KRANKHEIT DER SEELE, V
Ich delirierte sanft, da von natur aus friedfertig und
aaaaahöflich
eine grüne wiese, sich sacht zu einem rinnsal
aaaaasenkend, bot sich mir mit beharrlichkeit dar
nachweislich versank dort der herbst in den winter
durch das fenster teilte sich der park (Chiswick) in
aaaaazwei dunkle hälften
das bild, welches das fenster sich rahmte, war
aaaaanochmals geteilt in
zwei hälften durch einen weißen stab, der sich zum ende
aaaaaverdickte
diese symmetrie verstörte, was die doppelte fließende flüchtige
englische dunkle masse der bäume beruhigendes hätte haben können
der starb im bild ließ die unschicklichkeit dieses elends mitschwingen
aus dem winterlichen mund entwich der dampf wie raserei
der seele, und der frühling nährte sich so nach und nach mit leeren vasen
in alle Himmelsrichtungen: „Poesie nicht tot + stop + Roubaud folgt“. Seit seinem ersten Band und einer Glanzstunde französischer Dichtung, hat Roubauds ununterbrochene Suche nicht einen Augenblick unseren Enthusiasmus von 25 Jahren enttäuscht. Von Buch zu Buch haben wir ihn niemals am selben Platz, immer aber auf einem der ersten gesehen, schreibt Claude Roy an anderer Stelle.
„die vielfalt der welten lewis“ ist Roubauds neuester Band, der an „Etwas Schwarzes“ anschließt. Ein erstaunliches und ungewöhnlich subtiles Buch, in welchem der Logiker versucht oder vorgibt, der bedrängten Seele zur Hilfe zu kommen. Noch immer im Schmerz um den Verlust des geliebten Wesens sucht der Autor, selbst Professor der Mathematik und ein Freund Gödels und Wittgensteins, Zuflucht in der logischen und von dem amerikanischen Mathematiker David Lewis in On the Plurality of Worlds logisch dargelegten Möglichkeit der Existenz andere Universen in einem Anderswo oder Gegenüber der Mauer des Todes. Nach der Theorie möglicher Welten, 1710 von Leibnitz in seinem Essay der Theodizee begründet und von David Lewis weiterentwickelt, ist unser reales Leben nichts als eine zwingende Konsequenz undemonstrierbarer Vorschläge, und es genügte deshalb, von einer anderen Hypothese auszugehen, um eine andere Welt möglich zu machen.
Weit entfernt jedoch von religiösen Angeboten schlägt Roubaud nicht jene körperlose Wiedervereinigung in einem spirituellen Jenseits vor. Er spielt mit der Vorstellung, das Schicksal könne hintergangen werden, und der Tod, wenn man ihm gegenübertritt, könne für einen Moment überzeugt werden, daß er die Partie verlöre. Roubauds Texte lassen an die formalistischen Arbeiten eines Technikers und Erfinders denken, zeigen den spielerischen und neugierigen Oulipoten, den geistreichen Ingenieur der Wortkünste und der Variation von Regeln und Stilen. Doch das, was Roubaud sucht, seitdem er mit den Werkzeugen des Mathematikers in die Poesie eingedrungen ist und mit den Mitteln des Dichters in die Mathematik, ist immer wieder die paradoxe Präsenz des Abwesenden, die die Toten seßhaft werden läßt und auf die Frage, wo der Sieg des Todes sei, gelangt er zu der Antwort: Nirgends.
Rainer Schedlinski, Druckhaus Galrev, Ankündigungstext, 1995
Jacques Roubaud während The Serpentine Gallery Poetry Marathon auf der Frieze Art Fair 2009.
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