Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley II

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley II

Blatný/Leibner-Hilfsschule Bixley II

THE BALLON NETWORK

 

Dem Ende entgegen zum Schluss nicht ohne Dynamit

Nicht ohne Leben

Was das Bitten nicht ausschließt

Auf der Hälfte des Weges

Weder Ewigkeit noch sofortiges Ende

Ein Mann verharrt unter einem Portal 

 

 

 

Rechte

Es existiert eine sehr schöne und vollständige tschechische Ausgabe: Ivan Blatný Pomocná škola Bixley, 1979, 1987, 2011; 407 Seiten. Sie ist zum Zeitpunkt da ich dies schreibe, lieferbar. Diesem Band wurden die tschechischen Originale, welche dieser Auswahl zugrunde liegen, entnommen. Die Anmerkungen wurden als brauchbar empfunden, allerdings beziehen sie sich hauptsächlich auf Schreibvarianten und auf lokale Besonderheiten, den tschechischen Leser vor Augen, so dass die Anmerkungen zu dieser Auswahl von mir aus meiner Bibliothek, sowie externen Quellen, zumeist tschechischen, aber auch englischen und französischen geschöpft und ins Deutschte gebracht werden mussten. Überhaupt sind in der tschechischen Heimat von Ivan Blatný inzwischen wieder viele seiner Bücher in schöner Ausstattung zu erwerben… Es erschien eine erste Ausgabe im Exilverlag in Toronto, 1987. Universitätsbibliotheken können jemandem, der dort Zugang hat, sehr von Nutzen sein.
Die Rechte im juristischen Sinne scheinen sich bei verschiedenen Personen und Verlagen zu befinden. Da diese Übertragungen nicht für den Verkauf oder sonst eine Form der Veröffentlichung, die den privaten Kreis verlässt, gedacht sind, wurde dem von mir nicht weiter nachgegangen.
Noch einmal sei es geäußert: Der oft genannte Gedichtband Hilfsschule Bixley, Klagenfurt: Wiesner 2002, ist nie erschienen.
Der Verlag Wiesner, soweit es mir möglich war, dies zu eruieren, nicht mehr existent.
Hoch interessant (wenn auch wie bei der Fülle des Materials geradezu zwingend: unvollständig) und der aufmerksamen Lektüre empfohlen: Schamschula, Walter: – Geschichte der tschechischen Literatur, Band III. Von der Gründung der Republik bis zur Gegenwart. Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge. Reihe A: Slavistische Forschungen. – Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2004. – 562 Seiten.
Der Nachdichter verfügt nach wie vor nur über ein Recht – das Recht des Dichters, das Recht: Gedichte zu lesen und weiterzuerzählen ohne dafür Geld oder sonst etwas Materielles zu bekommen – allein dieses Buch, welches ausschließlich für den privaten Gebrauch und zum Verschenken geschaffen wurde.
In unveränderter Hochachtung, sowohl für den Dichter Ivan Blatný als auch für die Beschützerin und Bewahrerin des späten Werkes und seines Dichters: Frances Meacham, als auch für den Maler und Herausgeber auch dieser Auswahl Lutz Leibner.

Frank-Wolf Matthies, 2014

 

Hilfsschule Bixley I und II

– Zwei Bände des großen Lyrikers Ivan Blatný in famoser Übersetzung von Frank Wolf Matthies. –

Als Milan Kundera 1981 vom Journalisten Jürgen Serke auf einem Slawisten-Kongress in Philadelphia einen Gedichtband von Ivan Blatný (21. Dezember 1919 in Brünn – 5. August 1990 in Colchester) in die Hand gedrückt bekam, begann er zu schwärmen:

Den mußt du besuchen. Wenn du wissen willst, wie phantastisch tschechische Lyrik in den vierziger Jahren war, dann wirst du es bei ihm erfahren. Einer der großen. Und Momente dieser Größe findest Du in diesem Band.

Zu dieser Zeit lebte Blatný seit drei Dekaden bereits im Irrenhaus, Insasse des „Warren House“ im St. Clemen’s Hospital, bei Ipswitchtown, in England. 1948 setzte sich Blatný in London von einer tschechoslowakischen Delegation ab, um der vorgeahnten stalinistischen Säuberungen in der Heimat zu entgehen.

Beispiel liefernd in Erinnerungen zu bringen wäre der Historiker Záviš Kalandra, dem in Prag ein Schauprozess unvorstellbar niederträchtiger Manier gemacht wurde, bei dem vornherein feststand, dass man den „Angeklagten“ aufhängen würde.
Ein weiteres Vernichtungsmittel der an die Macht gelangten kommunistischen Putsch-Spezialisten, waren Entführungen angeblicher Renegaten aus dem Ausland. Ein Gutteil der Entführten wurde im Auftrag von Partei und Geheimdienst nach der „Rückführung“ dann auch umgebracht.

Dass Ivan Blatný auch seine Entführung zu Recht befürchtete, legen die Akten der tschechischen Staatssicherheit nahe. Und die Angst vor der eigenen Entführung lähmte Ivan Blatný selbst in der Freiheit schließlich. Wo konnte er sich da schon sicher fühlen?
Ivan Blatný wählte die Flucht zu den geistig Zerrütteten und tatsächlich glaubte alle Welt jetzt, auch er sei geisteskrank geworden. Und natürlich ging in der Verrückten-Anstalt auch das Aufsichtspersonal davon aus.

Was Ivan Blatný hinter den Mauern der Anstalt auch schrieb, wurde von Personal ihm weggenommen und als das Geschreibsel eine Bekloppten vernichtet. Dies änderte sich – welch wundersame Fügung – mit einem Schlag im Jahre 1976.
Zu dieser Zeit war Ms. Frances Meacham als Krankenschwester tätig. Durch einen Angestellten kam ihr Liste der Insassen des „Waren House“ in die Hände. Der Name Ivan Blatný fiel ihr auf. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem tschechischen Piloten, der in der englischen Luftwaffe gegen Nazideutschland kämpfte. Die Beziehung zerbrach zwar nach dem Krieg, doch dafür besuchte Ms. Meacham die CSSR immer wieder. Sie besuchte Blatný und bekam am Ende des Besuchs einen Packen Zettel mit der Bemerkung in die Hand gedrückt, die würden „sonst doch vom Wärter weggeworfen.“
Ms. Meacham sorgte dafür, dass Blatný einen „Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte“ bekam, wo er schreiben konnte. Die Wärter warfen nichts mehr weg. Blatný bekam sogar eine Schreibmaschine. Derweil nahm Ms. Meacham Kontakt auf mit dem tschechischen Exil-Verlag Sixty-Eight-Publishers, mit Sitz in Kanada. Der veröffentlichte Band Ivan Blatný Pomocná škola Bixley (1979), veranlasste den Schriftsteller Milan Kundera auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia, von der Lyrik Ivan Blatnýs zu schwärmen. Es folgten weitere Ausgaben 1987 und 2011.

In den Jahren 2013 und 2014 legte der Schriftsteller und Dichter Frank Wolf Matthies Bixley in deutscher Übersetzung komplett in zwei Bänden vor, jedoch „ausschließlich für den privaten Gebrauch und als Geschenk gedacht“. Was der Rezensent mehr als bedauerlich findet, denn Milan Kunderas Schwärmen lässt sich bei der Lektüre im Jahr 2015 noch vollkommen nachvollziehen. Mit seinen Übertragungen ist wirklich Frank Wolf Matthies etwas Wunderbares gelungen.
Schon der Titel Hilfsschule Bixley verweist auf ein zu erwartendes singuläres Ereignis und ist eines schon selbst. Versuchte Vergleiche halten dieser Originalgröße kaum stand. Und eines ist auch versprochen: diese Bixley-Gedichte toppen alles, was im Augenblick auf dem Amt ist. Diese Lyrik gibt sich nicht nur so. Die frühe Lyrik Blatnýs – die in den vier Büchern gegen Ende Zweiten Weltkrieges erschien – gehört nach Ansicht des Rezensenten getrost in eine Reihe mit T.S. Eliot, Carl Sandberg, Dylan Thomas, Walt Whitmann. Ohnehin zählte Ivan Blatný dieses Quartett zu seinen „Quellen der Inspiration“.
Aber noch die Bixley-Dichtung, mit ihren „Momente dieser Größe“, besitzt die Wirkung großer poetischer Sprengkraft, von der Leonard Cohen sagt: „There is a crack in everything / That’s how the light gets in“. Eine Kostprobe aus Band I. Ivan Blatný nennt das Gedicht schlicht „Anarchie“ und zeigt vom ersten bis zum Schlussvers damit eine ziemlich eigene Wahrnehmung dieses Phänomens.

Hier ist die Welt ohne Mief
Hier ist die Welt ohne Chief
Tschechisch heißt Eis mit Schoko Eskimo
Wie immer sitze ich froh
auf der dritten Bank in der Felixtown Road
Immer am Wochenende
Behütet – doch bis Ende?

Die Welt dieses vollendeten Gedichts ist vor allem ohne – fast vermeint der Rezensent sagen zu müssen deutsche – politische Hintergedanken. Erich Mühsam beispielsweise ist alle Ehren wert, doch von einer derartiger gleichermaßen von Philosophie und Ironie getragenen Poesie war er Lichtjahre entfernt. Hier antwortet mit einem verwandten Gedicht, wenn auch weniger satirisch, doch eine antike Schönheit, mit dem zu ihrer Zeit größten lyrischen Talent, mit Namen Sappho. Das Gedicht heißt schlicht „Der Apfel“:

Einsam rötet und ründet sich
Zuhöchst im Gezweige
Der süßeste Apfel.
Vergaßen die Pflücker ihn?
O sie vergaßen ihn nicht;
Zu fern nur
Reift er den Händen…

Wer hier eine Verwandtschaft zwischen den beiden Gedichten sieht, sei herzlich aufgenommen in den Kreis der wahren, echten Leser. Felixtown Road – Felix-Felice – das Glück Was ist Glück? In beiden Gedichten geht es schlicht um diese Frage. Und die Antworten in beiden Gedichten sehen sich nicht nur ähnlich, beide bauen darauf, dass es noch immer etwas gibt, das in der Zukunft liegt. Und das möglichst fern jeder verlautbarenden wie verheißungsvollen Meta-Erzählung.

Der „süßeste“ Apfel oder „behütet“ auf der Felixtown Road, beide – Gefühl und Gedanke – passen irgendwie doch traumpaarhaft zusammen. Sich konspirativ disziplinieren zu lassen, zusammengepfercht auf diesem gesellschaftlichen Floß der Medusa – wer nicht spurt, wird verfolgt, bis er erstarrt – mit diesem Denken können die beiden nichts anfangen. Bei beiden behalten Inhalt und Ausdruck ihren wahren Ursprung. Beide sagen etwas anderes nie, als sie meinen.
Die ihn lesen, können sich auf Blatný verlassen, er ist in seinen Gedichten zu sehen. Sein lyrisches spricht: „ich habe heute zwei Stifte und jede Menge Papier / Tinte und Federn schäkern vor Tisch“. Das Synonym schäkern für flirten. Und eher ein Flirten wie von Clowns, die doch am Ende schließlich die vermeintlichen Götter hinter der falschen Maske – mit Papiergeschossen natürlich – hervor zerren.

Genau diese Haltung – der Rezensent kommt schon zum Schluss – folgt der bildende Künstler Lutz Leibner mit seinen gelungenen grafischen Beigaben. Was die Entsprechung von Bild und Text betrifft, sei auf die Reduzierung kongenial hier verzichtet. Lutz Leibners (unbetitelte) Bilder in beiden Bänden lassen die Gedichte Blatnýs förmlich zu Form und Farbe werden. Im Gedicht „Schicksal“ formulierte Blatný ein philosophisches Bonmot, der es zumindest geschafft hat, inzwischen in aller Munde zu sein: „Du hast keine Chance also nutze sie“. Und dazu die Bilder von Lutz Leibner, das haut einfach hin. Ohnehin die einfach großartigen Übertragen von Frank Wolf Matthies.

PS: Wie der Rezensent erfuhr, befindet sich „Hilfsschule Bixley Band III“ in Progress.

Axel Reitel, tabularasa, 17.3.2015

Eine Liebe auf den ersten Blick

– Ein deutscher Dichter lernt tschechisch, um Ivan Blatný zu übersetzen. –

Dies ist eine wunderbare Geschichte, in der Vergangenheit in  die Zukunft geschrieben ist. Im  November vergangenen Jahres bekam ich ein außergewöhnliches Buch mit einem Schreiben:

Sehr geehrter Herr Serke, ich hoffe jetzt einfach mal, dass Sie sich meiner zumindest vage erinnern werden  – und schicke Ihnen dieses eben erschienene Buch, denn schließlich bin ich Ihnen zutiefst dankbar dafür, mich mit dem Dichter Ivan Blatný bekannt gemacht zu haben. Es war für mich das, was man oft viel zu leichtfertig eine ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt.

Das Buch, das ich in  Händen hielt, war Band  IV der Lyrik von  Ivan Blatný mit dem Titel  Hilfsschule Bixley –  die Gedichte  Pomocná škola Bixley  galten bisher als unübersetzbar. Inzwischen habe ich all diese bibliophil gestalteten Bände. Es sind Nachdichtungen aus dem Tschechischen des deutschen Lyrikers  Frank‑Wolf Matthies, der Blatnýs Sinnlichkeit, seine Rhythmik und klanglichen Gestaltungsmomente kongenial getroffen hat. Dazu Collagen des Berliner Malers Lutz Leibner (geb.  1949) von einer Intensität, wie sie zu spüren ist in  den Collagen Jiří Kolářs (1914–2002), des Freundes Ivan Blatnýs. Ich erinnere mich, wie der 31jährige Matthies mit seiner Frau Patricia, die das Zentrum seiner Lyrik ist, 1982 in  meinem Haus in  Großhansdorf bei Hamburg auftauchte  – allein wegen Ivan Blatný. Den hatte ich ein Jahr zuvor im St.  Clement’s Hospital im  englischen Ipswich, einer psychiatrischen Anstalt, aufgesucht und ein Porträt im  STERN-Magazin  veröffentlicht. 33  Jahre zuvor hatte sich Blatný von einer tschechischen Schriftstellerorganisation bei einem Besuch in  London kurz nach dem kommunistischen Putsch 1948 in  der Tschechoslowakei abgesetzt, war in  eine psychiatrische Anstalt geflohen und der kommunistischen Verfolgung in  seinem Land entkommen.
Ivan Blatný, 1919 in  Brünn geboren, war in  seinem Heimatland als Verfasser von vier Gedichtbänden berühmt. Nach seiner Flucht nach London wurde er zum Vaterlandsverräter gestempelt. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte ihn in  Ipswich entdeckt. Sie, die im  Zweiten Weltkrieg einen tschechischen Piloten geliebt und Tschechisch gelernt hatte, sorgte dafür, dass Blatnýs Gedichte, die er in  der Anstalt schrieb, nicht mehr in  den Müll wanderten. Mrs. Meacham bewahrte die Gedichte bei sich zuhause und schickte viele von ihnen nach Kanada zum tschechischen Exil-Verlag Sixty‑Eight  Publishers, der sie veröffentlichte.
Das alles ist heute in  der Tschechischen Republik bekannt. Als Blatný 1990 in  England starb, wurde seine Urne auf dem Friedhof in  Brünn beigesetzt. Sein Werk ist wieder in  der Tschechischen Republik erhältlich. Auch in  deutscher Übersetzung gibt es einen Lyrikband:  Stará bydliště, übertragen von Christa Rothmeier unter dem Titel  Alte Wohnsitze. Das Opus magnum, die  Hilfsschule Bixley, vor einem Jahrzehnt angekündigt, ist nicht erschienen. Deshalb mein unglaubliches Erstaunen, als ich Band  IV der Gedichte in  der Hand hielt.
Frank-Wolf Matthies hat die vier Bände zusammen mit seinem Malerfreund Lutz Leibner auf eigene Kosten drucken lassen. In  einer Auflage von 5o  Exemplaren, die an  Freunde verschenkt werden. In  einem der Blatný‑Bände steht:

Gewidmet Jürgen Serke, ohne den es dieses Buch nicht gäbe.

In einem anderen:

Für Jürgen Serke, der mir diese Welt geöffnet und somit den Einlass ermöglicht hat.

Man liest das beglückt und zugleich erschrocken, kramt alle Bücher von Frank‑Wolf Matthies hervor, die im  Bücherschrank stehen, und sucht nach einer Erklärung der Verklärung des Dichters Blatný. Matthies, 1951 in  Ostberlin geboren, wird 1979, 1980 und 1981 mit drei Bänden Lyrik und Prosa sichtbar, nicht in  der DDR, sondern im  Westen beim Rowohlt‑Verlag. Mit einer sicheren Liebe an  seiner Seite, seiner Frau Patricia, die ihm noch heute Sicherheit gibt. Er lebt und schreibt wahrhaftig in  einem Land, in  dem man nicht wahrhaftig sein darf.
Zweimal wird er in  Ostberlin verhaftet. Was er geschrieben hat, wird von der Staatssicherheit (Stasi) als „Beleidigung und Herabwürdigung“ des SED-Systems gewertet. 1981 lässt man ihn und seine Familie ausreisen. Günter Grass nimmt die Familie in  seinem Westberliner Haus auf. Er bleibt, was er in  Ostberlin immer gewesen ist: unbeugsam. Das macht ihn auch im  Westen schnell unbequem. „Beuge dich nur für die Liebe.“ Dieser Satz des einstigen Résistance‑Kämpfers René Char könnte auch seine Lebensmaxime sein.
Noch einmal wird er sichtbar mit seiner kraftstrotzenden Verzweiflung bei einem bedeutenden Verlag: bei Suhrkamp mit seinem Tagebuch Fortunes. Zahlreiche Bücher folgen bei kleinen Verlagen. Der Kampf mit sich, gegen seine Verletzungen und mit der DDR dauert lange. Der Dichter als sein eigener Therapeut. Seine zeitgenössische Version der  Aeneis  ist ein großes Prosawerk, das in  der Bundesrepublik schon nicht mehr wahrgenommen wird. Immer wieder geht es darum, aus der traumatischen Situation Jugendjahre in  der DDR herauszufinden.
Im  Tagebuch Fortunes (1985) taucht Ivan Blatný erstmals mit einem Gedicht aus meinem Porträt über den Dichter in  Ipswich (Die verbannten Dichter, 1982) auf. Jiří Gruša, der bei meinem Besuch Blatnýs dabei war, hatte es für mein Porträt übersetzt. Gruša sollte aus dem Tschechischen dolmetschen. Es war nicht nötig. „Sprechen Sie deutsch“, sagte der damals 61jährige zu mir, „Deutsch ist die Sprache meiner Großmutter. Es ist die Sprache meiner Wünsche. Großmutter habe ich sie gesagt.“
Matthies sagt:

Seit Ihrem Text im  STERN  und dann in  Ihrem Buch ist Ivan Blatný immer in  mir anwesend. Er lässt mich weiterleben. Wenn es mir schlecht geht, zieht er mich hoch.

Im  Jahre 2013 erlitt Frank‑Wolf Matthies einen schweren Schlaganfall. Es grenzt an  ein Wunder, dass er die Lähmungen nach einem Jahr überwunden hatte.
Matthies wohnt heute am  Rande Oranienburgs bei Berlin. Die vier Kinder sind längst erwachsen. Seine Frau, eine Lehrerin, ist inzwischen pensioniert. Und so erlebe ich bei meinem Besuch der beiden ein Paar wie Philemon und Baucis. Er, ein schmaler hochgewachsener Mann, hat gerade eine Lungenentzündung überwunden.
Nach dem Schlaganfall begann Matthies mit den Blatný‑Nachdichtungen.

Ich sagte mir, jetzt wird es langsam Zeit, wenn du es lesen willst.

Und nun traute er sich, das Tschechisch, das er sich selbst beigebracht hatte, umzusetzen für seine deutschen Nachdichtungen. Das Lernen der tschechischen Sprache nennt er ein Vertrautmachen.

Wenn ich mich selbst befragen würde, danach, ob es Dichter gibt, zu  denen ich Vertrauen habe und die mir vertrauen können, dann wären das Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche und Ivan Blatný.

Matthies spricht so, als lebten sie alle noch, deren Namen er nennt. Er trägt sie in  sich. Wenn er von Blatný spricht, sagt er:

Die Sprache singt. Jedes Wort gibt das nächste Wort. Blatný lebte 4o  Jahre in  einer völlig fremden Kultur. Niemand war eigentlich da in  seiner eigenen Sprache. Und dann das Wunder dieser Lyrik.

Den drei von Matthies bewunderten Dichtern wird Wahn, Wahnsinn zugeschrieben. Wenn es so ist, war es die hohe Zeit der Dichtung. Matthies gibt den Zuschreibungen einen anderen Sinn:

Einzig, was in  der Phantasie existiert, existiert tatsächlich  – lebt, einzigartig, universal, unsterblich.

In  der Nachdichtung  Hilfsschule Bixley  gibt Matthies dem Durcheinander des desaströsen 2o.  Jahrhunderts die Struktur einer Erinnerung aus der Einbildungskraft Blatnýs. Blatný und Matthies zeigen die Dissonanz als Geheimnis der Harmonie. Matthies hat den Gedichten des Tschechen einen voluminösen Anmerkungsapparat als Anhang hinzugefügt  – wegen der häufigen Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen und Geschichtsdaten. Er zeigt auch, wie Blatný im  Wechsel von tschechischer Sprache in  die englische oder deutsche sein Europa verteidigt und zusammengehalten hat.

Jürgen Serke, institut pro studium literatury, 21.6.2017

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + KLG + Kalliope

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Frankwolfmatthies“.

 

 

Francis Nenik: Vom Wunder der doppelten Biografieführung

Annette Kraus: Im Exil verfemt und vergessen

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Briefmarke und Ersttagsbrief für Ivan Blatný

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2

 

Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 1/2.

 

Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 2/2.

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