ANDRÉ BRETON
Aus dem Humus unklaren Bewusstseins
entstehen Kraftfelder Kraftlinien
Eisenspanlinien magnetischer Felder Deschamps
Duchamp war Schachspieler ließ mich gewinnen mit Schustermatt
bald machen wir uns auf den Weg
und zeigen diese Gedichte dem jungen Blatný
Bin Eisenstaub in Eisenhand.
Ein bekanntes Klischee besagt, dass die ganz Großen der Kunst sich der Gefahr aussetzen, an sich und der Welt verrückt zu werden. Dieses Klischee erweist sich auch im Falle von Ivan Blatný als nicht wirklich wahr oder hilfreich, weil es zu viele Narrative nicht mit einbezieht. Blatný war ein hochbegabter, sensibler und sicherlich auch komplizierter Mensch. Aus heutiger Sicht war er einfach eine extravagante bis auffällige Persönlichkeit. Er wuchs in der bürgerlichen ČSR zunächst ohne materielle Sorgen auf, die Kriegsjahre im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“ überstand er ohne besonders einschneidende Zäsuren – außer dass er sich zu seinem Schutz zweimal in die Psychiatrie hatte einweisen lassen. Nachdem er im Frühjahr 1948, kurz nach der kommunistischen Machtübernahme, während eines Stipendienaufenthalts in England im Exil blieb, war er von einem Tag auf den andern ganz auf sich selbst gestellt und – obwohl er einen Teil seines Vermögens offenbar gerettet hatte – dem fremden, harten Alltag im Nachkriegs-England nicht gewachsen. Er entwickelte einen Waschzwang und bekam (nicht ganz zu Unrecht, wie man heute weiß) panische, zunehmend paranoide Ängste vor dem Zugriff des kommunistischen Geheimdienstes. In die Psychiatrie wurde er zum ersten Mal im September 1948 eingeliefert. Im klinischen Sinn war er aber nie ernsthaft krank – also nicht psychotisch. Dass Blatný ausgerechnet nach England emigriert war, erwies sich als großes Glück. Das britische Gesundheitswesen wurde zu dieser Zeit verstaatlicht und die sich gerade reformierende und im europäischen Vergleich äußerst fortschrittliche englische Psychiatrie ermöglichte es Menschen wie Blatný, auch in einer Anstalt für Nervenkranke ein einigermaßen würdiges Leben zu führen. Bei Blatný wurden es insgesamt achtunddreißig Jahre, die er freiwillig als Patient und Sozialhilfeempfänger verbrachte. Auch von den Anstalten selbst wurde er die ganze Zeit explizit als ein Freiwilliger (voluntary) geführt, und obwohl er bis zu seinem Tod staatenlos blieb, wurden ihm die nötigen Zuwendungen nie entzogen, seine Bedürftigkeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Bei Blatný kam noch hinzu, dass er manche seiner Verrücktheiten (beispielsweise seine nudistischen Ausflüge in die Umgebung der Klinik) wohl auch bewusst einsetzte, um seine ihm in späteren Jahren drohende Entlassung zu verhindern. Der Schutz, den ihm der Klinikalltag bot, war für ihn tatsächlich lebensnotwendig.
Der 1919 in Brünn/Brno geborene Ivan Blatný – Sohn eines bekannten Dichters und Dramatikers – wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Schon in seiner Jugend wurden ihm viel Bewunderung und Anerkennung entgegengebracht. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr schrieb er Gedichte, mit siebzehn schloss er sich in Brünn einer surrealistischen Gruppe an. Und Vítězslav Nezval – die beiden kannten sich seit 1934 – feierte ihn schon bald als die neue große Begabung der tschechischen Gegenwartsdichtung. Blatný gewann mehrere Dichterwettbewerbe, sein erster eigenständiger Gedichtband Paní Jitřenka (Frau Morgenstern) erschien während des Krieges 1940, sein letzter Hledání přítomného času (Die Suche nach der gegenwärtigen Zeit) ein Jahr vor seiner Flucht. Dazwischen – von zwei Büchern für Kinder abgesehen – erschienen noch zwei weitere Gedichtbände: Melancholické procházky (Melancholische Spaziergänge, 1941) und Tento večer (Dieser Abend, 1945). Seinen Entschluss zu emigrieren begründete er 1948 in einer BBC-Ansprache eindeutig politisch: Er hätte in der Tschechoslowakei als Dichter nicht weiter frei leben und arbeiten können.
In seinen ersten England-Jahren bekam Blatný viel Unterstützung und auch verschiedene Hilfsangebote aus den Kreisen der tschechischen Exilanten, eine dauerhafte Lösung fand sich für ihn aber nicht. Er war nicht in der Lage, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen, und im Jahre 1954 wurde er gar als Exhibitionist von der Polizei aufgegriffen. Dieser wenig ruhmreiche Vorfall muss hier erwähnt werden, weil er hilft, Blatnýs Patientenkarriere besser zu verstehen. Die zweite, in diesem Fall dauerhafte Einlieferung in die Psychiatrie – wieder in das landschaftlich schön gelegene Claybury Hospital in Essex – rettete ihn damals vor dem Zugriff der Justiz; im Gefängnis in Brixton hielt man ihn zum Glück nur einige Tage fest.
Über die vielen Jahre, die er in den Kliniken und klinikähnlichen Einrichtungen verbrachte, weiß man nur sehr wenig. Aus den Jahren 1958 bis 1969 gibt es beispielsweise keine konkreten Informationen über ihn, alle Patientenakten wurden vernichtet. Blatný selbst dachte in den ersten Jahrzehnten seines Patientendaseins offenbar nicht daran, mit dem Schreiben wieder anzufangen. Im Claybury Hospital blieb Ivan Blatný insgesamt etwa zehn Jahre und wurde dann 1963 in das den Patienten etwas mehr Autonomie bietende „Hope House“ in Ipswich (Suffolk) verlegt, wo er die nächsten vierzehn Jahre verbrachte. „Hope House“ lag zwar nicht weit vom Ipswicher St. Clement’s Hospital entfernt, wurde aber – dank staatlicher Subventionen – von einer privat organisierten Initiative1 betrieben.
Im Gegensatz zur abgelegenen Claybury-Klinik war hier das Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe und Blatný oft allein zu Fuß in Ipswich unterwegs. Er rauchte viel, aß gern Schokolade und trug alle seine Vorräte aus gutem Grund „am Mann“ – in den ausgebeulten Taschen seines Sakkos. Die wenigen Zeitzeugenberichte beziehen sich oft auf solche kleinen, recht aussagekräftigen Äußerlichkeiten. Blatný fügte sich offenbar in den Klinikalltag gut ein und wurde wie alle anderen an den anstehenden Arbeiten – auch im Garten – beteiligt.
Im Januar 1977 wurde er wegen einiger ernster, jedoch vorübergehender gesundheitlicher Probleme direkt ins St. Clement’s Hospital eingewiesen und kehrte ins „Hope House“ – wo es offenbar kurz davor zu gravierenden Konflikten mit Mitpatienten gekommen war – nie wieder zurück. Und trotz der berechtigten Zweifel einiger Mediziner gelang es ihm, noch insgesamt neun Jahre im St. Clement’s zu bleiben. Die Abteilung des Krankenhauses – im Grunde war es nur ein großes Bettenzimmer2 –, in der Blatný lebte und dann auch wieder zu schreiben begann, hieß „Bixley Ward“.3 Ende der sechziger Jahre wurde Ivan Blatný zum ersten Mal von einem seiner Cousins besucht, dem Biologen Dr. Jan Smarda. Aber auch andere Besucher fanden sich ein – beispielsweise ein Bekannter aus der Brünner Zeit, der nach England zum Tennisturnier in Wimbledon angereist kam. Es bleibt allerdings strittig, wer in den 70er Jahren den mürrischen und oft nur einsilbig reagierenden Klinikinsassen Blatný anregte, wieder mit dem Schreiben anzufangen.
Das Jahr 1977 – das Jahr der Einlieferung ins St. Clement’s Hospital – wurde zu einem Schicksalsjahr für Ivan Blatný und sein Werk: Er bekam Besuch von seinem eigentlichen „Schutzengel“, wie die Krankenschwester Frances Meacham später oft genannt wurde. Sie schaffte es dank ihrer Beharrlichkeit, Blatnýs Dichtung für die Nachwelt zu retten. Frances war allerdings nicht „seine“ Krankenschwester, wie es die Legende eine Zeit lang wollte: Sie lebte damals in Ipswich und arbeitete seit dem Kriegsausbruch bis zu ihrer Pensionierung als Hebamme. Frances Meacham wurde auf den „Ipswicher“ Blatný eher zufällig und auf Umwegen aufmerksam. Sie fühlte sich seit den Kriegsjahren dank ihrer Brünner Freundin Stephanie4 mit der Tschechoslowakei verbunden und besuchte ihre Freundin immer wieder. Bei einem Besuch im Jahre 1977 kam das Gespräch auch auf den großen Brünner Dichter Ivan Blatný und sein Schicksal; und man bat sie dringend, ihn in Ipswich nach ihrer Rückkehr aufzusuchen und zu sehen, was sich für den vereinsamten Menschen Blatný tun ließe. Zurück in Ipswich setzte die resolute, aber alles andere als intellektuell versierte Frances durch, dass Blatnýs tschechische „Kritzeleien“ – verfasst teilweise auf Klopapierstreifen – in der Klinik ernst genommen und nicht mehr entsorgt wurden. Sie begann alles zu sammeln, was Blatný niederschrieb. Ende der 70er Jahre schickte sie dann die gesammelten Schätze dem tschechischen Verlag 68 publishers nach Toronto, wo im Jahre 1979 der erste Band des „wiederauferstandenen“ Ivan Blatný unter dem Titel Stará bydliště (Alte Wohnsitze) erschien. Den tschechischen Emigranten der älteren Generation war Blatnýs Name selbstverständlich noch bestens vertraut, jüngeren Menschen – vor allem in der Tschechoslowakei selbst, wo Blatnýs Frühwerk konsequent totgeschwiegen worden war – war er ein Unbekannter.
Große Verdienste bei der Wiederentdeckung von Ivan Blatný erwarb sich der Journalist und Stern-Reporter Jürgen Serke. Nachdem er 1980 bei einem Slawistenkongress in Philadelphia von Blatnýs Schicksal erfahren hatte, besuchte er ihn im Herbst 1981 gemeinsam mit dem Schriftsteller Jiří Gruša und dem Fotografen Wilfried Bauer. Im Dezember erschien dann im Stern eine große Reportage über Blatný mit dem Titel „Flucht ins Irrenhaus“, als zwölfter Teil der Serie Die verbannten Dichter. Viele der heute so bekannten Fotos von Ivan Blatný entstanden bei diesem Besuch. Der Band Alte Wohnsitze war zwar schon im Jahre 1979 erschienen, aber erst der Artikel im Stern bedeutete für ihn den Durchbruch. Der Name Blatný wurde in den breiteren Emigrantenkreisen bekannt, Blatný bekam verschiedene Hilfsangebote, außerdem endlich eine Schreibmaschine. Selbstverständlich wusste man inzwischen auch in den tschechischen Dissidentenkreisen von diesen Neuigkeiten – und 1981 erschien Alte Wohnsitze erstmals im Samisdat.
Von den deutschen Literaten entdeckte Ivan Blatný als einer der Ersten Frank-Wolf Matthies – ebenfalls dank der Reportage von Jürgen Serke. Und er entschloss sich 2013, Gedichte aus der Hilfsschule Bixley nachzudichten. Der Graphiker Lutz Leibner und er geben seitdem gemeinsam eine Auswahl von Matthies’ Nachdichtungen aus Hilfsschule Bixley – in Auswahl und frei zusammengestellt – in einer privaten bibliophilen Edition heraus.
Welcher Blick auf Ivan Blatný könnte für das Verständnis seiner Poesie hilfreich sein? Man sollte sich den zerbrechlichen, über Jahrzehnte hospitalisierten und vom Schreiben besessenen Mann vor allem in seinem kargen Klinikalltag vorstellen und seine Einstellung zum Schreiben verinnerlichen. ALLES, WAS MIR EINFÄLLT, HAT SINN, AUFGESCHRIEBEN ZU WERDEN, ALLES IST WICHTIG, ALLES IST ERLAUBT. Bereits nach kurzer Vertiefung in Blatnýs Dichtung fällt auf, was Blatný diametral von anderen Dichtern unterscheidet. Er schrieb einerseits viel zu viel, andererseits war er beim Schreiben absolut unabhängig, frei von jeglichen Zwängen, Erwartungen und Forderungen von außen. Zusammengesackt in seinem Stuhl raucht dieser „kranke“ Ivan, isst dabei Schokolade und schreibt alles auf, was ihm Tag für Tag durch den Kopf geht. Diese einmalige Begabung hat den üblichen Künstlerehrgeiz abgelegt, muss niemanden mehr unmittelbar beeindrucken, muss nichts verdienen… und wenn ein Stapel Gedichte vom Personal entsorgt wird, schreibt er eben neue. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, Assoziationsschnelligkeit und einem einmalig sicheren Zugriff auf im Gedächtnis gespeichertes Wissen.
In einem späten Interview spricht Ivan Blatný von der „Musik der Bedeutungen“ in seiner Dichtung. Er ist ein Surrealist der alten Schule, ist als Surrealist aber überhaupt nicht gealtert. Vielleicht auch deswegen, weil er sich seines abseitigen Daseins in der Fremde bewusst war? Seine surrealistischen Anfänge waren jedenfalls „standesgemäß“ – seine frühen Gedichte schrieb er, der junge Müßiggänger, in der unterirdisch gelegenen Künstlerbar Boccaccio am „Platz der Freiheit“ in Brünn. Auch in den psychiatrischen Anstalten bewegte er sich dann wieder außerhalb der alltäglichen Realität und agierte in seiner Dichtung weiterhin wie ein undogmatischer Jüngling – obwohl dem Surrealismus-Begriff längst schon ein fast ideologischer Beigeschmack anhaftete. Die Quellen von Blatnýs Inspiration scheinen jedoch unerschöpflich, und glücklicherweise geht auch sein Humor nicht ganz verloren. Dass Blatnýs Dichtung manchen Poesiekennern etwas suspekt sein mag, liegt vielleicht daran, dass er sie durchgehend für ganz banale, ausgesprochen unpoetische Splitter des Alltags offen hält, scheinbar unmotiviert zwischen dem Tschechischen und Englischen, Französischen und Deutschen hin und her springt und sich an keine ersichtlichen Regeln hält. Der Band Hilfsschule Bixley verblüffte anfangs sogar manche Kritiker in seiner Heimat; man betrachtete viele der Gedichte sogar als Belege für Blatnýs Krankheit.
Dabei hatte sich Blatný in der Hilfsschule Bixley bloß von den strengeren, konventionellen Formen verabschiedet und schrieb viel freier und um einiges experimentierfreudiger als noch kurz davor. Dieser Wandel hängt zweifelsfrei mit der Entstehungsgeschichte des Bandes zusammen. 1979 bekam Blatný Besuch von seinem früheren Mitstreiter, dem Dichter und inzwischen als bildender Künstler international anerkannten Jirí Kolář. Der damals im Westen lebende Kolář regte Blatný an, auch alles Raue, Alltägliche, poetisch Nicht-Gehobene authentisch festzuhalten, also eine Art dichterisches Tagebuch zu führen. Kolář tat dies im Wissen darum, dass Blatnýs Herausgeber Antonín Brousek ausgerechnet solche unkonventionellen, vielsprachigen, in mehrfacher Hinsicht formal losgelösten Gedichte aus der jüngsten Gedichtsammlung Alte Wohnsitze entfernt hatte. Für Ivan Blatný bedeutete diese Rückkehr auf die literarische Bühne viel und verlieh ihm ganz neue Kräfte. Nach Kolářs Besuch brauchte er für die Niederschrift der Kernfassung von Hilfsschule Bixley nur – sage und schreibe – drei Wochen.
1985 musste Blatný das Krankenhaus endgültig verlassen und in eine betreute Pension in Clacton-on-Sea umziehen. Er erlebte noch den Zusammenbruch des Prager Regimes, vor einer Rückkehr in die alte Heimat hatte er allerdings panische Angst. Im Sommer 1990 starb Ivan Blatný. Er wurde zunächst in England bestattet – neun Monate später feierlich nochmals in Brünn/Brno, an der Seite seines Vaters Lev Blatný. Das Grab befindet sich in einem Ehrenrondell des Zentralfriedhofs, unweit des Grabs von Leoš Janáček und anderer berühmter Brünner Dichter und Künstler.
Viele Informationen über Blatnýs Psychiatrie-Dasein der späteren Jahre kennt man glücklicherweise dank eines langen Interviews, das dem slowakischen, in Norwegen lebenden Journalisten Lubo Mauer mit Ivan Blatný zu führen gelang (1982 für den norwegischen Fernsehsender VB). Es gibt Akten des tschechoslowakischen Geheimdienstes, der einen Spitzel zu ihm nach England geschickt hatte – und es gibt Berichte seines Cousins Jan Šmarda. Außerdem gibt es Zeitzeugen aus der Zeit, als Blatný endlich wieder als Dichter wahrgenommen wurde.
Glücklicherweise ließ Blatný in die Gedichte des vorliegenden Bandes sehr viel Autobiographisches einfließen, und bei genauerem Hinsehen und dank weiterer Recherchen lassen sich einige Vermutungen über ihn nach und nach bestätigen, konkretisieren – oder eben ausschließen. Die wichtigste Quelle für uns Übersetzer war der biographische Roman des Brünner Schriftstellers und profunden Blatný-Kenners Martin Reiner, Básník. Román o Ivanu Blatném (Der Dichter. Roman über Ivan Blatný). Martin Reiner trug über fast dreißig Jahre hinweg alle verfügbaren Informationen zusammen, traf Ivan Blatný im Herbst 1989 noch persönlich und machte sogar zwei seiner behandelnden Ärzte und einige andere Zeitzeugen – auch Pfleger – ausfindig. Für uns war bei der Arbeit wichtig, über Ivan Blatný so viel wie möglich zu erfahren. Nur so konnten wir uns beim Deuten der Gedichte und beim Abwägen von Übertragungsalternativen einigermaßen sicher fühlen. Der oberste Grundsatz lautete allerdings: Die Musik der Übersetzung muss stimmen, Blatnýs Ausgelassenheit durfte nicht durch inhaltlich zu genaues „Verdeutschen“ zerstört werden, seine kniffligen Sprachspiele durften nicht umgangen, sondern mussten – wenn nötig – im Geiste von Blatný strukturell transformiert, das heißt im Grunde neu erfunden werden.
Wenn man in Blatnýs Denkweise tiefer eindringt, erkennt man irgendwann – wenigstens ansatzweise – seine Arbeitsmethoden und sieht, wie er sich ohne hemmende Kontrollinstanz oft einfach treiben lässt und jedem „bedeutungslosen“ Zufall oder zufälligen „Wort-Unfall“ plötzlich zu ungeahnter Geltung verhilft; und dann wiederum ziemlich gewöhnliche, mitunter auch leicht durchschaubare Assoziationssprünge einfach stehen lässt, ohne ihnen unbedingt den letzten Schliff zu geben. Wie schon angedeutet: Blatný schrieb über alles, was ihm Tag ein Tag aus durch den Kopf ging – und so ist bei ihm einfach nicht alles berechnet, festgezirkelt oder in Buntmetall gegossen und oberflächenziseliert. Die lange Beschäftigung mit seiner Poesie brachte also auch eine ernüchternde Erkenntnis: Es ist nicht alles gut und Gold, was er hinterließ. Die Beschreibungen des Alltags sind manchmal auch schlicht bis plump, sie wiederholen sich – man kennt sie irgendwann so gut wie alle. Aber DAS ist eben auch Ivan Blatný, AUCH DAS macht seine Größe aus! Es ist ihm egal, ob er banal oder langweilig wird. Man hat immer wieder das Gefühl, ihn im Hintergrund zu hören, wie er zu irgendeinem Pfleger mürrisch sagt:
Schmeiß doch einfach alles weg, ich schreibe sowieso gleich was Neues…
Aber er reflektiert seine Skepsis durchaus auch selbst und hält sie fest. Im Gedicht „Das zehnte Gedicht, 27. Dezember 79“:
… heute das zehnte, ein ganz schlichtes Gedicht.
Martin Reiner wagt in seinem Roman, eine Art Fazit von Blatnýs Leben zu ziehen. War der Entschluss, die Heimat zu verlassen, richtig? War der Preis, den Blatný als Mensch, als von der Fürsorge abhängiger Klinikinsasse zahlen musste, zu hoch? Er kreist das Problem ein, nennt viele erschreckende Schicksale aus Blatnýs ehemaligem Umfeld; schreibt über psychische Deformationen und Zusammenbrüche vieler Intellektueller, die in der Tschechoslowakei blieben, spricht über Selbstmorde und lange Gefängnisstrafen. Der Journalist, Schriftsteller und Historiker Záviš Kalandra, der in den 30er Jahren als Kommunist die stalinistischen Prozesse verurteilt hatte und aus der Partei ausgeschlossen worden war, wurde beispielsweise 1950 aus Rache seiner einstigen Mitstreiter (als angeblicher „Trotzkist“) sogar hingerichtet. Und Martin Reiner beschließt das Kapitel folgendermaßen: Wenn Blatný ein tschechischer Dichter bleiben wollte, konnte ihm dies – trotz aller Widrigkeiten, Erniedrigungen und Verluste – paradoxerweise nur im Exil glücken.
Editorische Schlussbemerkungen in Kürze
Die Geschichte der mehrstufigen und sich über Jahre hinziehenden Herausgabe der „Hilfsschule“ ist äußerst kompliziert. Der Titel Hilfsschule Bixley ist unter ein- und demselben Namen im Grunde dreimal erschienen – in verschiedenen Ländern und Systemen, in unterschiedlichen Fassungen von jeweils ganz unterschiedlichem Umfang.
Ein kurzer Abriss: Nach der dreiwöchigen Niederschrift des Bandes im Herbst 1979 wurde das Manuskript nicht nur nach Toronto geschickt, sondern durch die Vermittlung von Jiri Kolář (inzwischen in Paris lebend) auch nach Prag, wo der Band 1982 in einem Samisdat-Verlag als gebundenes Typoskript5 erschien. Diese „Kernfassung“ mit 131 Gedichten ist die einzige, die Blatný persönlich zusammengestellt hatte. Derweil verzögerte sich die Herausgabe in Kanada immer weiter, was u.a. mit gesundheitlichen Problemen von Antonin Brousek zusammenhing, aber auch damit, dass Ivan Blatný weiter schrieb und dem Verlag mit Hilfe von Frances Meacham immer wieder neue Gedichte zukommen ließ. Als dann die „kanadische“ Hilfsschule Bixley mit großer Verspätung bei 68 publishers 1987 erschien, war es ein etwas anderes Buch. Der in Hamburg lebende Herausgeber Brousek nahm 125 neue Gedichte auf, und um „Platz zu schaffen“, reduzierte er die ursprüngliche „Kernfassung“ um ganze 62 Gedichte. Diese wichtige Toronto-Ausgabe aus dem Jahre 1987 umfasst also 194 Gedichte und gilt unter den Kennern als die „eigentliche“; die Auswahl trägt aber natürlich die Handschrift des Herausgebers Brousek. Die kritische letzte Ausgabe erschien schließlich im Jahre 2011 im Verlag Triáda in Prag und vereinte alle Gedichte, die Blatný zwischen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre geschrieben hatte. Diese „dritte“ Hilfsschule Bixley umfasst 427 Gedichte und sprengt im Grunde um ein Vielfaches den Rahmen, der für die Übertragung ins Deutsche in Frage kam. Außerdem werden dort die Gedichte – für Nicht-Eingeweihte nicht ganz nachvollziehbar – in drei Blöcken präsentiert. Im ersten Block die noch von Blatný konzipierte „Kernfassung“, im zweiten die Toronto-Fassung (allerdings nur die vom Editor Brousek zusätzlich aufgenommenen Gedichte, um Doppelungen zu vermeiden) und im dritten dann Gedichte aus dem Nachlass, die man der Bixley-Periode eindeutig zuordnen konnte.
Unsere Auswahl stützt sich selbstverständlich (auch was orthographische und andere Richtigstellungen betrifft) auf diese letzte Ausgabe und umfasst insgesamt 162 Gedichte. Wir verzichten allerdings darauf, die Trennung zwischen den drei Blöcken innerhalb des Bandes typographisch sichtbar zu machen.6 Was die Auswahl betrifft, war uns in erster Linie wichtig, nicht nur die Vielfalt der Produktion von Blatný vorzustellen, sondern auch den sehr weit und breit aufgespannten Bogen gegen Ende zu schließen, den weisen alten Mann also eine Art Fazit seines Lebens ziehen zu lassen. Bei dem Auswahl-Prozedere haben wir uns mehrmals mit Martin Reiner abgesprochen, vor allem um möglichst keine Gedichte unberücksichtigt zu lassen, die in Tschechien inzwischen als „Blatný-Klassik“ gelten.
Blatný schrieb die letzten Zeilen seines Werks am Tag seines Todes in Clacton-on-Sea, kurz bevor er in eine Klinik in Colchester gebracht wurde. Und Folgendes sollte man sich auch noch vergegenwärtigen: Im Nachlass von Ivan Blatný lauern noch Abertausende weitere Gedichte und Gedichtfragmente. Martin Reiner schätzt diesen sorgfältig digitalisierten Fundus auf etwa 280.000 Verse; und er selbst gab kürzlich eine neue, umfangreiche, streng verdichtete Auswahl aus diesem magmatischen Konvolut heraus. Der Band Jde pražské dítě domů z bia7 umfasst über 400 Gedichte.
Blatný zitiert oft aus verschiedenen tschechischen, französischen, deutschen Gedichten oder spielt auf sie an, natürlich nur aus der Erinnerung – und er ist dabei oft erstaunlich genau. Trotzdem war es notwendig, nachzuschauen und zu vergleichen, d.h. wenn wir überhaupt entdeckt haben, dass es sich möglicherweise um eine Anspielung oder Paraphrase handelt. Die Ergebnisse der Recherchen – also auch die korrekten Zitate – stehen im Anmerkungsapparat.
Blatný machte auch bei der Nennung von beispielsweise Titeln oder historischen Daten gelegentlich Fehler, da er nichts nachschlagen konnte – und dies sowieso nicht für nötig hielt. Und es gibt Äußerungen von ihm, dass er sich, was beispielsweise die orthographische Endkorrektur der Gedichte betrifft, auf seinen ersten wichtigen Lektor und Herausgeber Antonin Brousek verließ. Trotzdem bildeten sich bei den tschechischen Herausgebern zwei entgegengesetzte Lager heraus: In dem einen korrigiert man nur streng selektiv und lässt auch manche eindeutige Fehler stehen – weil Blatný mit diesen Unkorrektheiten eventuell doch etwas „gemeint haben könnte“.8 Im anderen wägt man ab und korrigiert konsequent dort, wo der sinn- und zweckfreie Fehler beim Lesen nur verwundern würde. Ein Beispiel aus dem Gedicht „Kindheit“: Blatný schreibt hier in einem englisch verfassten Vers ausnahmsweise „fife“ anstatt „five“: wollte er hier möglicherweise auf eine Pfeife anspielen? Im ganzen Gedicht findet sich allerdings nichts, das auf einen Grund für diese Anspielung hindeuten würde. War das nur ein harmlos-sinnloses Spielchen? Wer weiß – anderswo jedenfalls schrieb Blatný „five“ selbstverständlich korrekt. In diesem Fall haben wir Blatnýs „fife“ sicherheitshalber so stehen lassen, auch wenn er sich hier möglicherweise nur verschrieben hatte.
Ein anderes Beispiel: Die Herausgeber der letzten (also der kritischen) Ausgabe beließen einen fehlerhaft geschriebenen Eigennamen unberührt, als dieser in demselben Gedicht noch einmal auftaucht. Blatný hat hier – wie aus der handschriftlichen Niederschrift ersichtlich – ein „z“ fast wie ein „r“ geschrieben, so dass aus einem Herrn Kozderka im zweiten Fall Herr Korderka wurde. Da es sich ganz offensichtlich aber um ein und dieselbe Person handelt, haben wir hier korrigiert. Wir mussten aber auf der Hut sein. Im späten, von uns hier nicht aufgenommenen Gedicht „Nic“ („Nichts“) beklagt sich Blatný über seinen – trotzdem über alles geschätzten – Herausgeber Brousek, weil dieser die Schreibweise eines Gedichttitels im Band Alte Wohnsitze (Gedicht „Hodiny vodné“) in korrektes Tschechisch gebracht hatte. Die „wie slowakisch“ klingende Adjektiv-Endung „e“ (in „vodné“) hätte aber nicht korrigiert werden dürfen – sie stammt nämlich aus einem slowakischen Gedicht! Blatný merkt dazu im Gedicht „Nichts“ an: „Fabry wird nicht wissen dass ich ihn zitiert habe“, Rudolf Fabry war ein slowakischer Surrealist der ersten Stunde, eine wichtige Bezugsperson von Blatný.
Blatnýs Experimentierfreudigkeit lässt sich beispielsweise daran erkennen, mit welcher Wachheit er im Schriftbild einzelner Wörter ganz andere, mit Vorliebe auch fremdsprachige Wortfragmente und Ähnliches entdeckt. Im Gedicht „Mám všecko vyřešeno“ („Alles gelöst was mich betrifft“) kommen folgende zwei Verszeilen vor: „it is a terrible world / terre I. Bl.“ (aus englisch „schrecklich“ entsteht also auf Französisch „die Erde Ivan Blatný“).
Und noch zwei Beispiele: Blatný zerlegt im Gedicht „Vormundschaft“ das Wort „snídaně“ (deutsch: Frühstück) zu „sní daně“, was nun „isst [auf die] Steuern“ bedeutet. Unsere Lösung: „Frühfraß frisst Steuermaß nur mäßig“. Die Rundfunkautorin und Regisseurin Christine Nagel verwendet in ihrem Hörspiel über Blatný (Blatnýs Kopf oder: Gott der Linguist lehrt uns atmen, rbb/DLF 2018) eine andere, von uns angebotene – für den Abdruck wegen der Länge nicht geeignete – Variante des Wortspiels: „Frühstück Abstück gab Abgabefrühabends ab“. Und das letzte Beispiel: Im langen Gedicht „Hradečný ke mně blíže“ kommt – neben ausgelassenen und nicht enden wollenden Reimorgien – Blatnýs gewaltsemantische Seziertechnik auch kurz zum Einsatz; und zwar im Vers „vzdech soupir Seufzer v zdech“ („vzdech“ = Seufzer, „v zdech“ = in den Mauern“). Unser wenig wortgetreuer Transformationsversuch, der uns wenigstens in der spielerischen Art adäquat zu sein scheint: „Mauer soupir Mauerseufzer ungeheuer“.
Alle englischen Verse haben wir grundsätzlich so belassen, wie sie in der Triáda-Ausgabe abgedruckt sind. Einige Stellen, an denen Blatnýs Englisch durch gewisse Eigenarten auffällt, wurden in den Anmerkungen kommentiert, um möglichen Irritationen vorzubeugen. Natürlich werden dort auch alle eventuellen kleinen Eingriffe angeführt. Alle anderen, von den tschechischen Herausgebern bereits früher gemachten und dokumentierten Eingriffe in Blatnýs Englisch tauchen in unseren Anmerkungen nicht mehr auf.
Einige Beispiele für die schwierige Gratwanderung: Blatný schreibt „geysir“ statt korrekt „geyser“ – wahrscheinlich aber nur wegen der tschechischen Schreibweise „gejzír“. Politessen heißen in England eigentlich „traffic wardens“ und nicht „traffic-wordens“ – Blatný mag aber generell Bindestriche und schreibt die Politessen im gleichen Gedicht weiter unten plötzlich korrekt „traffic wardens“: wir haben hier die doppelte Schreibweise gelassen. Mit „I had for house-maid Milena“ meint Blatný wahrscheinlich nicht, dass er eine Geliebte namens Milena hatte, sondern „I haed for…“ (ich gehe zu, peile an); auch hier haben wir in Blatnýs Schreibweise nicht eingegriffen. „The herd“ wird von Blatný wiederholt „the hird“ geschrieben; eventuell analog zu „the bird“(?) – soll es möglicherweise ein kleiner Scherz sein? Da sich Blatný in diesem Fall zweimal „verschreibt“ und wir nicht ausschließen konnten, dass dies mit Absicht geschah, wurde Blatnýs „the hird“ nicht angetastet. Mit „How many films has a person got“ ist wahrscheinlich „How many films does a person have“ gemeint (hier haben wir auch nicht eingegriffen). Im Gedicht „Já vskutku píši za libru“ („Ich schreibe tatsächlich für Geld“) kommt eine stehende, von Blatný offenbar aber falsch wiedergegebene Wendung „for the rabieses and the gold“ vor. Wir haben die sich auf die Sprüche Salomons beziehende Wendung lieber in korrektem Englisch wiedergegeben, „for rubies and gold“, weil „rabies“ (Tollwut) keine Mehrzahl hat. Und der Bezug zum Titel des Gedichts (sich für Geld, Rubinen oder Gold zu verkaufen) viel stärker ist als die nur entfernt mögliche Verbindung zwischen „Tollwut“ und den (ideologisch „tollwütig“ gewordenen) Angreifern von Blatný, die ihm 1948 vorwarfen, sich dem kapitalistischen Westen gegen Geld anzudienen.
Jan Faktor und Annette Simon, Nachwort, Februar 2018
wenige Wochen nach der kommunistischen Machtübernahme, nutzte Ivan Blatný, der gefeierte Jungstar der tschechischen Literatur, einen Stipendienaufenthalt in England, um sich ins Exil abzusetzen. Nach einem Nervenzusammenbruch verbrachte er aus Angst vor Verfolgung die meiste Zeit in psychiatrischen Heilanstalten in Südengland. Hier entstanden nach Jahrzehnten der literarischen Abstinenz zwei einzigartige Gedichtbände, die die gewaltige Potenz dieses Dichters erst wirklich zeigten: Alte Wohnsitze und Hilfsschule Bixley.
In Hilfsschule Bixley trifft der Krankenhausalltag auf Erinnerungen an die Jahre in Brünn, Fernsehnews und Königshausklatsch schließen sich mit Blatnýs reichem kulturhistorischen Wissen kurz. Über Anspielungen und Zitate bleibt der Autor mit sich und seinen Dichterfreunden im Gespräch.
Überraschend zwanglos, mit ungebändigter Sprachlust, wechselt Blatný mitten im Satz von Tschechisch zu Englisch, Französisch oder Deutsch, zuweilen gar mit Reimen über die Sprachgrenzen hinweg. Seine surrealistischen Collagen schaffen ein eindrückliches Porträt der brüchigen Existenz eines durch Exil und Sanatorium doppelt isolierten Autors.
Ivan Blatný (1919–1990), geboren in Brünn, gilt heute als einer der größten tschechischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Er veröffentlichte zwischen 1940 und 1947 mehrere Gedichtbände und lebte ab 1948 bis zu seinem Tode in Südengland im Exil. Die deutsche Ausgabe der im Tschechischen mehrfach edierten Pomocná škola Bixley bietet eine stringente Auswahl aus der bisher umfassendsten Ausgabe im Verlag Triáda, Prag 2011.
Edition Korrespondenzen, Ankündigung
– Der tschechische Surrealist Ivan Blatný erlebt eine erstaunliche Renaissance. –
Neulich erstand der russische Schriftsteller und Journalist Arkadi Babtschenko von den Toten auf. Man habe seine Ermordung in Kiew vortäuschen müssen, meldeten die ukrainischen Behörden, um ihn vor seinen zukünftigen Mördern aus Russland zu schützen. Einer der vielen problematischen Aspekte an dieser Finte: Das Spiel mit der behördlich fingierten Todesnachricht – unter umgekehrten Vorzeichen – hatte in der Sowjetunion durchaus Tradition. Man denke nur an die Geschichten aus dem Gulag und den Kerkern des NKWD, die für Angehörige erfunden wurden. Ein prominentes Beispiel sind die Lügengeschichten um den Verbleib und die Ermordung Isaak Babels, mit denen seine Familie getäuscht wurde.
Der Fall des Tschechen Ivan Blatný, dessen letzter Gedichtband gerade von Annette Simon und Jan Faktor mit der dafür nötigen und beeindruckenden Freigeistigkeit ins Deutsche übersetzt wurde, bietet eine besondere Variante dieses repressiven Spiels: In den 1940er Jahren gehörte der 1919 in Brünn geborene Dichter zu den vielversprechenden jungen Talenten der Szene, die den Avantgarden der Moderne verpflichtet war. 1947 erschien sein dritter Gedichtband mit dem Titel Die Suche nach der gegenwärtigen Zeit. Blatný spürte damals zumindest, was die Stunde geschlagen hatte. Als er mit einer Delegation tschechischer Autoren ein Jahr später nach London reiste, setzte er sich ab. Die Reaktion zuhause: Er wurde für tot erklärt. Blatný wiederum verstand das wohl als Drohung und ging ins ja bis heute eher unsichere britische Exil. Noch im selben Jahr ließ er sich in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Er kehrte der Welt den Rücken. Und sie vergaß ihn. Ivan Blatný war damals 29 Jahre alt.
Vermutlich erst in den Siebzigerjahren fing Blatný wieder mit dem Schreiben an, wurde aber, wie Francis Nenik es in seinem teilweise dem vergessenen Dichter gewidmeten Buch Doppelte Biographieführung (Spector Books 2016) mutmaßt, von seinen Wärtern für einen gehalten, der sich für einen Dichter hält. Wundersam die Geschichte seiner Entdeckung durch eine den Tschechen verbundene Frau aus dem Ort mit dem brechtschen Namen Frances Meacham. 1979 stöberte ihn dann der Schriftsteller Jiří Kolář auf, mit dem Blatný in der Gruppe 42 gewesen war, und ermutigte ihn, ein dichterisches Tagebuch zu beginnen. Und 1981 besuchte ihn schließlich der Autor Jürgen Serke, der damals für den Stern arbeitete, und widmete ihm den zwölften Teil seiner Serie über verbannte Dichter. Damit war Ivan Blatný wieder da, auferstanden von den Toten.
Sein Gedichtband Alte Wohnsitze kursierte im Samisdat, ein Jahr später ebenfalls im tschechischen Untergrund das poetische Tagebuch unter dem Titel Hilfsschule Bixley, benannt nach Blatnýs dritter psychiatrischer Station in der Nähe von Ipswich, vom Dichter aber auch mit einer Anspielung auf die tschechischen Hilfstrupps versehen, die während des Krieges von den Deutschen wegen Desertionsgefahr nur im Inneren eingesetzt wurden. 1987 und 2011 erschienen erweiterte Fassungen der Hilfsschule Bixley erst in Kanada, dann in Prag. Da war die Sowjetunion schon Geschichte und Ivan Blatný 21 Jahre tot.
Aus der posthumen Fassung haben Annette Simon und Jan Faktor nun Texte ausgewählt und neu übersetzt. Aus ihrem Nachwort und dem, das die Übersetzerin Christa Rothmeier für die 2005 erschienene zweisprachige Ausgabe von „Alte Wohnsitze geschrieben hat, erfährt man die wesentlichen Informationen über den Dichter mit den Narrenschuhen“, wie Francis Nenik ihn nennt.
Ivan Blatnýs Schicksal ist eine dieser irren Geschichten des 20. Jahrhunderts, die im 21. Jahrhundert allein deswegen nicht möglich wären, weil England dem staatenlosen Dichter heute wohl keine Sozialhilfe und keine gesundheitliche Betreuung mehr gewähren würde. Was für Gedichte schreibt einer, der 38 Jahre in Psychiatrien verbrachte, Diagnose: paranoide (aber wohl auch ganz realistisch begründete) Schizophrenie? „niemand wird was kapieren / niemand bekommt etwas mit“, heißt es in einem auf den 21. Juni 1980 datierten Gedicht mit dem Titel „Hoffnung“. Wie ebendieser „niemand“ steht man erst einmal vor diesen merkwürdigen Texten, die zwischen Tschechisch, Englisch, manchmal deutschen oder anderssprachigen Einsprengseln hin und her switchen und auch sonst so assoziativ verfahren, dass man in der Prosa vom „Gedankenstrom“ eines ziemlich sprunghaften Bewusstseins sprechen würde.
Ivan Blatný soll in einem Interview von der „Musik der Bedeutungen“ gesprochen haben, die für ihn sichtlich wichtiger war als das, was man klassischerweise in der Lyrik unter Klang und Bedeutung gewohnt ist zu analysieren. Beispiel: „Leopardi sah den Rauch von Ithaka“, beginnt das erste Gedicht ganz vernünftig, kommt dann aber auf eine Salbe gegen Furunkel, springt in den amerikanischen Westen und ins Englische, vergleicht das „cattle“ mit Statuen und bringt uns mit dem Vieh so also wieder nach Europa, spricht Zahnprobleme an, wünscht sich Frauen zum Abspritzen und wird zum Schluss darwinistisch:
of course the mosquito drinks blood
Ist Blatný, der sich darüber freut, „was für ein Vergnügen es ist / unverständlich zu sein“, also ein Moskito und rächt sich mit gemeiner als Surrealismus getarnter Nonsense-Lyrik an uns für sein Los?
Die Aggression ist durchaus vorhanden. Sie liegt in der Form, der Mehrsprachigkeit, der Konsequenz, mit der Blatný das surrealistische „Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle“ durchzieht, dabei das Maß in aller Höflichkeit überspannend – „wenn erlaubt, zeige ich der Welt mein Ejakulat“ – und auch gegen moralische Konventionen verstoßend, wünscht er sich doch entwaffnend direkt eine Muschi („nicht lecken, nur schauen!“) und schreibt unter dem Titel „Gerechtigkeit“ dies:
Warum sollten Sacco und Vanzetti nicht hingerichtet werden
sie waren Terroristen
auch ich möchte auf dem elektrischen Stuhle enden
Entstehen aus diesem „Humus unklaren Bewusstseins“ tatsächlich Kraftfelder? Ja, doch, es treiben seltsame, kostbare Blüten aus diesem Grund:
Der Glanz des Glitzerns wird der Waage anvertraut
der Strahl wirft Bilder durch Ritzen
ich hab mich schon mal getraut
Staub zu besitzen.
Und der Blick dieses „notorischen Vergeigers“ auf die „terrible world“ und ihren Nationalismus, aber auch auf den Zustand der „terre I. Bl.“ ist eigentlich immer wieder ziemlich klar. Wer mehrfach in Variationen Gedichte euphorisch beginnt mit „I am absolutely happy“, um dann auf dem düstersten Ton „noch nie war ich so übel dran“ oder „noch nie hatte ich so viel Angst“ oder „schade am Leben zu sein, lästig und beklemmend für jedermann“ zu enden, der ist in der Lage, eine Gesellschaft unter Strom zu setzen, die dem Fetisch nachvollziehbarer Verständlichkeit folgt. Ivan Blatný schreibt, als würde er sich die weite Gegenwart in seinen engen Raum holen, immer noch auf der „Suche nach der gegenwärtigen Zeit“, als wäre er derjenige, um den die Welt kreist, der auf der Brücke kommandiert. Damit wird für alle anderen notwendig, was für ihn ein Überlebensmittel ist.
„Werdet ihr mich sehen wenn ich nicht mehr schreibe?“, fragt Ivan Blatný scheu oder nüchtern und verabschiedet sich aus diesem Band so:
bloß keine Tränensalven, für wen denn.
Für einen, der 280.000 Verse hinterließ, die nun im Nachlass auf Extremleser warten. Für einen, der auf die „Zeit der Venus mit Milch- oder Mandelhaut“ wartete. Für einen, der zu zart war, um den Verletzungen anders als im Stillen schreibend entgegenzutreten.
– Wiederentdeckung eines tschechischen Dichters im englischen Exil. –
Lange galt der Autor als verschollen, wurde in seinem Muttersprachland totgeschwiegen und war deshalb den meisten Lesern Jahrzehnte unbekannt. Die Rede ist von Ivan Blatný 1919 in Brünn geboren, 1990 in England verstorben. Schon mit siebzehn galt er als große Begabung, gehörte bald einer surrealistischen Gruppierung an, wurde vom großen tschechischen Dichter Vitezslav Nezval gefördert und publizierte bis 1947 neben Kinderbüchern vier Gedichtbände. Weil er in seinem Land nicht mehr frei leben könne, wie er verlauten ließ, emigrierte er 1948 nach England. Dort verbringt Blatný als freiwilliger Patient achtunddreißig Jahre in diversen Anstalten und Kliniken, während der Dichter Blatný allmählich ins Schweigen und Vergessenwerden sinkt.
Nach einer Pause von zwanzig Jahren schreibt er weiter, geradezu besessen, beinahe täglich, auch auf Klopapier. Anfangs wird die „Kritzelei“ entsorgt, bis eine mit der Tschechoslowakei verbundene Engländerin auf Blatný aufmerksam wird, alles Geschriebene sammelt, die Zettel einem tschechischen Exilverlag im kanadischen Toronto schickt, wo 1979 der Band Alte Wohnsitze erscheint. Obwohl 1981 eine Stern-Reportage in der Serie Die verbannten Dichter Blatný zu einer Art „Comeback“ verhilft, folgt erst 1987 die Sammlung Hilfsschule Bixley, die nun erstmals in einer vorzüglichen deutschen Ausgabe erscheint.
Aus einem in Prag erschienenen Konvolut von sage und schreibe 427 Gedichten wählten die Herausgeber, Übersetzer und Nachdichter Annette Simon und Jan Faktor 162 Gedichte aus. Gemäß Blatnýs Devise: „Alles, was mir einfällt, hat Sinn, aufgeschrieben zu werden, alles ist wichtig, alles ist erlaubt“, sind die Texte voller Experimentierlust, anspielungsreich und, was die Sache keineswegs einfacher macht, gespickt mit Passagen in englischer und französischer Sprache, wobei diese beim Nachdichten nicht angerührt wurden, so dass sich der Leser mit einem linguistischen Gemenge konfrontiert sieht. Nachwort und umfangreiche Anmerkungen von Simon/Faktor erhellen nicht nur die Genesis dieses Buches, sondern auch kunstvolle Details des Nachdichtens.
Wer sich in den Blatný-Kosmos einliest, wird etlicher Sternschnuppen gewahr, und wer Faktors lyrische Texte kennt, ahnt, was ihm der tschechische Surrealismus bedeutet. Einmal überwiegt die poetische Stimme, und es „wälzt die Sonne einen goldenen Kürbis bis an die weite Kante“ oder „der Abend düstert taumelig herein“. Dann wieder knallen Stabreime mit „Frühfraß frisst Steuermaß nur mäßig“ oder es wird verspielt gereimt:
Wacht süß auf ich will nicht streiten
sag ich zu meinen Schwierigkeiten
Auch fehlt es nicht an politischen und poetologischen Auskünften: „inzwischen weiß ich was für ein Vergnügen es ist unverständlich zu sein“ und „Es ist unerträglich ein kleiner Dichter zu bleiben“. Schließlich dürfen diese vier Verse nicht fehlen:
Never mind, sun ist out und die Bienenstöcke fahren zum Haff
der Dichter ist überglücklich, studiert die Welt und pafft
Er hat Lust auf was anderes, will es aber nicht sagen
ihm reicht ein Blatt Papier und ein Tabakladen
Dieses Jahr wurde Jan Faktor für seine eigenen Texte in Hamburg mit dem Italo-Svevo-Preis geehrt. Unbedingt preiswürdig sind auch seine und Annette Simons gemeinsamen Nachdichtungen.
Michael Wüstefeld, SAX, Heft 8, 2018
– Zweisprachig, mehrsprachig, mischsprachig: Der tschechische Surrealist Ivan Blatný verteidigte mit seinen Gedichtcollagen den Geist Europas noch in der englischen Psychiatrie. Eine Wiederentdeckung. –
Als der Autor Ivan Blatný Ende 1919 in Brno/Brünn, zur Welt kam, war die Tschechische Republik gerade ein Jahr alt. Die Stadt war zweisprachig. Ein Teil der Bewohner sprach Deutsch, ein anderer Tschechisch. Es gab auch eine Mischsprache, Tschechisch mit deutschen Lehnworten, Hantec genannt. Die Sonne hieß „zoncna“, die Socke „fusakle“ und das Herz hieß „hercna“.
Ivan Blatný wuchs im Tschechischen auf und studierte Tschechisch, Deutsch und Esperanto an der Universität. André Breton, der 1935 nach Brno reiste, war begeistert von den Surrealisten, die der Dichterfreund Vítězslav Nevzal ihm vorstellte, darunter die Malerin Toyen und den Dichter Blatný, der damals gerade mal 16 Jahre alt war. Als 1940 sein erster Gedichtband in einem großen Prager Verlagshaus erschien, war seine Heimat bereits seit einem Jahr unter nazi-deutscher Besatzung: „Protektorat Böhmen und Mähren“ wie das hieß. Blatný, Mitglied der Gruppe 42, einer verschworenen avantgardistischen Kunstgemeinschaft, trat 1945 wie so viele Kollegen hoffnungsfroh der Kommunistische Partei bei und seine Gedichte schrieben fortan Gegenwart. Doch im März 1948, mit einer offiziellen Delegation nach London entsandt, setzte er sich ab und kehrte nicht nach Prag zurück. Er hatte genug gesehen von den Einschwörungen auf den „richtigen“ Sozialismus. Die Angst vor dem langen Arm des tschechischen Geheimdienstes verließ ihn nie.
Die zahlreichen Geschichten, die darüber kursieren, was der Dichter nach seiner Ankunft in London tat und wie es ihm ergangen ist, tun hier ebenso wenig zur Sache wie die Aktionen des tschechischen Geheimdienstes gegen ihn. Blatný – 1954, von der Polizei als „Exhibitionist“ aufgegriffen – lebte fortan bis zu seinem Tod 1990 in psychiatrischen Kliniken (mehr hier), wo ab den 1970er Jahren eine Krankenschwester namens Frances Meacham für seine Wiederentdeckung sorgte. Meacham sammelte seine Kritzeleien, teils mit Bleistift und auf Toilettenpapier verfasst, organisierte ihm Stifte, Papier und einen Schreibtisch in der Anstalt und sandte die Texte an Tschechen im Ausland. Ob er erfahren hat, dass im Frühling des Jahres 1968 in Brno sein Gedichtband von 1941 wiedergedruckt wurde? Hilfsschule Bixley erschien erstmals unter eigener Mitwirkung im Prager Samizdat, kurze Zeit später in einer anderen Auswahl auch in einem kanadischen Tamisdat-Verlag.
Blatnýs Werk ist tief geprägt von den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1940 und seiner Flucht 1947 konnten mehrere Gedichtbände erscheinen, da wohl (der fremden Sprache wegen?) die Zensur der Nazis sie nicht als politisch einstufte. Mochten die tschechischen Kommunisten ihn nach seiner Flucht für tot erklären, ihn „entartet“ nennen, weil seine Art des realen Surrealismus sich dem Realsozialismus widersetzte: Da lebt einer 35 Jahre in den Irrenanstalten dieser Welt mit neun anderen in einem Zimmer auf einer Krankenstation namens Bixley und schreibt und schreibt, immer noch im Bann der „Droge Kunst“, die er seit seinen ersten Gedichten genossen hatte. Ohnehin hatten die Künstler des Surrealismus sich Traum und Wahn als jenen Zuständen verbunden gefühlt, die angesichts der Dissoziierung der Welt in der Moderne der Kunst halfen, sich ihrerseits den Dissoziierungen auszusetzen.
In den Gedichten der Hilfsschule Bixley schließt sich der Kreis zwischen Erinnerung und aktuellem Erleben, knüpfen sich abrupt abgerissene Zeitfäden neu: Orte der mährischen Kindheit werden besungen, manch vergessener Dichter- und Malerfreund kommt wieder ans Licht, darunter Lhotek, Kolar und die „alte Blaskova“ – und plötzlich fragt man sich, was aus der Kindheitsfreundin namens Milča geworden ist, die wohl während seiner Studienzeit splitterfasernackt am Ofen in seinem Prager Zimmer stand und der er seine Gedichte auf Deutsch rezitierte, weil Milča „Deutsche war“.
Das erstaunliche an Blatnýs Gedichten aus der Psychiatrie, die jetzt in einer sehr freien und überzeugenden neuen Übertragung von Jan Faktor und Annette Simon erschienen sind, ist die Vielsprachigkeit, aus der Idee der Collage geboren. „Ich möchte Collagen machen“, sagt er einmal. „Ich möchte Anleihen machen. Die Zeit der Zitate ist zurück.“ Manche Gedichte springen zwischen den Sprachen, manche sind ganz einsprachig, ganz tschechisch oder auch ganz englisch. Bei anderen mischen sich französische und deutsche Worte hinein. Mitunter wechseln die Sprachen gar innerhalb der Zeilen.
Der Weg ist mit Sternen übersät
La route est semée d’étoiles
und eine Symbolgestalt geht durch dunkle Haine
Wer hätte gedacht dass eine Hummel stechen könnte
die kleine Filzkugel
Die Hummel ist ein Hochzeitssymbol im Gedicht in der fremden Wohnung
oberhalb der Stadt hummelt ein Flugzeug
The guest star is Bing Crosby
the guest star is Bob Hope
The bumble-bee may be also called humble-bee
they humbly suck the nectar
without being able to build a hive.
Im Anhang haben die Übersetzer uns Entschlüsselungshinweise gegeben, mit denen Blatnýs Innenwelt sich uns entfalten kann: „La route est semée d’étoiles“ ist ein Filmtitel, der im Original „Going my way“ hieß, während die „Symbolgestalt im dunklen Haine“ (2. Zeile) auf einen Vers von Baudelaire anspielt und das „Gedicht in fremder Wohnung“ ein früheres eigenes Gedicht mit einer Hummel in den Kontext hineinruft. Lauter Hinweise auf den eigenen Weg – „going my way“ eben.
Sein Programm hier in Bixley:
Bald machen wir uns auf den Weg und zeigen diese Gedichte dem jungen Blatný
Werden seine Erinnerungen und vor allem: werden die Verse dem Auge des jungen Dichters, der er einst war, standhalten können? Etwa die Erinnerung an den Landstreicher, der nicht in die Besserungsanstalt wollte?
Landstreicher schläft auf der Wiese
Ein Taugenichts treibt sich in der Stadt herum
always under pressure of the moral institutes
But he won’t go to a borstal
am Stadtrand warten die Wiesen, die grünen meadows
Mea doves dove like like a dream
eine überflüssige Frage,
erinnern kann ich sowieso nichts mehr.
Man sieht, die Übersetzer haben das, was im Original auf Tschechisch geschrieben ist, ins Deutsche übertragen. Die deutschen, englischen oder französischen Teile haben sie als solche stehen gelassen. Und nicht nur das: An manchen Stellen (wie hier) spielen sie frei mit Blatnýs Methode. Im Original hat der Autor das deutsche Wort „Wiesen“ verwandt und kurz darauf wie bei einem Kettenspiel im tschechischen Text „wie sen“ geschrieben – was in etwa „wie im Traum“ bedeuten könnte. Der Landstreicher, der von der Anstalt nichts wissen will, träumt von den Wiesen der Freiheit. Die Übersetzer haben, ganz im Sinne des Erfinders, ihrerseits ein Kettenspiel mit dem Wort „meadow“ erfunden, wo aus der Wiese heraus eine Taube zum Vorschein kommt, die in die Lüfte entschwindet und Kassiber transportiert.
Ich schreibe nur in einer Sprache
trotzdem mag ich fremdsprachige Einschübe
bras dessus, bras dessous,
there is a remote chance that I will win the prix nobel
oder
I have the liver dinner in my tummy
my sex is manifest
im Nachbarzimmer gekrochen aus der Mammi
gare de l’est.
Der Dichter holt Vergangenes zurück und collagiert es mit der Gegenwart in der Anstalt: „Es ist früh und ich warte nur noch auf die Nachtpille“, heißt es einmal und ein andermal:
Gott gib kurze Tage dass ich nicht leide
dann die Versuchung mir längere zu wünschen
jeden Morgen erwarten mich Schaumrasur und Nasswusch
Frühfrass frisst Steuermaß nur mäßig
Oder auch:
Die Onaniefreuden locken mich heute nicht
das Geschäft lief damals woanders
oder
Eros-Laden. Muschis zählen:
Wir werden Adolf Hitler wählen.
Mallarmé, Sokrates und ein Mithäftling namens Fred spuken durch die Verse – und die Rebellion dagegen, für tot erklärt zu werden:
Ich bin nicht tot, bin kein Geist
bin Abenteurer auf Nebengleis
Warum lesen wir das heute? Blatnýs Kosmos mag vergangen sein, Hitler, Stalin, Masaryk, Göbbels oder Kroupa sind Geschichte. Doch die Gedichte verströmen Zukunft. Wie da einer den Geist Europas verteidigt und zusammenhält und wie da einer sich und seine „Droge Kunst“ durch die Zeiten erweitert und erneuert hat, statt sich im Irrenhaus auf seine große vergangene Zeit zu versteifen, das ist beides: eine zutiefst menschliche und zutiefst poetische Position, die uns Heutige angeht.
In Brno (Brünn), der Hauptstadt Mährens, am Obilnítrh 4 (Getreidemarkt), wohnte der Dichter Ivan Blatný, gebürtiger Brünner, 29 Jahre, von seinem Geburtsjahr 1919 bis 1948. Großbürgerliches Haus, frisch saniert, eine Bronzeplatte zu Blatnýs Gedenken hängt überm Tor zwischen den Fenstern, rote Geranien drum herum. Blatnýs Eltern müssen Geld gehabt haben (einen Teil davon rettete er 1948 ins Exil nach England), es ist eine der schönsten Gegenden der Stadt, gerade alles frisch saniert, die Bauzäune versperren noch den Weg zwischen Straße und kleinem Park, die Kindergartenkinder schaukeln und drehen sich auf dem knallgelben Karussell, schleudern ihre hellen fröhlichen Rufe in alle Richtungen. Und über allem schwebt, auch, der Geist von Blatný, der mit Kindern, glaube ich, überhaupt nichts anfangen konnte, aber dass er den Kopf schütteln würde oder einfach durch alles hindurchschauen, das schließe ich nur aus seinen Gedichten, die ich hier im kleinen Park sitzend lese, auf Deutsch, das heißt auch auf Englisch und Französisch, aber eben nicht Tschechisch, denn seine Hilfsschule Bixley schrieb Blatný zwar in einem Mix aus Englisch, Tschechisch, Französisch, Deutsch, dabei mitunter in einem Vers die Sprachen wechselnd und über ihre Grenzen hinweg reimend, aber das Tschechische wurde für eine Auswahl jetzt ins Deutsche übersetzt, durch den Dichter Jan Faktor, gebürtigen Prager, und seine Frau Annette Simon, Psychologin aus weltberühmtem Schriftstellerhaus (Edition Korrespondenzen, 238 Seiten, 22 Euro). Durch und durch brünnerisch, diese Art des Umgangs mit Sprachen, noch vor hundert Jahren war Brünn eine mehrheitlich deutsche Stadt, auch Blatnýs Großmutter sprach Deutsch. Im englischen Exil, wo Blatný 38 Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod 1990 in Psychiatrien lebte, schrieb er auf Zettel und Klopapier, in allen Sprachen, die er konnte, bis er wiederentdeckt wurde, endlich eine Schreibmaschine bekam und auch einen tschechischen Exilverleger in Kanada. Blatný ist Surrealist der sehr undeutsch humorvollen tschechischen Schule, die hierzulande wenig bekannt ist und doch so wert, entdeckt zu werden.
beha, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2018
Ivan Blatný
FEIER
Poetry is a panacea for all illnesses
die Marx Brothers und ihr Eidotterfight
Der Dichter spricht in verschiedenen Sprachen
unten im See nachts bei den Wassergeistern
Der freie Weg wurde versperrt
quite blocked by gaiety girls.
Vielleicht ist noch nicht genug über die Barmherzigkeit Englands gegenüber den Dichtern gesagt worden, denn in der Person von dem Tschechen Ivan Blatný (1919–1990) findet sich erneut eine Stimme, die, wie etwa Francis Thompson (1859–1907) oder Ernest Christopher Dowson (1867–1900) zuvor, aufgrund der Anteilnahme des Königreichs an labilen Poeten die Aufmerksamkeit der Welt gewinnen konnte. Der in Brünn/Brno geborene Ivan Blatný befindet sich, als die kommunistische Partei 1948 die Herrschaft in der Tschechoslowakei übernimmt, in London. In seinem Heimatland zählt der Tscheche zu den führenden Stimmen einer aufstrebenden, stark vom französischen Surrealismus beeinflussten Generation. Doch Blatný setzt sich ab und bleibt auf dem buchtenreichen Eiland. Seine Gedichte werden zweisprachig, wie in den letzten beiden Zeilen des Gedichts, scheint die im Émigré-Englisch verfasste Zeile mit „gaitey girls“ eine Antwort auf die ursprünglich auf Tschechisch verfasste Zeile davor. Seine Übersetzer Jan Faktor und Annette Simon berichten in einem umfangreichen Nachwort über die amüsante Tragödie seines dortigen Lebens:
Das britische Gesundheitswesen wurde zu dieser Zeit verstaatlicht und die… im europäischen Vergleich äußerst fortschrittliche englische Psychiatrie ermöglichte es Menschen wie Blatný, auch in einer Anstalt für Nervenkranke ein einigermaßen würdiges Leben zu führen. Bei Blatný wurden es insgesamt achtunddreißig Jahre, die er freiwillig als Patient und Sozialhilfeempfänger verbrachte
Es gelingt ihm, einige Ressourcen der wohlhabenden Familie vor der Verstaatlichung zu schützen und doch verbringt der nervenkranke Blatný die zweite Hälfte seines Lebens in klinikartigen Umständen nahe Ipswich, wo sich um 1977 die Krankenschwester Frances Meacham seiner annimmt und beginnt alles, was sie im Umkreis seines Schaffens zusammenklauben kann, zu sammeln. Eben dieses Image des Dichters mit „Flucht ins Irrenhaus” (wie Jürgen Serke 1980 seinen Artikel im Stern überschrieb), der durch teilweise absurde Maßnahmen die Nervenärzte von seiner Hilfsbedürftigkeit zu überzeugen wusste, prägte die Wiederentdeckung Blatnýs Werk am Ende des 20. Jahrhunderts. Aber finden wir in Ivan Blatný wirklich einen Art Hölderlin im Tower des britischen National Health Service? Wie einen jener unzähligen Dichter, den fünfzig Jahre davor viktorianische Wohlfahrtsdamen aus den Opiumhöhlen entlang der Themse „ausgelöst“ hatten? Blatnýs Gedichte zeichnen aber ein komplexeres, auch widersprüchlicheres Bild. In solchen Texten zeigt sich, dass die britische Barmherzigkeit auch leicht kippt in Grausamkeit und Schikane, ähnlich wie bei der Figur der Nurse Ratched aus One Flew Over the Cuckoo’s Nest.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Nr. 4/2018
Jan Kuhlbrodt: Automatisches Schreiben
signaturen-magazin.de
Bettina Hartz: Alles ist wichtig, alles ist erlaubt
fixpoetry.com, 15.11.2018
Uljana Wolf: Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley
lyrik-empfehlungen.de, 2019
Jan Faktor und Annette Simon stellen im Tschechischen Zentrum Berlin am 23.1.2018 Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley vor
IVAN BLATNÝ GEWIDMET
Slawen in London, Paris, in Lissabon,
genauer gesagt, die Tschechen,
nur ein Tscheche spricht tschechisch zu Tschechen
Pozor! At’! Bud’si!
Ivan Blatný ist sechzig
aber ich kenne ihn nur aus Brünn
Ein zwanzigjähriges Reh
aus Angst scheu
du Angst du gemeine
lyrisch ein Leben lang
aber jetzt in schwarzes Glas gesperrt undurchlässig
Aber
in London, Paris und in Prag
wird wieder Heiterkeit sein.
Ich sehe, was ich sehe,
den Dekalog zerrissen.
Was ich nicht seh, seh ich,
die tschechische Sprache nie rostend,
die tschechische Sprache filigran
František Listopad
Deutsch von Peter Demetz
Jan Faktor präsentiert vom Kunstbüro Wilhelmsburg.
Francis Nenik: Vom Wunder der doppelten Biografieführung
Annette Kraus: Im Exil verfemt und vergessen
Briefmarke und Ersttagsbrief für Ivan Blatný
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 1/2.
Ivan Blatný – Tschechische Dokumentation von 1990, Teil 2/2.
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