Wald wird rot, und langsam verglüht er.
Tische aus Eichenholz von Wein durchtränkt warten auf Gäste aus der Ferne.
Gaukler kommen und gehen.
Die Locken ihrer Frauen sind noch verstreut in den Städten der Vergangenheit
Dort, wo die Locken die silbernen Türme berühren
und ihnen zu neuem Glanz verhelfen,
bis sie sich in die Melodien der Balkone verfangen
und duften in den Parkanlagen.
Ach, welche Entfernung, Schwalben.
Ach, welche Regenfäden, welche Seen,
ihr, die blauen, die sich vereinen.
Dann kommt der Abend. Nacht.
Und es ist süß zu denken, daß ihre SchlafsteIlen in dieser Stadt sind,
und ihre Stimmen, die klingen wie von Vögeln aus der Fremde…
Die verschneite Stadt beginnt zu fliegen
bis der Atem sie in ein Geheimnis hüllt.
Die Frühlingsstadt mit einer Träne der Liebe.
Die Sommerstadt, in deren Bassins die Fische Rosen erblühen lassen.
Die Stadt der Mondflossen.
Die Herbststadt, die hinabsteigt über das Treppenhaus in einen leeren Garten.
Zerrissene Vorhänge decken die Dinge
kaum sichtbar.
Die Herbststadt – eine Frau, die winkt,
bis das Auge sie verliert am Ende der Treppe.
O Glockenform der Schultern.
O Stadt der Verwandlungen.
Ivan Blatný spricht vom heutigen Tag: „Es war ein Gefühl des Glücks. Das habe ich sehr oft am Morgen. Glück, daß ich lebe. Ich stehe um sechs Uhr auf. Ich bekomme eine Tasse Tee. Dann sitze ich. Ich muß nicht das Bett machen. Ein anderer Patient aus einer anderen Abteilung macht es. Danach sitze ich wieder und habe verschiedene Gedanken. Wenn ich ganz aufrichtig bin, muß ich sagen, auch sexuelle. Heute sah ich eine Frau. Ich wollte ein Gedicht über sie schreiben. Ich ging das Papier holen. Dann war ich zu müde, um zu schreiben. Und dann sind Sie gekommen.“
Die Schachtel mit Pralinen, die ich ihm mitgebracht habe, klemmt er zwischen Hemd und Jacke. Dann führt er uns in „sein“ Zimmer im dritten Stock des alten Backsteinhauses: durch einen grünen Flur, durch einen gelben Flur, durch einen blauen Saal, wo ein TV-Gerät steht und die anderen Patienten schauen, durch ein braungetünchtes Zimmer in einen weißen Saal, der die Form eines Halbkreises hat. Zehn Betten stehen hier. Er versteckt die Konfektschachtel in einer der vier Schubladen, die nicht abzuschließen sind und die zu einem Schrank gehören. Jeder Patient hat einen solchen Schrank neben dem Bett. In einem Pappkarton liegen ein paar Bücher, obendrauf ein großes, schweres.
Ivan Blatný sieht meine Neugier und sagt: „Der Titel ist belanglos. Abends um zehn wird das Licht im Saal abgedreht, und oft habe ich dann so meine Gedanken. Ich stehe auf, nehme ein paar Blätter Papier und das dicke Buch als Unterlage und gehe auf die Toilette. Dort brennt die ganze Nacht Licht. Dort schreibe ich.“ Der 61jährige führt uns wieder die Treppen hinab. Wir gehen über einen englischen Bilderbuch-Rasen und kommen zu einem modernen ebenerdigen Gebäude. „Hier habe ich meinen Tisch in einer Werkstatt“, erklärt er uns.
Ivan Blatný will uns seine letzten Gedichte zeigen, die er in den Wochen zuvor geschrieben hat. Er geht zu dem Therapeuten Mr. Darling, der sie holen will. Mr. Darling bleibt fünf Minuten weg, zehn, eine Viertelstunde. Wir warten. Dann kommt er mit der Nachricht: „Sorry, Mr. Blatný, der Wärter hat wieder einmal alles weggeworfen.“ Ivan Blatný verbeugt sich und hebt beschwichtigend die Hand: »Never mind. Mein Gott, nehmen Sie es nicht tragisch. Es waren surrealistische Gedichte. Wer versteht schon so etwas. Ich werde es wieder schreiben. Never mind.“
So gehen wir zurück zum Hauptgebäude. Schweigend. „Das Gewicht der Bienen, die im Kelch verschwunden, wird des Stengels Schwingung deutlich dir bekunden“, rezitiert Blatný auf einmal vor sich hin, „so wie Dichterworte ein Gewicht verraten, ob sie leicht geraten, wenn sie warm und herzhaft deinem Mund entschweben und die andere Seele dir es dankt mit Tränen.“ – „Wissen Sie, daß dies das einzige Gedicht ist, das bisher in deutscher Sprache veröffentlicht wurde? Rudolf Fuchs hat es übersetzt.“ Ivan Blatný sieht jetzt sehr müde aus. Der Kopf auf dem schmächtigen Körper wirkt noch größer als sonst. Ich frage ihn, ob wir uns morgen gegen fünf Uhr nachmittags noch einmal sehen wollen. Er sagt: „Gern. Aber machen wir nichts Festes aus. Überraschen Sie mich. Ich möchte frei sein. Vielleicht will ich morgen ein Fußballspiel sehen. Ich habe noch ein Pfund in der Tasche. Überraschen Sie mich.“
Am nächsten Tag kommen wir wieder. „Mr. Blatný ist in der Stadt“, sagt uns der Pförtner.
Jürgen Serke, in: Das neue Exil. Die verbannten Dichter, Fischer Verlag, 1985.
Francis Nenik: Vom Wunder der doppelten Biografieführung
Annette Kraus: Im Exil verfemt und vergessen
Briefmarke und Ersttagsbrief für Ivan Blatný
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 1/2.
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 2/2.
Zögernd, denn es ist mir zuwider: geduzt zu werden!, antworte ich nun dennoch, wenn auch kurz. Die Dichtungen Ivan Blatnýs begleiten mich schon seit etlichen Jahrzehnten. DasSchicksal dieses Dichters beschäftigt oft meine Gedanken. Die Gedichte “Hilfsschule Bixley” habe ich ins Deutsche hinein nachgedichtet. Sie sind privat und unverkäuflich in kleiner Auflage veröffentlicht worden. Die tschechischen Dokumentationen sind hoch interessant, ihre Veröffentlichung an diesem Platz sehr verdienstvoll. Selbst der, der nicht alles versteht, sollte eigentlich verstehen worum es geht. Dies gilt für Ivan Blatný, dies gilt für Bohumil Hrabal … FWM, 19.09.2013
Ich mag die Lyrik Blatnys sehr, und auch seine Lifestory. Es gibt jetzt ein Buch über Blatny und auch über den englischen Poeten Nicholas Moore.
http://www.readux.net/books/the-marvel-of-biographical-bookeeping
Mabel, ich kenne den Text über Blatny, habe ihn im letzten Jahr in einer der EDIT-Ausgaben gelesen. Es ist ein literarischer Essay, er heißt “Vom Wunder der doppelten Biografieführung”. Allerdings scheint mir das englischsprachige Buch deutlich umfangreiches zu sein, da ist also offenbar noch mehr drin.
Den Essay jedenfalls findest du online bei der EDIT.
http://www.editonline.de/wp-content/uploads/2012/07/Edit-59-Vom-Wunder-der-doppelten-Biografief%C3%BChrung.pdf
LG,
Johann