BESTENS
Ob dort auch jemand alles auf die Goldwaage legt
endlos wägt und wägt
manisch unaufhörlich
Gleich diesem Plan mit dem Masaryk auf dem Hradschin
aaaaaregierte
besser man unterlässt es alles in Unordnung zu bringen
was Gott tatsächlich besser tat
Gott geschrieben mit einem großen G
wie schon Sokrates sagte.
Übertragen von Frank-Wolf Matthies
Frau Christa Rothmeier nennt Pomocná škola Bixley „eine aus späteren Texten erstellte tagebuchartige Sammlung“. Dies scheint mir eine bedenkenswerte Bezeichnung zu sein. Außerdem, geehrter Leser bedenken Sie, diese Bemerkungen schrieb der Nach-Dichter – nicht der Dichter. Sie sind ein Versuch, dem Leser der Nach-Dichtungen etwas zusätzlich zu sagen, oftmals handelt es sich bezüglich der Gedichte um Vermutungen, so, wie es sich bei den Nachdichtungen um Versuche handelt. Vermutungen und Versuche ohne jede Gewissheit. Es ist nicht notwendig, sie zu lesen – sowohl die Gedichte, als auch die Bemerkungen. Dem unsicheren Leser sei eher davon abgeraten. Es kann nicht oft genug gesagt werden: es gibt keine absolute Objektivität. Wenn zwei Menschen einen Gegenstand ansehen, dann sehen sie zwei Gegenstände… die nicht selten voneinander sehr verschieden sind, und sich von dem tatsächlichen Gegenstand obendrein unterscheiden.
Auch in diesen Gedichten befinden sich zahllose Zitate, auch Selbstzitate, absichtlich, vermutlich auch unabsichtlich. Wer will sich anmaßen, dies mit Gewissheit zu entscheiden. Darauf kann mangels Wissen nur ausnahmsweise hingewiesen werden. Ich vermute, für die Aufnahme der Gedanken eines anderen Menschen ist dieses Wissen nicht immer unentbehrlich. Jemanden sein Mitteilen mit der Bemerkung zu stören, dass er dies bereits schon früher einmal gesagt habe, lässt leicht zu dem Gedanken verführen, der Zuhörer meine, die Wiederholung mache den Wahrheitsgehalt zweifelhaft. Ganz im Gegenteil scheint es mir zumindest oft notwendig, einen Gedanken zur Not auch hundertmal auszusprechen, damit er wenigstens einmal wahrgenommen und bedacht wird. Eine Landschaft kann man gar nicht oft genug betrachten. Dies gilt auch für einen Menschen, ein Gedicht, ein Musikstück… das Leben und die Schöpfung überhaupt. Das Leben gleicht einer Pischingertorte – der Königin aller Torten. Das Gedicht, sagte der Schriftsteller F. einst, gleicht den Vitaminen – man bemerkt sie erst, wenn sie fehlen.
Frank-Wolf Matthies
Es existiert die schöne und vermutlich vollständige tschechische Ausgabe: Ivan Blatný Pomocná škola Bixley, 1979, 1987, 2011; 407 Seiten. Diese Ausgabe liegt dieser Auswahl zugrunde. Die Rechte im juristischen Sinne scheinen sich bei verschiedenen Personen und Verlagen zu befinden. Da diese Übertragungen nicht für den Verkauf oder sonst eine Form der Veröffentlichung, die den privaten Kreis verlässt, gedacht sind, wurde dem von mir nicht weiter nachgegangen.
Der Nachdichter verfügt nach wie vor nur über ein Recht – das Recht des Dichters, das Recht: Gedichte zu lesen und weiterzuerzählen ohne dafür Geld oder sonst etwas Materielles zu bekommen – allein dieses Buch, welches ausschließlich für den privaten Gebrauch und zum Vergnügen des Verschenken geschaffen wurde.
Hiermit sei ausdrücklich Hannes Schwenger gedankt, der das Manuskript sorgfältig durchsah und auf viele Fehler und Unachtsamkeiten aufmerksam machte.
In unveränderter Hochachtung, sowohl für den Dichter Ivan Blatný als auch für die Beschützerin und Bewahrerin des späten Werkes und seines Dichters: Frances Meacham, als auch für den Maler und Herausgeber auch dieser Auswahl Lutz Leibner.
Frank-Wolf Matthies, 2016
– Ein deutscher Dichter lernt tschechisch, um Ivan Blatný zu übersetzen. –
Dies ist eine wunderbare Geschichte, in der Vergangenheit in die Zukunft geschrieben ist. Im November vergangenen Jahres bekam ich ein außergewöhnliches Buch mit einem Schreiben:
Sehr geehrter Herr Serke, ich hoffe jetzt einfach mal, dass Sie sich meiner zumindest vage erinnern werden – und schicke Ihnen dieses eben erschienene Buch, denn schließlich bin ich Ihnen zutiefst dankbar dafür, mich mit dem Dichter Ivan Blatný bekannt gemacht zu haben. Es war für mich das, was man oft viel zu leichtfertig eine ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt.
Das Buch, das ich in Händen hielt, war Band IV der Lyrik von Ivan Blatný mit dem Titel Hilfsschule Bixley – die Gedichte Pomocná škola Bixley galten bisher als unübersetzbar. Inzwischen habe ich all diese bibliophil gestalteten Bände. Es sind Nachdichtungen aus dem Tschechischen des deutschen Lyrikers Frank‑Wolf Matthies, der Blatnýs Sinnlichkeit, seine Rhythmik und klanglichen Gestaltungsmomente kongenial getroffen hat. Dazu Collagen des Berliner Malers Lutz Leibner (geb. 1949) von einer Intensität, wie sie zu spüren ist in den Collagen Jiří Kolářs (1914–2002), des Freundes Ivan Blatnýs. Ich erinnere mich, wie der 31jährige Matthies mit seiner Frau Patricia, die das Zentrum seiner Lyrik ist, 1982 in meinem Haus in Großhansdorf bei Hamburg auftauchte – allein wegen Ivan Blatný. Den hatte ich ein Jahr zuvor im St. Clement’s Hospital im englischen Ipswich, einer psychiatrischen Anstalt, aufgesucht und ein Porträt im STERN-Magazin veröffentlicht. 33 Jahre zuvor hatte sich Blatný von einer tschechischen Schriftstellerorganisation bei einem Besuch in London kurz nach dem kommunistischen Putsch 1948 in der Tschechoslowakei abgesetzt, war in eine psychiatrische Anstalt geflohen und der kommunistischen Verfolgung in seinem Land entkommen.
Ivan Blatný, 1919 in Brünn geboren, war in seinem Heimatland als Verfasser von vier Gedichtbänden berühmt. Nach seiner Flucht nach London wurde er zum Vaterlandsverräter gestempelt. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte ihn in Ipswich entdeckt. Sie, die im Zweiten Weltkrieg einen tschechischen Piloten geliebt und Tschechisch gelernt hatte, sorgte dafür, dass Blatnýs Gedichte, die er in der Anstalt schrieb, nicht mehr in den Müll wanderten. Mrs. Meacham bewahrte die Gedichte bei sich zuhause und schickte viele von ihnen nach Kanada zum tschechischen Exil-Verlag Sixty‑Eight Publishers, der sie veröffentlichte.
Das alles ist heute in der Tschechischen Republik bekannt. Als Blatný 1990 in England starb, wurde seine Urne auf dem Friedhof in Brünn beigesetzt. Sein Werk ist wieder in der Tschechischen Republik erhältlich. Auch in deutscher Übersetzung gibt es einen Lyrikband: Stará bydliště, übertragen von Christa Rothmeier unter dem Titel Alte Wohnsitze. Das Opus magnum, die Hilfsschule Bixley, vor einem Jahrzehnt angekündigt, ist nicht erschienen. Deshalb mein unglaubliches Erstaunen, als ich Band IV der Gedichte in der Hand hielt.
Frank-Wolf Matthies hat die vier Bände zusammen mit seinem Malerfreund Lutz Leibner auf eigene Kosten drucken lassen. In einer Auflage von 5o Exemplaren, die an Freunde verschenkt werden. In einem der Blatný‑Bände steht:
Gewidmet Jürgen Serke, ohne den es dieses Buch nicht gäbe.
In einem anderen:
Für Jürgen Serke, der mir diese Welt geöffnet und somit den Einlass ermöglicht hat.
Man liest das beglückt und zugleich erschrocken, kramt alle Bücher von Frank‑Wolf Matthies hervor, die im Bücherschrank stehen, und sucht nach einer Erklärung der Verklärung des Dichters Blatný. Matthies, 1951 in Ostberlin geboren, wird 1979, 1980 und 1981 mit drei Bänden Lyrik und Prosa sichtbar, nicht in der DDR, sondern im Westen beim Rowohlt‑Verlag. Mit einer sicheren Liebe an seiner Seite, seiner Frau Patricia, die ihm noch heute Sicherheit gibt. Er lebt und schreibt wahrhaftig in einem Land, in dem man nicht wahrhaftig sein darf.
Zweimal wird er in Ostberlin verhaftet. Was er geschrieben hat, wird von der Staatssicherheit (Stasi) als „Beleidigung und Herabwürdigung“ des SED-Systems gewertet. 1981 lässt man ihn und seine Familie ausreisen. Günter Grass nimmt die Familie in seinem Westberliner Haus auf. Er bleibt, was er in Ostberlin immer gewesen ist: unbeugsam. Das macht ihn auch im Westen schnell unbequem. „Beuge dich nur für die Liebe.“ Dieser Satz des einstigen Résistance‑Kämpfers René Char könnte auch seine Lebensmaxime sein.
Noch einmal wird er sichtbar mit seiner kraftstrotzenden Verzweiflung bei einem bedeutenden Verlag: bei Suhrkamp mit seinem Tagebuch Fortunes. Zahlreiche Bücher folgen bei kleinen Verlagen. Der Kampf mit sich, gegen seine Verletzungen und mit der DDR dauert lange. Der Dichter als sein eigener Therapeut. Seine zeitgenössische Version der Aeneis ist ein großes Prosawerk, das in der Bundesrepublik schon nicht mehr wahrgenommen wird. Immer wieder geht es darum, aus der traumatischen Situation Jugendjahre in der DDR herauszufinden.
Im Tagebuch Fortunes (1985) taucht Ivan Blatný erstmals mit einem Gedicht aus meinem Porträt über den Dichter in Ipswich (Die verbannten Dichter, 1982) auf. Jiří Gruša, der bei meinem Besuch Blatnýs dabei war, hatte es für mein Porträt übersetzt. Gruša sollte aus dem Tschechischen dolmetschen. Es war nicht nötig. „Sprechen Sie deutsch“, sagte der damals 61jährige zu mir, „Deutsch ist die Sprache meiner Großmutter. Es ist die Sprache meiner Wünsche. Großmutter habe ich sie gesagt.“
Matthies sagt:
Seit Ihrem Text im STERN und dann in Ihrem Buch ist Ivan Blatný immer in mir anwesend. Er lässt mich weiterleben. Wenn es mir schlecht geht, zieht er mich hoch.
Im Jahre 2013 erlitt Frank‑Wolf Matthies einen schweren Schlaganfall. Es grenzt an ein Wunder, dass er die Lähmungen nach einem Jahr überwunden hatte.
Matthies wohnt heute am Rande Oranienburgs bei Berlin. Die vier Kinder sind längst erwachsen. Seine Frau, eine Lehrerin, ist inzwischen pensioniert. Und so erlebe ich bei meinem Besuch der beiden ein Paar wie Philemon und Baucis. Er, ein schmaler hochgewachsener Mann, hat gerade eine Lungenentzündung überwunden.
Nach dem Schlaganfall begann Matthies mit den Blatný‑Nachdichtungen.
Ich sagte mir, jetzt wird es langsam Zeit, wenn du es lesen willst.
Und nun traute er sich, das Tschechisch, das er sich selbst beigebracht hatte, umzusetzen für seine deutschen Nachdichtungen. Das Lernen der tschechischen Sprache nennt er ein Vertrautmachen.
Wenn ich mich selbst befragen würde, danach, ob es Dichter gibt, zu denen ich Vertrauen habe und die mir vertrauen können, dann wären das Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche und Ivan Blatný.
Matthies spricht so, als lebten sie alle noch, deren Namen er nennt. Er trägt sie in sich. Wenn er von Blatný spricht, sagt er:
Die Sprache singt. Jedes Wort gibt das nächste Wort. Blatný lebte 4o Jahre in einer völlig fremden Kultur. Niemand war eigentlich da in seiner eigenen Sprache. Und dann das Wunder dieser Lyrik.
Den drei von Matthies bewunderten Dichtern wird Wahn, Wahnsinn zugeschrieben. Wenn es so ist, war es die hohe Zeit der Dichtung. Matthies gibt den Zuschreibungen einen anderen Sinn:
Einzig, was in der Phantasie existiert, existiert tatsächlich – lebt, einzigartig, universal, unsterblich.
In der Nachdichtung Hilfsschule Bixley gibt Matthies dem Durcheinander des desaströsen 2o. Jahrhunderts die Struktur einer Erinnerung aus der Einbildungskraft Blatnýs. Blatný und Matthies zeigen die Dissonanz als Geheimnis der Harmonie. Matthies hat den Gedichten des Tschechen einen voluminösen Anmerkungsapparat als Anhang hinzugefügt – wegen der häufigen Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen und Geschichtsdaten. Er zeigt auch, wie Blatný im Wechsel von tschechischer Sprache in die englische oder deutsche sein Europa verteidigt und zusammengehalten hat.
Francis Nenik: Vom Wunder der doppelten Biografieführung
Annette Kraus: Im Exil verfemt und vergessen
Briefmarke und Ersttagsbrief für Ivan Blatný
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 1/2.
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 2/2.
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